Zweite Vorstellung.

[105] Der Künstler führte uns durch viele kleine Gäßchen seinem tönernen Hause zu. Moses blies mir immer leis in die Ohren: der Kerl sei gewiß ein Seelenverkäufer, er kehre um; – ich aber führte ihn fest am Arme mit mir. Als wir in die Stube eingetreten waren, verschloß der Künstler hinter uns die Türe. »Meine Entdeckung«, sprach er, »ist noch ein Geheimnis, wir könnten bei ihrer Betrachtung von einem Ungeladenen überrascht werden.« Moses zitterte und blieb fest an der Türe stehen.

»Befürchten Sie nichts, Herr Moses,« sprach der Künstler, »er tut Ihnen noch nichts: denn der Schlagschatten, der dem Kerl eigentlich noch das schlagfertige Ansehen geben muß, ist noch nicht vollendet.«

Bei diesen Worten zog er unter der Bettstelle ein derbes Brett hervor, drehte es um, und wir erblickten auf ihm einen gemalten Stadtsoldaten, und zwar in der Positur, die für ihn[105] die nötigste ist und in der er gewöhnlich am längsten ausharrt – in der schlafenden.

»Dieses Brett nun«, sprach der Künstler weiter, »wird der Stadt angehängt, wie exempli gratia – – ich finde kein Beispiel –« – »Wie«, sprach ich, »der Esel dem Schulknaben.« – »Bravissimo!« schrie der Künstler. »Nein! Sie können nicht glauben, welche Vorzüge dies Surrogat besitzt.

Sie wissen, daß ein schlafender Löwe, schon nach dem gemeinen Sprichwort, gefährlicher ist als ein wachender, und so sieht auch ein Stadtsoldat, der schläft, viel grimmiger aus als ein wachender: denn wie leicht kann einem solchen im Traume einfallen, an was er wachend nie gedacht, daß man den Säbel aus der Scheide ziehen kann.

Dieser Stadtsoldat aber nun hat folgende Vorzüge: 1. der Kerl verschluckt nichts, besonders wenn er mit Ölfarbe gemalt ist; 2. der Kerl bedarf nur alle zehn Jahre einmal quasi so ein Kommißbrotsurrogat, einen neuen Anstrich; 3. der Kerl hält gegen Flinte und Degen Stich, ja steht wie eine Mauer, wenn er auf die Stadtmauer gemalt wird. Und 4., das eine Haupttugend ist und unbezahlbar an einem Soldaten wirklicher Zeit, – der Kerl denkt nichts.«

»Aber der Kerl wehrt sich nicht«, versetzte Moses. »Warum?« fragte der Verfasser; »tut denn dies ein anderer ehrlicher, wachender oder schlafender Stadtsoldat?

Machen Sie einmal die Probe, gehen Sie hinaus vor das Tor und stoßen Sie dem alten Schweinehirten, einem unserer ersten Grenadiere, der wirklich da außen die Stadt hütet, mir nichts, dir nichts, geradezu auf den Bauch, und bietet er Ihnen die Stirne, so geschieht es nur, um Ihnen den härtesten, unempfindlichsten Teil seines Körpers preiszugeben; bietet er Ihnen aber den Rücken, so geschieht es gewiß nicht aus Unhöflichkeit, sondern nur um Ihnen nicht seinen Leibschaden zu sichtbar zu machen.«

»Aber das Surrogat spricht nichts, hört nichts«, versetzte Moses. »Gleicher Fall«, sprach der Künstler. »Gehen Sie hinaus und schreien Sie ein-, zwei-, drei-, vier-, fünf- und sechsmal exempli gratia: ›Feuerjoh! Mord und Tod! haltet den Mordbrenner, den Ränder, den Beutel- und Gurgelabschneider, den Falschmünzer, den Juden – – will ich sagen den Zigeuner, den Kesselflicker, den Hechel- und Mausfallenkrämer!‹ und rufen Sie dies deutsch, plattdeutsch, schwäbisch, schweizerisch, französisch, holländisch, böhmisch und italienisch, zuerst mit dem Munde, dann mit Begleitung eines Pfiffs aus einem Schlüssel, dann[106] durch ein gerades, dann durch ein krummes Sprachrohr, zuerst zehn, dann sechs, dann vier und dann nur einen Schritt von dem Produkt und dann Tete-a-tete mit ihm, und der Kerl wird nicht herumschauen, ja wird kein Wort sagen, wenn Sie ihm noch einen Rippenstoß zum Überfluß versetzten! denn er ist – taubstumm.

Sie fordern von einem Surrogat, was selbst das Original nie leistet.«

So sprach der Bürgermeister und Hafner zu Mittelsalz zugunsten seines Stadtsoldatensurrogats, dem ich meinen Beifall nicht versagen konnte.

Ich nahm gerührt Abschied, Moses blieb, um mit dem Bürgermeister einen Akkord abzuschließen, vermöge dessen er ihm eine Kompagnie Mittelsalzer Stadtsoldaten postfrei zu liefern hatte.


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 105-107.
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