Dritte Vorstellung.

[85] Wir gingen jetzt durch einen dichten Eichenwald; alles war in ihm voll Gesang und Widerhall.

Die Vögel waren recht wie ungezogene Kinder und hatten sich wohl in den vollen Weinbergen zu viel ergötzt. Sie pfiffen und flogen untereinander, hüpften von Zweig zu Zweig und verfolgten sich bald beißend, bald schnäbelnd, kurz, waren ganz poetisch toll.

Da kam mir wie dem Totengräber doch auch recht innig die Lust an, ein Vogel zu sein!

»Gott!« sprach ich, »wie muß es diesen Geschöpfen so leicht sein! Luft, Sonnen- und Blumenduft strömen durch ihren ganzen Körper, ihr Atem fließt durch ihre Federn, ihr Lied trägt ihren Leib.«

Als ich so sprach, sahen wir in der Tiefe des Waldes einen langen, hagern Mann sitzen; derselbe hatte ein Blatt Papier in der Hand und ein Vogelpfeifchen, ans Ohr aber hatte er ein Höhrrohr gelegt.

»Dies ist der Kantor vom benachbarten Dorfe,« sprach der[85] Geistliche; »er beschäftigt sich schon seit dreißig Jahren, die Gesänge aller Vögel genau auf Noten zu setzen, um sie nach dem Umfange ihrer Töne zu klassifizieren.«

»Ich wünsche ihm Glück und Geduld«, sprach ich.

»Hat er die,« versetzte der Geistliche, »so kann er auch eine Klassifikation der Blumen nach den Gerüchen versuchen. Übrigens möcht' ich doch wissen,« sprach er weiter, »welcher Vogel ein recht lyrischer, welcher ein rein epischer, welcher ein rein elegischer Sänger ist; es lautet doch nicht ein jeder Vogelsang wie ein Lied.«


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 85-86.
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