Zwölftes Kapitel

[118] Der Mond stand schon hoch am Himmel, als Egloff und Fastrade noch zusammen die Waldwege entlang gingen. Der Wind trieb kleine Wolken am Monde vorüber und über den Mond hin, auch dem Walde ließ der Wind keine Ruhe, er fuhr in die Bäume, bog sie hin und her, und die Krähen, die in den Wipfeln schlafen wollten, schlugen immer wieder laut mit den[118] Flügeln. Dazu waren die Windstöße ganz voll von betäubendem Duft der jungen Birkenblätter.

»Der Wald ist heute betrunken«, sagte Egloff. – »Ach ja,« meinte Fastrade, »alles schwankt, als ob wir auf einem Schiffe spazieren gehen und denken, daß das Padurensche Fräulein mit dem wilden Egloff noch um diese Zeit in einem betrunkenen Walde spazieren geht, was werden die Schlösser sagen!«

»Was die Schlösser sagen, ist unwichtig,« erwiderte Egloff, »das einzig Wichtige bist du.«

»Warum bin ich so wichtig?« fragte Fastrade. Egloff schwieg einen Augenblick, um einen lauten Windstoß ausreden zu lassen, dann begann er sinnend: »Ich ging einmal um die Mittagszeit in Venedig durch die kleinen Straßen; du weißt, gerade um diese Zeit gleichen diese Straßen mehr denn je Korridoren eines Armeleutehauses; die Leute sitzen da herum und essen; es riecht nach Zwiebeln und Fischen, Wirte stehen in den Haustüren und rufen: ›La minestra è pronta!‹ Kleine Jungen hocken in dämmerigen Torwegen und halten goldgelbe Polentaschnitte – nun ja, und da kam ich an einen Platz, ich weiß nicht, wie er heißt, von der einen Seite steht ein einzelner gotischer Turm, ganz mit Schnörkelwerk bedeckt, als hätte er Großmutters Spitzenmantille umgenommen. Ein kleines Wirtshaus ist dort auch, vor das ich mich hinsetzte. Über den ganzen Platz aber waren Leinen gezogen, auf denen Wäsche hing, Bettücher und Hemden, grell weiß in der Mittagssonne, und im Winde flatternd. Venezianische Mädchen kamen ganz schlank in ihren schwarzen Tüchern, schöne, bleiche, verhungerte Gesichter mit großen Augen, und sie hoben die Arme auf und bogen die Köpfe mit dem schweren, dunklen Haar zurück, standen da in all dem Weiß und hingen noch[119] mehr Wäsche auf die Leine. Das gefiel mir. An meinem Tisch saß ein kleiner, alter Mann mit einem spitzen, grauen Bart, offenbar ein Deutscher, vielleicht ein Professor, denn er hatte langes, graues Haar, das haben die Germanisten auch oft. Er sah mich böse an und sagte in einem gereizten Tone, als hätten wir uns die ganze Zeit gestritten: ›Da laufen sie in Venedig herum und gaffen und bewundern lauter Kitsch. Ich komme hierher, denn dieses hier ist wichtig.‹ In dem Augenblicke leuchtete mir das ein.«

»Warum war das so wichtig?« fragte Fastrade.

Egloff lachte: »Ja, das weiß ich nicht, ebenso wenig wie ich es weiß, warum du mir so wichtig bist. Aber sieh, eigentlich ist das ein Zeichen von der Unberührtheit meiner Seele. Dir war schon mit vierzehn Jahren jeder Held eines englischen Romans wichtig, ihr alle zehrt ja von Jugend auf von eurer Seele, ich habe meine Seele gar nicht in Gebrauch genommen, ich habe bisher ohne Seele gelebt und für dich ziehe ich nun diese ungebrauchte, funkelnagelneue Seele heraus, ich schneide sozusagen für dich erst meine Seele an. Das will doch etwas heißen, wenn es auch nicht bequem ist.«

»Ach ja, Lieber, tue das«, sagte Fastrade.

Jetzt gingen sie unter großen, alten Tannen hin, in denen das Mondlicht nur hie und da wie silberne Funken sprühte; auf einer kleinen Lichtung aber hell beschienen stand die Auerhahnhütte. »Die wollte ich dir zeigen,« sagte Egloff, »hier habe ich meine besten Stunden verbracht.« Er öffnete die Tür, der Raum war voller Mondlicht und großer schwankender Schatten der Tannenzweige. Er zog Fastrade auf das Ruhebett nieder, »hier habe ich dich immer am deutlichsten gesehen, wenn du nicht da warst, hier habe ich dich am[120] deutlichsten gefühlt, in jedem Nerv habe ich dich gespürt, es ist, als ob du hier wohntest. Scheint es dir nicht, als ob dir hier alles bekannt sei, daß du hier schon oft gewesen bist?«

»Ja,« sagte Fastrade sinnend, »im Traume, glaube ich, habe ich dieses kleine Zimmer gesehen, ganz gelb von Mondlicht.«

»Du mußt es kennen«, meinte Egloff und drückte sie an sich und begann langsam ihre Augen und ihren Mund zu küssen; er beugte sie zurück, seine Hände faßten sie, daß es ihr weh tat, ein Knopf ihrer Jacke sprang klirrend zu Boden. Fastrade richtete sich auf, erhob sich von ihrem Sitz, machte einige Schritte, dann lehnte sie sich gegen die Tür, breitete die Arme aus und stützte die Handflächen gegen die Bretterwand, als wollte sie jemand den Eintritt verwehren. »O nein«, sagte sie schwer aufatmend. Egloff saß noch auf dem Ruhebette, ganz in den Schatten zurückgebogen. »Nein,« wiederholte er leise und zischend, »natürlich, ihr seid die Reinen, die Unnahbaren, die Heiligen, nur daß ihr die Liebe dadurch zu etwas verdammt Lächerlichem und Verlogenem macht.«

»Nein, nein«, sagte Fastrade wieder, und das Schwingen in ihrer Stimme zeigte, wie stark ihr Herz schlug. »Ich bin nicht unnahbar, ich bin nicht heilig, aber, wenn ich dir helfen soll, wenn ich neben dir stehen soll, dann – dann darfst du mich nicht behandeln wie die anderen.«

Aber aus der dunkeln Ecke klang es leise und böse zurück: »Ich will nicht, daß du mir hilfst, ich will, daß du mich liebst.«

»Ich will dir helfen,« erwiderte Fastrade laut und klar, »gerade das will ich, das ist meine Art zu lieben.«

Beide schwiegen. Egloff schaute zu Fastrade hinüber,[121] wie sie an der Tür lehnte mit ausgebreiteten Armen, hell vom Monde beschienen, das blonde Haar hing ihr ungeordnet in die Stirne, eine flimmernde Haarsträhne fiel über die kindliche Rundung der Wangen, die Augen glitzerten, die Lippen waren ein wenig geöffnet, ja Egloff sah es deutlich, sie lächelten ein seltsam erregtes, triumphierendes Lächeln.

Endlich trat sie von der Tür fort an Egloff heran, legte die Hand auf seine Schulter und sagte freundlich und mitleidig: »Komm, gehen wir, deine Auerhahnhütte gefällt mir nicht mehr. Sitze nicht so da.«

Egloff lachte kurz auf. »Oh, du brauchst mir nicht zu sagen,« meinte er, »wie ich dasitze, das weiß ich wohl, also gehen wir.«

Sie traten wieder hinaus, draußen empfing sie das gewaltsame Wehen und Duften, sie mußten ordentlich gegen den Wind ankämpfen. »Halte mich, halte mich«, rief Fastrade und lachte hell in das große Rauschen hinein.

Es war spät geworden, als Fastrade nach Hause kam. Sie beeilte sich zu ihrem Vater hinüber zu gehen, der sie schon erwarten mußte; aber als sie den dunkeln Saal durchschritt, war es, als versagten ihr plötzlich die Kräfte, eine große Mattigkeit ergriff sie und ihre Knie zitterten. Sie mußte sich auf einen Sessel niederlassen. Vom Zimmer ihres Vaters her hörte sie die Stimme der Tante Arabella, welche St. Simons Memoiren vorlas, auf der anderen Seite sang Couchons zitternde Stimme ihr: »Ah repondit Collette, osez, osez toujours.«

Vor den Fenstern jauchzte der Frühlingswind. Fastrade schlug die Hände vor das Gesicht und weinte, nicht aus Schmerz, es war nur ein unendlich wohltuendes Sichlösen der großen Spannung ihrer Seele.

Quelle:
Eduard von Keyserling: Gesammelte Erzählungen in vier Bänden, Band 4, Berlin 1922, S. 118-122.
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