Fünftes Kapitel

[34] Einige Tage später, als Fastrade von ihrem Spaziergange in der Abenddämmerung heimkam, sagte die Baronesse zu ihr: »Liebes Kind, dein Vater hat nach dir gefragt, du weißt, er will jetzt, daß du bei allen Geschäften, die das Gut betreffen, dabei bist.« – »Ja, ja,« meinte Fastrade, »wenn ich nur etwas davon verstünde. Bisher bin ich bei diesen Geschäften doch nur eine dekorative Figur. Was gibt es denn?«

»Der junge Egloff ist da,« berichtete die Baronesse, »es ist da etwas mit der Waldgrenze nicht in Ordnung, glaube ich.«

Fastrade seufzte: »Ach Gott, an die Waldgrenze habe ich noch nie gedacht. Gut, ich gehe.« Sie strich sich mit den Handflächen über das von den Abendnebeln feuchte Haar, und »wie ich ausschaue!« meinte sie.

Im Zimmer ihres Vater fand sie Dietz von Egloff, sie kannte ihn schon lange, sie waren ja Nachbarskinder und Jugendgespielen gewesen, und auf den ersten Blick schien es ihr, als habe er sich nicht viel verändert. Die Gestalt war noch jugendlich schlank und biegsam, das in der Mitte gescheitelte blonde Haar gab der Stirn, gab dem ganzen schmalen Gesichte den jugendlichen Ausdruck, und die Augen waren noch immer so seltsam dunkel. Als er aufstand und Fastrade die Hand drückte, lächelte der schöne Mund noch das ein wenig schiefgezogene spöttische Lächeln, das sie am Knaben gekannt hatte. Sonst war er sehr förmlich, verbeugte sich tief und sagte im gleichgültigsten Tone der Höflichkeit: »Es freut mich, mein gnädiges Fräulein, daß Sie wieder in unserer Gegend sind.«

»Ja, ach ja, mich auch«, erwiderte Fastrade und[35] errötete. Sie fühlte sich befangen und fügte daher etwas hinzu, was ihr mißfiel, als sie es aussprach: »Also hier handelt es sich um Geschäfte?« »Ja,« sagte der Baron, »setze dich, mein Kind, Egloff kommt wegen der Waldgrenze. Egloff, erklären Sie es ihr.«

Egloff lächelte wieder, wurde aber dann ernst und berichtete in ruhigem Geschäftston, indem er seine Fingerspitzen vorsichtig aneinander legte: »Es handelt sich also um folgendes. Ich habe einen größeren Waldverkauf gemacht und schlage jetzt an der Padurenschen Grenze.«

»Das habe ich gesehen«, entfuhr es Fastrade in einem Tone der Entrüstung.

»Sie haben es gesehen?« fragte Egloff und schaute Fastrade aufmerksam an. Dabei fiel es ihr auf, daß sein Gesicht doch nicht mehr ganz das lustige Gesicht ihres früheren Spielkameraden war, es war sehr bleich, war schärfer und gespannter, die helle, ungezogene Heiterkeit von früher war fort. »Gewiß, ich habe es gesehen,« erwiderte Fastrade, »es sieht aus wie ein Schlachtfeld.«

Egloff zuckte die Achseln: »Ja, schön sieht das nicht aus,« meinte er nachdenklich, »und es ist auch keine schöne Sache, ein Schlachtfeld, sagen Sie, also eine Schlacht, in der wir über den Wald gesiegt haben. Aber wenn wir dann endlich so über den ganzen Wald gesiegt haben, dann sind wir doch die Geschlagenen.«

Der Baron schaute auf, sah Egloff unzufrieden an und sagte dozierend: »Die Wälder sind in unseren Familien recht eigentlich das, was die Generationen verbindet, wir genießen, was unsere Vorfahren gehegt und gepflanzt, und wir hegen und pflanzen für die kommenden Generationen.« Der Schluß der Rede klang müde und nicht mehr so eindringlich, der Baron[36] ließ seinen Kopf wieder auf die Brust sinken. Egloff hatte andächtig zugehört, wie es die Gewohnheit aller jungen Leute der Gegend war, wenn der alte Baron sprach, dann sagte er, und Fastrade hörte aus seinen Worten wieder den ungezogenen Ton des Knaben heraus: »Nun, ich bin jetzt eben in der Lage, das genießen zu müssen, was meine Vorfahren pflanzten, aber,« wandte er sich an Fastrade, »Sie haben sich in der kurzen Zeit Ihr Gut schon genau angesehen.«

»Vorigen Abend war ich in den Wald hinausgegangen,« antwortete Fastrade, »und als ich auf dem Föhrenhügel stand, fehlte mir gegenüber die schöne Wand alter Tannen.«

»Ja, hm, die ist fort«, meinte Egloff, zog die Augenbrauen zusammen und sah auf seine Nägel nieder, als sei ihm das ernstlich unangenehm, dann schaute er auf und lächelte: »Dann waren Sie es wohl, die am Abend so schwarz am Waldrande stand, als wir im Schlitten vorüberfuhren.«

»Ja, das war ich,« erwiderte Fastrade, »und ein Herr in einem Schlitten sagte: ›Da steht die Einsamkeit selbst.‹«

»Oh, das war der Graf Betzow,« rief Egloff, »er will immer etwas Poetisches sagen und sagt dann jedesmal eine Dummheit. Warum sollen Sie die Einsamkeit sein? Wir waren doch sehr gesellig in unserer Jugend. Erinnern Sie sich der Quadrillen, die wir auf der Waldwiese zu reiten versuchten, Sie, Gertrud Port, Dachhausen und ich. Dachhausen war gerade Fähnrich und mir dadurch unendlich überlegen, er machte auch mehr Eindruck auf die Damen; das schmerzte mich, und ich wollte ihn fordern, er sagte aber ganz väterlich: ›Mach' dich nicht lächerlich, lieber Junge.‹«[37]

Fastrade lachte: »Ja, ja, und mein Paris hatte gar kein Talent für die Quadrille.«

»Richtig,« meinte Egloff, »Paris hieß Ihr kleiner Schimmel, weil er schön und furchtsam war. Was ist aus ihm geworden?«

»Paris steht noch im Stall,« erwiderte Fastrade, »aber der Arme ist alt und melancholisch geworden, er hat schlechte Zähne und kann den Hafer und das Heu nicht recht beißen.«

Egloff machte ein ernstes Gesicht, als schmerzte ihn diese Nachricht: »Das ist schlimm,« sagte er, »Hafer und Heu nicht mehr beißen zu können, ist für ein Pferd die große Lebenskatastrophe und, wie ich die Pferde kenne, würden sie, wenn sie könnten, sich erschießen, statt wie die Menschen, wenn sie Hafer und Heu nicht mehr –.«

»Ach, was sprechen Sie,« unterbrach ihn Fastrade unwillig, »wer sagt Ihnen denn, ob Paris nicht noch seine guten Stunden hat im Sonnenschein auf dem Kleefelde, und seine friedlichen Altersgedanken und manche kleine Lebensfreude.«

»Und Pflicht«, ertönte plötzlich die Stimme des Barons.

Fastrade und Egloff schwiegen erschrocken, sie hatten geglaubt, der alte Herr schlummre, und nun hatte er zugehört. Sie sahen einander an und machten angstvolle Gesichter wie früher in der Kindheit, wenn sie sich fürchteten, lachen zu müssen. Eine Pause entstand. Da jedoch der Baron nichts mehr sagte, begann Egloff wieder zu sprechen: »Bei Pflicht fällt mir ein, wir sollten ja von Geschäften reden.«

»Ach ja,« versetzte Fastrade, »was war es denn mit Ihrem armen Walde?«

»Nein, um Ihren Wald handelt es sich,« verbesserte[38] Egloff sie, »das Unterholz hat die Grenzlinie so verwischt, daß ich fürchte, mit dem Schlagen in Ihren Wald hineinzugeraten. Es wäre daher gut, an Ort und Stelle die Karten zu vergleichen und die Linie neu durchschlagen zu lassen.«

»Das kann ich verstehen,« sagte Fastrade, »da wird dann wohl Ruhke mit der Karte hinfahren müssen.«

Jetzt hob der Baron wieder seinen Kopf und sagte laut und kräftig: »Grenzen sind heilige Sachen, ein Besitzer muß seine Grenzen kennen. Daher wäre es besser, mein Kind, du wärest auch dabei.«

»Ist das nötig?« fragte Fastrade erstaunt. – »Ihr Herr Vater hat gewiß recht,« meinte Egloff, »nur dadurch bekommt der Akt der Grenzfestlegung seine Feierlichkeit.« Der Baron nickte: »So wäre also das abgemacht«, murmelte er. Da erhob Egloff sich, um sich zu verabschieden. Als er Fastraden die Hand drückte, lächelte er sein spöttisches Lächeln und sagte: »Also wir sehen uns in Geschäften, sozusagen als Gegner.« Dann ging er.

Fastrade setzte sich in ihren Sessel zurück, ihr Vater schlummerte wieder, und das Schweigen dieses Zimmers mit seiner grünen Lampendämmerung erschien ihr heute besonders tief.

Egloff stieg die Freitreppe herunter zu seinem Schlitten, der dort wartete, hüllte sich in die Pelzdecken und überließ dem Kutscher die Zügel. »Nach Hause«, sagte er.

»Nach Hause?« fragte der Kutscher verwundert.

»Zum Teufel ja, nach Hause«, schrie Egloff ungeduldig, und der Rappe setzte sich in Trab. Die Nacht war dunkel, es schneite ganz ruhig, die Schneeflocken waren nicht sichtbar in der Finsternis, aber[39] Egloff fühlte dieses stille Fallen um sich her, das ihn langsam in etwas Kaltes einhüllte. Er hatte allerdings nicht nach Hause fahren wollen, er war sehr verstimmt von zu Hause weggefahren, die Zeiten waren schlecht, er hatte stark im Spiel verloren, dann war da dieser Waldverkauf, der ihn anekelte, die Geschäftsfahrt zum alten Padurenschen Baron erschien ihm lästig und langweilig, darum hatte er beschlossen, von Paduren nach Barnewitz zu Dachhausen zu fahren, um sich dort mit der kleinen Frau die Zeit zu vertreiben, Dachhausen war nicht zu Hause, und sie hatte ihm an seinem letzten Besuch die Reise ihres Gatten mitgeteilt und dabei ihre schamlos süßen Augen gemacht. Und nun, als er auf die Padurensche Freitreppe hinausgetreten war, war die Lust zu dieser Fahrt vergangen gewesen, und er fuhr nach Hause. Gott ja, diese Fastrade war doch immer das aufrechte, hübsche Mädel von früher. Sehr warme Augen, schneidig war sie immer gewesen, er erinnerte sich, daß er als Knabe einmal in ihrer Gegenwart seinen Hund schlug, da war sie ganz rot geworden, hatte mit ihrer kleinen Faust ihn kräftig vor die Brust gestoßen und »Pfui!« gesagt, ein Pfui, das wie ein Peitschenhieb klang. Seitdem hatte sie ihn nicht recht leiden mögen. Ja, sie war immer riesig gut gewesen, diese Fastrade, aber diese Art Mädchen verliebt sich gewöhnlich in Hauslehrer, schade! Immerhin hatte sie viel Leben in sich, und es mußte hart für sie sein, dort in dem Hause zu wohnen, wo man nicht lebte, sondern nur umging. Er zog seinen Pelz fester um sich, er fror, es war nicht angenehm, so sachte, sachte in dieses kalte, weiße Laken eingehüllt zu werden, auch hauchten die großen weißen Tannenwände, zwischen denen sie jetzt hinfuhren, eine eisige Kälte aus. Gut, dachte Egloff,[40] er würde heute also den Abend zu Hause verbringen, aber was würde er tun? In letzter Zeit war ihm das Alleinsein mit sich selbst qualvoll geworden, seine Großmutter und Fräulein von Dussa heute zu sehen, war kein angenehmer Gedanke, also er würde in seinem Zimmer auf dem Sofa liegen, Rotwein trinken und sich vom Diener Klaus Geschichten erzählen lassen. Wenn er nur diese Geschichten von all den Mädchen der Umgegend nicht schon gekannt hätte, auch log der Kerl jetzt, und er log nicht unterhaltend. Trübe Aussicht. Wenn noch jemand da gewesen wäre, mit dem er hätte Karten spielen können, das war noch das beste Mittel gegen graue Stimmungen. Es war eigentlich seltsam und schwer zu erklären, aber dieses Mittel versagte nie, wenn er sich an den grünen Tisch setzte und die Karten zur Hand nahm, dann kam es unfehlbar, dieses erregte Gefühl, das wie eine körperliche Wohltat in das Blut ging und angenehm bis in die Fingerspitzen hinein kitzelte. Das ließ sich nur mit der hübschen Erregung des Moments vergleichen, wenn man eine schöne Frau zum ersten Male so von hinten sachte um die Schultern faßt und nicht weiß, wird sie empört sein oder stille halten.

Der Rappe machte einen großen Seitensprung, der Kutscher rief wütend: »Ho! ho! Wer ist da, versteht ihr nicht den Weg zu kehren?« Ein kleines Pferd, ein niedriger Schlitten, auf dem verschneite Pakete lagen und eine verschneite Gestalt saß, mühten sich, durch den tiefen Schnee zur Seite auszubiegen. »Laibe,« rief Egloff, »bist du das?« – »Ja, Herr Baron, Laibe«, antwortete eine freundliche Stimme.

»Was tust du hier im Walde?« fragte Egloff.

»Mir ist es schlecht gegangen,« ertönte leise eine klagende Stimme, »verfahren habe ich mich im Walde,[41] und jetzt fahre ich mit der Deichsel in den Schabbes hinein, ai ai, was kann man machen!«

»Das kommt vom Schmuggeln,« meinte Egloff, »aber du kannst zu mir auf den Hof kommen, und deinen Schabbes empfangen. Fahr' zu, Kutscher.«

»Danke, danke, Herr Baron«, rief Laibe ihm nach.

»Auch ein Leben,« dachte Egloff, »so in der Dunkelheit einsam durch den Wald zu kriechen, na, vielleicht ist das aber nicht übel, sich so herumzuschlagen, wenn man nur daran zu denken hat, ob man im Dunkeln den rechten Weg findet und wo ein Feuer sein kann, vielleicht, daß man dann an alle möglichen widerwärtigen Dummheiten nicht zu denken braucht.«

Jetzt fuhren sie in den Sirowschen Hof ein, nur wenig Fenster des großen Hauses waren erleuchtet. »Aha, keiner erwartet mich«, sagte Egloff. Sie hielten vor der Freitreppe, Egloff stieg zur Haustüre hinan, öffnete sie laut und rief ein schallendes und ärgerliches: »Holla!« Hunde begannen im Flur zu bellen, Lichter liefen die dunkle Fensterreihe entlang, Klaus und Joseph, mit Lichtern in der Hand erschienen und stammelten: »Ah, der Herr Baron, wir haben nicht gewußt.« »Natürlich habt ihr nicht gewußt,« sagte Egloff und warf seinen Pelz ab, »du Klaus, ich gehe gleich in mein Zimmer, der Kamin muß angeheizt werden, und du, Joseph, meldest der Frau Baronin, daß ich nicht zum Essen kommen werde, ich bin müde und gehe schlafen. Außerdem bringst du mir eine Flasche Burgunder aufs Zimmer. So, vorwärts.« Er ging in sein Zimmer hinüber, kleidete sich aus, ließ sich von Klaus den Körper mit kölnischem Wasser abreiben, hüllte sich dann in seinen Schlafrock und streckte sich in seinem Schreibzimmer auf dem Sofa aus. Joseph brachte den Burgunder, im Kamin brannte[42] das Feuer, es wurde behaglich warm. Egloff zündete sich eine Zigarre an, so, nun konnte es gemütlich sein, es gehörte nur noch dazu, daß angenehme Gedanken kamen, Gedanken, die nicht unversehens grob an eine wunde Stelle stießen. Was also? Da war dieser Jude, der durch den dunklen verschneiten Wald irrte und betete und nach einem fernen Licht ausspähte, das war etwas, woran hier am Kaminfeuer eine Weile zu denken seinen Reiz hatte. Allein das reichte nicht aus, die Gedanken irrten zu anderem. Was mochte wohl die kleine Frau in Barnewitz jetzt tun? Sie erwartete ihn, er sah es deutlich, wie sie sich für ihn ankleidete. Allzu sehr schmücken durfte sie sich nicht, denn keiner im Hause wußte ja, daß sie ihn erwartete, sie zog wohl das dunkelviolette Wollenkleid an und legte die Perlenschnur um. Dann bestellte sie das Abendessen, zündete im Saal die Lampen an mit den schrecklichen hellrosa Gazeschirmen, Frauen aus jenen Kreisen glauben immer, daß, wenn sie verliebt sind, sie Lampen haben müssen mit hellrosa Gazeschleiern. Da saß sie im rosa Lampenschein, das hübsche Wachspuppengesicht ganz feierlich, das Haar glänzend schwarz, in ihrem violetten Kleide wie ganz in weiche Veilchen eingehüllt, und wartete auf ihn. Und es wird immer später, und das Wachspuppengesicht wird immer starrer und endlich weint sie, wie nur die kleine Lydia Dachhausen weinen kann, ganz mühelos einen Strom von Tränen über das Gesicht schüttend, das sich nicht verzieht, das unbewegt bleibt, sie weint, wie Puppen weinen würden, wenn sie weinen könnten. Egloff lächelte, der Gedanke an die einsam unter ihren rosa Lampen um ihn weinende Frau tat ihm wohl, und dann plötzlich mußte er an Fastrade denken, an die Fastrade der Kindheit, an das kleine Mädchen, das ihn mit der[43] geballten Faust vor die Brust stößt und »Pfui!« sagt. Unruhig drehte er sich auf die Seite, griff nach dem Glase und trank, endlich drückte er auf den Knopf der elektrischen Klingel. Als Klaus erschien, befahl Egloff: »Der Jude Laibe soll zu mir heraufkommen, wenn er seine Zeremonien beendet hat.«

»Zu Befehl«, sagte Klaus. Egloff legte sich wieder zurück, zog an seiner Zigarre und wartete ungeduldig auf den Juden Laibe.

Nach einer Weile wurde die Tür vorsichtig geöffnet, und der Jude Laibe schob sich in das Zimmer, er war fest in seinen grüngrauen Rock eingeknöpft, das graue Haar und der dichte, graue Bart waren glatt gestrichen, und sein Gesicht verzog sich zu einem unendlich liebenswürdigen, freundlichen Lächeln. Er verbeugte sich mehrere Male, rieb sich die Hände und sagte: »Gut Schabbes, Herr Baron, gut Schabbes.« – »Du kannst dich da an den Kamin stellen und wärmen,« bedeutete ihm Egloff, »wenn du willst, kannst du dich auch auf den kleinen Stuhl dort setzen.« Laibe setzte sich, legte die Handflächen auf die Kniescheiben und fuhr fort, sein süßes Lächeln vor sich hin zu lächeln. Egloff betrachtete ihn aufmerksam. »Was ist denn geschehen,« fragte er dann, »eben noch kriechst du durch den Schnee im dunklen Walde wie ein klagender Hase und jetzt kommst du herein, reibst dir die Hände wie ein Ballherr und machst ein Gesicht, als ob du Hochzeit halten solltest.«

»Ein Dach überm Kopfe, Herr,« sagte Laibe, »ist was Gutes, und eine warme Stube ist auch was Gutes, warum soll ich mich dann nicht freuen?«

»Ist das alles?« meinte Egloff.

Laibe wurde ernster, strich mit der Hand über seinen Bart und rollte seine blanken, sirupfarbenen[44] Augen. »Das nu versteht der Herr Baron nicht, das ist unsere Religion, heute muß man froh sein, ob man will oder nicht.«

»So, so, nur weil es befohlen ist«, sagte Egloff.

»Weil es befohlen ist,« bestätigte Laibe, »die ganze Woche schindet man sich und fürchtet sich, und an einem Tag erinnert man sich, daß alles einmal ganz gut werden wird. Versprochen ist es, nun, und man wartet.«

»Wartet«, wiederholte Egloff höhnisch.

»Was kann man anders tun, man wartet«, versetzte Laibe mit Bestimmtheit.

Egloff richtete sich ein wenig auf und sagte plötzlich ungewöhnlich heftig: »Und dieses Warten macht uns alle zum Narren, man wartet und wartet, man tut dies und das, um sich die Zeit zu vertreiben, aber das Große, die Hauptsache, die soll noch kommen. Und die Zeit vergeht, und nichts kommt, und wir sind die Narren.«

Ärgerlich ließ Egloff sich in die Kissen zurückfallen, der Jude warf einen schnellen ängstlichen Blick auf den Baron, krümmte den Rücken und sagte leise und demütig: »Das Warten ist nichts für die großen Herren, ein Edelmann hat hitziges Blut, der wartet nicht gern, aber ein armes Judchen hat nichts anderes.«

»Du hast doch dein Geld,« warf Egloff ein, »das macht dich doch glücklich. Wenn du einen Bauer betrogen hast, dann bist du glücklich, wenn du was über die Grenze geschmuggelt hast, dann bist du glücklich, wenn du ein Kalbsfell unterm Preise gekauft hast, dann bist du glücklich.«

Laibe wiegte bedächtig seinen Kopf: »Glücklich, Spaß, ein schönes Glück. Dann ist der auch glücklich, der recht hungrig ist, und um ihn herum stehen lauter[45] Braten, und die dampfen und die riechen gut, und er darf sie alle riechen und keinen anrühren. Glücklich, wenn ich immer nur an dem Geld der anderen vorübergehen und vorüberfahren muß. Und da fahre ich durch den Wald, schöne, große Stämme, reines Geld, aber nicht mein Geld. Komme ich an einer Scheune vorüber, die ist ganz voll mit Geld, aber nicht mein Geld. Das ist auch so'n Glück.« Laibe lachte höhnisch in seinen Bart hinein.

»Sag' mal«, begann Egloff nachdenklich, »hast du immer an Geld gedacht? Du bist doch auch jung gewesen, und in der Jugend hat man doch auch andere Gedanken im Kopf, da gibt es doch lustige Sachen.« Aber Laibe lachte wieder sein leises, höhnisches Lachen: »Ei, ei, meine Jugend, lieber Herr, was war das schon für eine Jugend. Ich war ein Bocher von fünfzehn Jahren, als der Vater mir das Bündel auf den Rücken hing und sagte: ›Geh verdienen.‹ Nun, und ich ging, und auf der Landstraße hatte ich Angst vor den Gendarmen und vor den Grenzreitern und im Walde vor den Waldhütern, und wenn es dunkel wurde im Walde, dann kamen große schwarze Vögel, flogen ganz niedrig und bliesen – die Angst! Und wenn ich dann zum Bauern kam, hatte ich Angst, an die Tür zu klopfen, und wenn ich doch klopfte, der Bauer kam aufmachen, hatte ich wieder Angst. Und ich glaubte, der Kaiser und die Minister und die Herren und die Bauern, alle sind nur dazu da, um dem armen Judenbocher Angst zu machen.«

»Aber dachtest du nicht manchmal,« unterbrach ihn Egloff, »dachtest du nicht an Mädchen, an solche Sachen?«

»Mädchen waren schon da«, erwiderte Laibe. »Wenn ich Sonntags in eine Bauernstube kam, dann saßen sie[46] da am Tisch, die Mädchen in ihren guten Kleidern, reingewaschen, die Gesichter wie die roten Äpfel, und Jungen waren da und spaßten mit ihnen, und ich saß am Ofen und sah zu, wie einer ein Bild ansieht, er kann nicht in das Bild hinein, und das Bild kann nicht zu ihm herauskommen. Ach Gott, meine Jugend! Auf der einen Seite steht das bißchen Verdienst und auf der anderen Seite steht die große Angst.«

Beide schwiegen jetzt, Laibe schaute sorgenvoll vor sich hin und strich mit den Händen sanft über seine Knie, als wolle er sich selber trösten. Egloff zog nachdenklich an seiner Zigarre. »Hm,« sagte er endlich, »nicht schlecht. Der Judenjunge im dunklen Walde, ganz klein unter den hohen Bäumen, und die großen schwarzen Vögel, die vor sich hinblasen. Aber mit eurer ewigen Angst habt ihr vielleicht recht. Ihr behaltet die gefährliche Bestie immer im Auge, wir anderen, wir fürchten uns nicht, und uns fällt sie hinterrücks an.«

»Bitte, Herr Baron,« fragte Laibe einschmeichelnd, »was ist das wohl für eine Bestie?« Egloff seufzte: »Ach, mein lieber Laibe, Sinn für das, was man so ein poetisches Bild nennt, hast du nicht. Was soll denn die Bestie sein? Das Leben ist diese Bestie.«

»Sehr hübsch,« bemerkte Laibe und machte sein liebenswürdigstes Gesicht, »aber ich habe nicht einen feinen Kopf wie der Herr Baron, ich habe nur einen armen Judenkopf voller Sorgen, der kann nicht so feine Gedanken denken.«

»Gut, gut,« unterbrach ihn Egloff, »du wirst uninteressant, mein Lieber, es ist Zeit, daß du schlafen gehst, gute Nacht.« Laibe erhob sich, rieb sich die Hände, verbeugte sich und sagte: »Eine sehr gute Nacht, Herr Baron.« Dann ging er.[47]

Egloff blieb noch eine Weile liegen, die Wärme des Kaminfeuers hatte ihn ganz schlaff gemacht, und der Burgunder gab ihm einen angenehmen, leichten Schwindel. Man wird schlafen können, dachte er, und dann klang ihm plötzlich Fastrades Stimme im Ohr, »das sieht aus wie ein Schlachtfeld«, hatte sie vom Walde gesagt, und das klang so zornig wie das »Pfui!« damals, als er den Hund schlug. Er lächelte vor sich hin. Dieses Mädchen einmal so böse zu machen, daß es ganz heiß und wild wird, das müßte hübsch sein. Dann schellte er nach Klaus, um zu Bette zu gehen.

Quelle:
Eduard von Keyserling: Gesammelte Erzählungen in vier Bänden, Band 4, Berlin 1922, S. 34-48.
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