Siebentes Kapitel

[76] Helle Spätherbsttage. Gelb lag der Sonnenschein auf den bunten Bäumen. Unten im Obstgarten wurde die Äpfelernte vorgenommen.

Günther war abwesend.

Beate hatte sich ihren Sessel in den Obstgarten stellen lassen, wo die Sonne noch schön wärmte. Sie war guter Hoffnung und schwerfällig geworden. So saß sie gern ruhig da und sann dem Wunderbaren nach, das in ihr vorging. Vor sich sah sie ihre Mutter bei den Mägden sitzen, welche die Äpfel in große Kisten packten, und Seneïde, die ihre langen, schwarzen Arme emporstreckte, um die Körbe in Empfang zu nehmen. Der Wind trug Obstdüfte zu Beate herüber. Wenn sie emporschaute, war der Himmel hellblau und voll segelnder Sommerfäden. Alles, was sie erlebt, schien ihr dann so ferne. Es war ihr, als sei sie[76] noch das kleine Kaltiner Mädchen und wartete friedlich auf das Schöne, das im Leben für sie bereit lag. Doch dann faltete sie plötzlich die Hände und in ihren Augen erwogte ein angstvolles Flackern. Das war die Todesfurcht, die sie jetzt zuweilen erfaßte. Seneïde kam und setzte sich zu ihr.

»Wie geht es, Beating? Du machst solche Augen?«

»Ich dachte – wenn – wenn ich das Kind nicht erlebe – wenn ...«

»Was tut das«, sagte Seneïde heiter. »Eine Mutter, dort oben bei Gott, kann vielleicht mehr für ihr Kind sorgen, als wir hier ...«

Natürlich! Tante Seneïde ließ auf den Tod nichts kommen, das wußte man!

Jenseits des Zaunes begannen die Stoppelfelder schon rot zu werden in der Abendsonne. Die weidenden Gänse zogen schnatternd heim, und von den Wiesen wehte es feucht herüber. »Beating, geh hinein!« rief die Baronin.

Am Abend kam das Zusammensitzen im Wohnzimmer, die Gespräche über die Gravensteiner Äpfel, über Pastors und Ahlmeyers, über die Gänse und die Zeitungen, und alles bekam in diesen Gesprächen einen kleinen, friedlichen Nimbus. Die Meierin kam und berichtete vom Vieh: Kora hatte gerindert, Malo zum ersten Male gekalbt. Um zehn Uhr war die Abendandacht. Die Mandelkoch erschien mit ihrem strengen Pensionsvorsteheringesicht; Lisette, die Kammerjungfer, die Mägde. Sie brachten etwas von der feuchten Herbstluft in den schweren, wollenen Kleidern mit und standen schläfrig da, während Seneïde das Gebet vorlas mit ihrer singenden, erregten Stimme, wie ein schwärmerisches Wiegenlied für die arbeitsmüden Leute.[77]

Als Beckmann die Lampen im linken Flügel anzündete und Beate still und bleich im Gartensaal saß und auf Günthers Rückkunft wartete, schien es ihr, als beginne jetzt wieder eine Arbeit, zu der sie sich ein wenig müde fühlte. Und dann war Günther da. Die helle, laute Stimme tönte durch das Haus. »Das ist hübsch! So 'ne Frau, die einen erwartet, das ist ja 'ne raffinierte Erfindung!« Draußen in Berlin hatte er sich neue Begeisterung für die »Heiligkeit« von Kaltin geholt, meinte er.

Eifrig machte er sich nun an das Familienleben. Er wußte genau, wie er sein wollte. »Hör, Beating«, sagte er beim Frühstück, »meine Leute sollen nicht im alten Flügel bei der Andacht schmarotzen. Ich werde selbst eine Andacht halten. Ja – ich werd' selbst eine schreiben, du sollst sehen.«

Am Vormittage ging er auf die lebhaftesten Arbeitsplätze, dort, wo es nach feuchtem Stroh, nach Teer und Fettstiefeln roch, wo er das Brummen der Maschine überschreien mußte und Augen, Nase und Haar voller Staub bekam. Das gab dann für den Abend eine angenehme Müdigkeit. Er streckte sich im Gartensaal in einem Sessel aus, sehr zufrieden mit sich selbst. »Erzähl', Beating,« sagte er zu seiner Frau, »wenn du erzählst, riecht es gut wie nach weißem Flieder von Pinaut, wie deine Sachen, du erzählst so reinlich.«

Beate mußte früh zur Ruhe gehen. Günther saß noch in seinem Zimmer auf. Er las ein landwirtschaftliches Buch und warf es bald fort. Dann begann er eine Liste landwirtschaftlicher Reformen zu entwerfen. Auch das wollte nicht recht gehen. Endlich begann er die Andacht für seine Leute zu schreiben, allein es fiel ihm nichts Erbauliches ein. An den[78] Fenstern klagte der Wind; im Hause war es still. Wie einsam das war! Es war Günther plötzlich, als fühlte er in dieser Nachtstunde, wie kostbare Augenblicke seines Lebens leer und ereignislos verrannen. Nein! Das war nicht zu ertragen! Er mußte sprechen hören. Er rief Peter, der sollte ihm zuhören, ihn bewundern, ihn unterhalten.


Im Dezember fiel Schnee. Eines Morgens war das Land weiß. Die Gebäude, Zäune, das Ackergerät, alles hatte sich über Nacht mit weißen Puffen und Säumen geschmückt. Die Wohnräume erschienen größer und wie festlich im klaren, kalten Schneelichte. Das Leben im Schlosse war sehr still geworden. Es herrschte die Ruhe eines Krankenzimmers, denn Beate trug schwer an ihrer Schwangerschaft. Günther ging unruhig ab und zu. Seine Frau bleich und entstellt, wie zu einem grausamen Opfer ausersehen, vor sich zu haben, das quälte ihn. Rührung, Aufregung – gut! Das gehört zum Leben, aber dieses Mitleid, das an uns nagt, wie eine Krankheit, wozu das? Warum konnten solche Dinge nicht schön und heiter vor sich gehen.

Eines Abends saß die Familie, recht schweigsam, im Gartensaal beieinander. Günther machte Ringe aus dem Rauch seiner Zigarre und hing seinen unruhigen Gedanken nach. Da erschien Frau Ziepe mit frostroten Bäckchen. Das brachte ein wenig Leben in die schweigsame Stunde. Günther richtete sich angenehm auf. Frau Ziepe hatte einen Brief aus Bordighera von Mareile erhalten, und den wollte sie den Herrschaften mitteilen. Sie machte sich an das Vorlesen:[79]

»Ich lebe hier ganz still«, hieß es, »auf diesem gesegneten Felsen und besinne mich auf mich selbst. Gerade, wenn wir ruhig dasitzen und in uns hineinhorchen, dann erleben wir die seltsamsten Dinge. Nicht wahr? Ich glaube, ich habe eine ganz neue Mareile entdeckt mit neuen Ansprüchen auf Glück und neuer Kraft für Glück. Daß Hans Berkow dazu nötig war, darüber wundere ich mich zuweilen; aber das ist nun mal nicht anders. Wie fern sind die armen Mädchenphantasien! Hier wird die Seele frei und heiß. Es ist mir, als dürfte ich ein lästiges Kleid abwerfen, weil ich verstehe, daß ich schöner bin als das Kleid. Das klingt wohl alles sehr fremd in Dein armes, liebes Wohnzimmer hinein, und Du lächelst über Deine wilde Tochter.« Frau Ziepe hielt inne, lächelte, dann fuhr sie fort: »Wie dankbar bin ich der verehrten Baronin und den lieben Schloßbewohnern für alles, was sie an mir getan. Du weißt, wie ich diese von weißen, reinen Schleiern verhangene Welt geliebt habe. Aber die Welt ohne Schleier ist doch mächtiger. Hier bekennt alles sich zu seiner eigenen Schönheit. Das steckt an. Vor mir liegt das Meer, eine Fläche von blau und violetter Seide, schwer mit Gold beschlagen; aber Seide, die lebt, eine Seele hat, in ihrem Rauschen zu uns spricht. Das regt mich so stark auf, daß ich das Meer wie toll ansinge, es soll nicht allein schön sein. In solchen Zeiten schicke ich Hans fort, ich ertrage ihn kaum, ich muß mit der neuen Mareile allein sein.« – So ging es noch eine Weile fort, und Frau Ziepe las ausdrucksvoll, als trüge sie ein kostbares Stück Literatur vor. Jetzt war der Brief zu Ende. Frau Ziepe schaute glücklich und erwartungsvoll auf. Allein die Damen arbeiteten emsig fort, die Köpfe auf die Stickereien niedergebeugt, und eine Weile sprach niemand. »Na,«[80] bemerkte die Baronin endlich, »sie ist gesund, das ist die Hauptsache.«

»Ja – ja – ich bin auch so dankbar!« murmelte Frau Ziepe. Sie war befangen und enttäuscht. Es war ihr, als stieße sie hier auf etwas Kaltes, Mareile Feindliches. »Ja, nun will ich wieder gehen«, sagte sie kleinlaut und schlich niedergeschlagen über den beschneiten Hof der Inspektorswohnung zu.

Günther schritt im Gartensaale auf und ab. Mareiles Brief erregte ihn; es wehte ihn daraus so wundersam heiß an. Wie in einer Vision sah er Mareile auf dem Felsen von Bordighera stehen und ein leuchtendes Meer ansingen, und zwar eine seltsam veränderte Mareile, wild, frei, triumphierend, die sich stolz und froh ihrer Schönheit und ihrer Sinnlichkeit bewußt wird. Daß er, Günther, das nicht besitzen konnte! Der verdammte Hans Berkow!

»Daß sie so schreiben kann«, sagte Beate. Seneïde zuckte die Achseln.

»Und die gute Ziepe liest uns das alles ganz andächtig vor«, meinte die Baronin.

»Und das mit dem Kleide, wie unangenehm das klingt,« bemerkte Seneïde, »daran ist dieser Herr Berkow schuld.« Die Damen sahen sich an und lachten.

»Mir,« fuhr Günther auf, »mir gefällt der Brief. Mareile ist ein schönes, starkes Geschöpf und sie erfreut sich an sich selbst – und an der Welt – und an ihrer Freiheit.«

»Ich bitte Sie, welche Freiheit?« warf Seneïde ein.

»Nein, lieber Sohn«, sagte die Baronin. »So kann man nicht schreiben, das schickt sich nicht.«

Günther schwieg ärgerlich und setzte seine Wanderung durch das Gemach fort. Noch als alle sich zur[81] Ruhe begeben hatten, schritt er sinnend auf und ab. Es war sehr still um ihn, nur die große englische Uhr des Eßsaales sprach zu der kleinen Bouleuhr des Gartensaales herüber. Das Parkett knackte unter Günthers unruhigen Füßen.

Warum hatte er nichts Starkes, Heißes? Die arme Beate schloß ihre geduldigen Opferaugen gerade vor allem, nach dem er sich jetzt sehnte. Die Luft hier war dünn und kühl. Er wollte Schwüle, wollte etwas, das berauscht. War es denn aus mit dem Erleben? Ungeduldig und feindlich dachte er an die Frauen hier, mit ihrem vornehmen Verhüllen aller schönen Nacktheit, an die Frau, deren Leib nach jeder Umarmung rein und keusch zu bleiben schien. Konnte das ihn satt machen! – – Heute mußte er etwas tun, das ihn daran erinnerte, daß er noch jung war. In das Schlafzimmer mit der schläfrigen Ampel konnte er heute nicht hinein. Er trat an das Fenster und zog den Vorhang zurück. Der Vollmond stand am Himmel. Der Schnee flimmerte bläulich. Wie festlich und weit das aussah! Und da sollte er, Günther, drinnen bleiben, bei den gelben Lampen, und zuhören, wie die gefräßigen Uhren ihm die ungenutzten Lebensaugenblicke forttickten? In solchen Nächten hatte er als Knabe seine ersten Liebesabenteuer unter Peters und Jagdabenteuer unter Mankows Leitung erlebt. Ja! Das war's! Wilddiebsjagd bei Mondschein – wie damals! »Peter – Peter,« rief Günther erregt, »Hasenjagd im Mondschein, wie früher in Lantin. Wir fahren zu Mankow und seiner roten Eva. Spann' den Braunen an.«


Als Günther mit Peter im Schlitten saß und in die Mondnacht, wie in eine blaue Glaswelt, hinausfuhr,[82] da packte ihn die Jugendlust so stark, daß er Peter an den Pelzkragen faßte und rüttelte: »Daß du dich nicht unterstehst, alt und schläfrig zu sein.«

»Ich – schon nich' – Herr Graf«, meinte Peter.

Im Trabe ging es durch das schlafende Dorf. Hunde schlugen an, aber klagend, nicht böse, als hätte das Mondlicht auch sie gefühlvoll gemacht.

Der Schlitten bog jetzt in einen alten Kiefernbestand ein, eine weiße, stille Säulenhalle.

»Sehr gut«, schmunzelte Peter.

»Ach – schweig'!« herrschte ihn Günther an.

»Warum denn, Herr Graf?«

»Weil das nicht dazu da ist, damit du es bewunderst.«

»Aha – ich versteh', das is nur für Grafen.«

»Ja.«

Sie näherten sich dem Waldkruge, indem sie an einer Wand kleiner Tannen hinfuhren, die wie mit großen Händen in kalten, weißen Handschuhen die Gesichter der Fahrenden streiften.

»Der Mankow wird sich wundern«, bemerkte Günther.

»Nee, der wundert sich lange schon nich' mehr«, erwiderte Peter.

»Wenn er nur zu Hause ist!«

»Na, dann is die Eve zu Hause.«

»Du denkst auch nur an die Weiber.«

»Na ja, die gehören doch dazu.«

In der qualmigen Krugstube saß der alte Mankow an einem Tische bei einer trüben Unschlittkerze. Eine Brille auf der Nase, ein rotes Tuch vor Mund und Nase gebunden, drehte er Giftpillen für die Füchse. »Guten Abend, Alter!« rief Günther. Der Alte erhob sich, stand unbeweglich da, den Kopf vorgestreckt,[83] wie ein sicherndes Wild. Er hatte seinen Herrn erkannt und wollte nichts tun und sagen, was ein Fehler sein könnte. »Na, Peter, mach's dem Alten klar, was wir wollen. Du siehst ja, wie sein Gewissen ihn beißt«, befahl Günther. Peter und Mankow gingen hinaus. Günther wärmte sich an dem großen, qualmenden Feuer. So war's gut! Hier wehte wenigstens die angenehme Luft versteckter Abenteuer, wenn man's nicht wie Hans Berkow haben konnte. In der niedrigen Tür der Nebenkammer stand plötzlich Eve Mankow und sah Günther unverwandt an. In ihrem kurzen, roten Rock, das rotblonde Haar wirr über dem heißen Gesicht, die nackten Arme, Schultern, Beine vom Ofenlicht beschienen, war sie eine bunte, leuchtende Gestalt in dem rußgeschwärzten Türrahmen.

»Warum schläfst du nicht?« fragte Günther.

»Ich mag nicht.«

»Na, dann komm.«

Eve kam, vorsichtig, mißtrauisch, wie die Menschen des Waldes es den Tieren nachtun.

»Willst du mit auf die Jagd? Du kannst ja schießen.«

»Ja, Herr.«

»Hast du auf mich gewartet?«

»Ich dachte, Sie werden mal kommen.«

»Wer sagte dir das denn?«

»Die Karten.«

Günther trat an Eve heran, nahm ihren Kopf in beide Hände, bog ihn zurück und küßte den breiten, roten, sehr heißen Mund. »So!« sagte er, »nun gehen wir zu den Hasen.« Eve war blaß geworden. Sie saß einen Augenblick still da, die grellen, rotbraunen Augen wurden klar und groß; sie seufzte so tief, daß die rauhen Spitzen der Brüste fast das Hemd[84] durchstechen wollten. Dann erhob sie sich und ging in ihre Kammer hinüber.

Die Jäger stellten sich am Waldrande auf, während die wenigen Treiber leise pfeifend über die beschneiten Wintersaaten gingen und die dort zur Nachtäsung versammelten Hasen dem Walde zutrieben. Eve stand neben Günther. Vor ihnen die dämmerige Fläche, auf der es wie weißer Nebel lag. Die Flintenhähne knackten; dann Stille. Nur ein dumpfes Geräusch schlug an Günthers Ohr, wie Schritte in weichem Schnee. Das war der erregte Schlag seines eigenen Herzens. Jetzt huschten hier und dort rege Schatten über den Schnee, wunderliche, graue Gespenster mit langen Ohren, im unsicheren Lichte groß und wesenlos. Günther schoß, neben ihm schoß Eve. Nun blitzte es am ganzen Waldrande auf. »Der hat's gekriegt«, sagte eine vor Erregung heisere Stimme. Es war Eve. Auf ihren Flintenlauf gestützt, lachte sie unter der alten Fuchsfellmütze ihres Vaters Günther an, daß ihre Zähne im Mondlichte blitzten.

»Jetzt komm«, sagte Günther, und die anderen hinter sich lassend, gingen sie dem Waldkruge zu.


Günther liebte es jetzt, in der Dämmerstunde in seinem Zimmer zu sitzen, Rotwein zu trinken und sich von Peter von dem Waldkruge vorsprechen zu lassen.

»Ja, ja, die Eve,« meinte Peter, »die is ein klarer Apfel.«

»Unsinn,« sagte Günther, »hör' zu! Ich will dir was von meinen Vorfahren erzählen.«

»Bitte, Herr Graf, von Vorfahren hör' ich sehr gern.«[85]

»Na also!« begann Günther nachdenklich. »Vor einigen hundert Jahren war's. Ein Graf Günther von Tarniff verließ sein deutsches verschneites Schloß und seine schöne, weiße Gräfin und zog in das Gelobte Land. Nach drei Jahren kehrte er heim. Seine blonde Gräfin hatte treu auf ihn gewartet. Im Morgenlande aber hatte er in einem weißen Hause auf einem roten Felsen eine braune, schwarzäugige Gräfin zurückgelassen.«

»Aha! Ich versteh'«, warf Peter ein.

»Gut! Der Graf blieb drei Jahre bei seiner blonden Gräfin, da begann ihn die Sehnsucht nach den braunen Armen der Morgenländerin zu quälen, und er wollte sich auf die Reise machen. Nun gab's schon damals Diener, die mehr sprachen, als sie sollten. So 'n Kerl hatte der Gräfin mitgeteilt, was ihren Gemahl von ihr trieb. Die schöne Frau weinte zwar, aber sie sagte zu ihrem Grafen:

›Ich halte dich nicht. Geh deiner Sehnsucht nach. Gott gab dir ein zwiespältiges Herz; möge dieses Herz dich auch wieder zu mir zurückführen.‹«

»Bravo!« rief Peter.

»Daß an dem Bravo des Peter Ruskowski der Gräfin etwas gelegen gewesen wäre,« fuhr Günther fort, »glaube ich kaum. Also, der Graf pilgerte in das Gelobte Land, wohnte in dem weißen Hause auf dem roten Felsen und trank sich toll und voll an der wilden Liebe seiner braunen Gräfin. Als nun die Zeit gekommen war, da ihn wieder nach Tannen, Schnee und der bleichen, blonden Frau verlangte, da tobte und schrie die braune Gräfin. ›Ich weiß, warum du mich verstößt. Du hast ein Weib jenseits des Meeres, und das gilt dir mehr als ich.‹ Der Graf tröstete sie. Er erzählte ihr von seinem zwiespältigen[86] Herzen, und daß auch ihre Zeit wieder kommen würde. Die Frau wurde ruhig und der Graf schlief an ihrer braunen, heißen Brust ein. Da ergriff sie den Dolch, stieß ihn dem Grafen in das Herz und schrie: ›Ich will mir meine Herzenshälfte nehmen!‹«

Peter nickte nachdenklich: »Ja, Vorfahren, die haben immer solche Geschichten.«

»Maul halten!« schloß Günther die Unterhaltung.


Von nun an wartete der Braune mit dem Schlitten öfters bei Nacht hinter der verschneiten Spirrahecke. Dann jagte Günther in die Winternacht hinaus. Das erschien ihm wie ein angenehmer Protest gegen die ruhige Ordnung des Lebens um ihn her. Auf halbem Wege zum Kruge mußte Eve ihn erwarten. Im kurzen Schafspelz, die Fuchsfellmütze über die Ohren gezogen, trat sie aus dem weißen Dickicht hervor. Das Gesicht, das Haar, die Wimpern voll kalter Tropfen; und sie lachte, daß im Sternschein ihre Zähne blitzten.

Das kleine Hinterzimmer des Waldkruges duftete nach den Tannennadeln, die über den Boden gestreut worden waren. Im Ofen verglomm ein Feuer. Günther setzte sich auf das niedrige Bett und wärmte seine Hände am Feuer. Eve ging ab und zu; tauchte unter in die schwarzen Schatten der Ecken; trat wieder in den Feuerschein, bunt und leuchtend in ihrem roten Rock, ihrem roten Haar, das Fleisch blank und warm.

»Sitz'!« befahl Günther. »Kehr' das Gesicht zum Feuer hin. Laß die Zöpfe über die Schultern hängen. So!«

Eve gehorchte. Sie saß schweigend da, die Hände flach auf die Knie gelegt; die runden Augen, unverwandt[87] auf Günther geheftet, verschleierten sich feucht vor Erregung.

»So.« Günther war zufrieden. Das große halbnackte Mädchen, mit seiner unbekümmerten Sinnlichkeit, atmete eine ruhige, zuversichtliche Kraft, von der etwas auch auf ihn überzugehen schien. Er glaubte den nervösen, unbefriedigten Günther für einige Augenblicke los zu sein.

Durch die halbangelehnte Tür sah er in der Schankstube pelzvermummte Gestalten mit Peitschen in den Händen am Tische sitzen. Sie flüsterten und tranken Schnaps. Auf der Ofenbank schlief der Hausierer Abbe.

»Wie war's, als du mit dem Pankow gingst?« fragte Günther. Eve schwieg. »Sprich!« befahl Günther.

»Der Hund«, sagte Eve heiser.

»Na ja, er sagt doch – daß er dich gehabt hat – nicht?«

Eve stand auf, ging in die dunkle Ecke des Zimmers. Günther hörte sie dort weinen.

So war's jedesmal. Das Starke in diesem wilden Mädchen zog Günther an, aber kaum fühlte er es in seiner Gewalt, dann trieb es ihn, es zu beugen. Er mußte Eve weinen und gehorchen sehen.

»Hierher!« rief Günther. Eve schwieg. »Hierher – hierher«, wiederholte Günther, als riefe er einen Hund. Eve kam langsam näher, das Gesicht warm und rosig vom Weinen. Die Augen richtete sie brennend, wie hungrig, auf Günther. »Totschießen werd' ich den Pankow. Fuchspillen soll er kriegen«, murmelte sie atemlos; dann sank sie schwer auf Günther nieder. Das Feuer verglomm. Durch das kleine Fenster schienen blanke Wintersterne, der Wald rauschte laut.[88]

»Steh' auf – geh –« herrschte Günther dann plötzlich Eve an. Er stieß sie von sich, er wollte nicht mehr bleiben, er hatte es eilig, wieder in dem stillen Schlafgemach zu sein, in dem es nach weißem Flieder duftete und wo die matte Ampel über einer schlafenden, weißen Frau wachte.

Quelle:
Eduard von Keyserling: Gesammelte Erzählungen in vier Bänden, Band 1, Berlin 1922, S. 76-89.
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