1801. 1802

DER Optimism[us] und Pessimism[us] sind Zwillingsbrüder. Ob der letzte ehebrecherisch durch Superfötation hinzugepfuscht sei, ist jetzt, da man die Mutter vor kein geistliches Gericht ziehen kann und der Vater immer schweigen wird, schwer auszumachen. Mir scheinen sie beide ehrlicher Geburt, keiner älter als der andre und, um allem Streit über Erbfolge und Erbrecht zuvorzukommen, in einem nicht zu unterscheidenden Wurf ans Licht der Welt geworfen worden zu sein. Wer ihr Vater ist? Das »Pater est, quem demonstrant nuptiae« läßt sich hier nicht anwenden. Fragt die stumme Ewigkeit! Genug, die Zwillinge sind da und sind – so entgegengesetzter und widersprechender Natur sie auch sein mögen – so innig verbunden und unzertrennlich, wie sonst nichts in dem ganzen Universo innig verbunden und unzertrennlich zu sein scheint. Alles, was durch sie geschieht – und was geschähe wohl ohne sie? –, trägt die Farben beider, so kreischend diese auch gegeneinander abstechen. Keinen Augenblick kann man einen ohne den andern besitzen; und scheint auch einmal einer allein zu Gaste zu kommen, so tritt doch gleich der andre hinterdrein, als könnte er ohne seinen geliebten Gesellen nicht atmen und sein. Der erste scheint indessen immer etwas träger zu sein, wenn er kommt, als wenn er sich empfiehlt. Kurz, dieses edle Brüderpaar hat sich so ziemlich, ohne weiter ihr Recht zu beweisen, zu Herren und Herrschern der moralischen und physischen Welt gemacht; und ist der letzte wirklich[402] ein Bastard, wie ihm die, bei denen er den Herrn über seinen Bruder spielt, oft laut nachsagen, so möcht' ich wohl den ehrlich gezeugten Bruder fragen, warum er sein Geburtsrecht nicht besser behauptet habe. Vielleicht würde er mir weislich antworten: »Durch diese Zulassung erwies ich erst recht meinen Wert.« Aber eine weise Antwort ist nicht für alle Leute eine befriedigende Antwort.

1
[403]

DIE wahre Regierung muß einem fruchtbaren Sommerregen gleichen, der das trockne Land befeuchtet, ohne daß man ihn hört. Es haben Regenten gelebt, die die Staatsmaschine mit solchem Gepolter, Gerassel, Geräusch, Geklatsche und Ungestüm herumtrieben, daß jeden Augenblick zu befürchten war, sie oder die Maschine müßten davon zertrümmert werden.

2
[133]

WENN ich auch die höchste und dünnste Stufe der skeptischen Leiter bestiegen habe, so führt mich immer die Poesie (im hohen Sinne des Worts) einige Stufen abwärts. Sie beweist den moralischen Sinn im Menschen; und diese schaffende, erhebende, beseligende Kraft konnte nur aus ihm entspringen. Alle Virtuosität, die Tugend selbst ist Poesie und wird nur von den sanften, glänzenden Fittichen derselben emporgetragen und gehalten. Auch beweist der Lohn, den beide in der Welt finden, ihre nahe Verwandtschaft. Und doch sind sie da, werden wohl immer dableiben. Woher kömmt doch dem Menschen dieses eigensinnige Verharren auf Dingen, die sich so schlecht lohnen?

3
[405]

DER idealisierende Dichter und der Satiriker nehmen sich beide vor, uns den Menschen zu malen. Der eine taucht seinen Pinsel in den ätherischen Glanz, den er in seiner Entzückung vor dem Schemel des Allerheiligsten schweben sieht; der andre taucht ihn in stinkenden Morast. Wäre es möglich, die beiden ganz widerstrebenden Stoffe gehörig zu mischen, und es führte ein Maler ohne zu ekstatisches Entzücken und ohne zu galligten Humor den Pinsel, so möchte vielleicht das wahre Gemälde des Menschen über der Staffelei erscheinen.

4


DIE Deutschen haben keine hervorstechenden Satiriker oder vielmehr keine Satiren, die ein Mann, der die Welt und die Menschen kennt, lesen mag. Kömmt es etwa daher, weil sie alles verehren, was reich und groß ist? Weil sie ein leidendes, kein politisches Volk sind? Oder ist die deutsche Treuherzigkeit und Gutmütigkeit daran schuld, da sie sich immer begnügen und bei den ihnen mißfallenden Vorfällen denken, es ließe sich wohl noch ertragen oder bei genauerer Untersuchung manches zur Entschuldigung des Widrigen sagen? Das gute Volk glaubt sogar, Rabener sei ein Satiriker. Ein guter, witziger Schriftsteller war er wirklich, aber nur ein Satiriker, der einem obige Fragen noch näher legt. Man vergleiche nur das, was er behandelt, mit dem, was Swift und Rabelais behandelten. Gehört aber der Stoff[468] und die Bearbeitung des alten Gedichts »Reineke der Fuchs« wirklich einem Deutschen, so haben wir einen Satiriker, den man mit diesen Männern nennen kann.

5
[469]

BEI keinem Volke hat die schöne und täuschende Idee von immer steigender Veredlung des Menschengeschlechts mehr gläubige Anhänger und Verehrer gefunden als bei den Deutschen. Vielleicht darum, weil sie noch das moralisch beste Volk unter den kultivierten Völkern unsrer Erde sind. Wer wird es nun einem edlen Manne verargen oder seinen Glauben zu nah' an die widersprechende Erfahrung halten, wenn er ihn durch schöne dichterische Bilder und platonische Gedanken zu befördern sucht? Sein Glaube entspringt aus seinem Herzen – und hoffentlich auch aus dem Herzen seines Volks – und ist mit jener Poesie verwandt, von welcher ich oben sprach.

6
[405]

KANN man die deutschen Sitten und Gebräuche, ihren Charakter, ihre Denkungsart nach den Werken ihrer Schriftsteller beurteilen? Mir scheinen sie mehr die Schriftsteller der ganzen Erde zu sein, keinem Volke besonders anzugehören und nicht mehr Charakter zu haben als ihre politische Reichsverfassung. Was man von den meisten sagen kann, ist: daß sie Schriftsteller sind, daß sie alles zusammenraffen, alles schildern, alles auftragen, ohne sich nur im geringsten an eignen Ton und Farbe zu halten. Das Vaterländische allein scheint ihnen fremd. In den Übersetzungen ihrer Werke erkennt man an einer gewissen Nüchternheit und Enge der Begriffe, an einer gewissen Charakterlosigkeit auf den ersten Blick, daß das Machwerk auf einem Boden entsprungen ist, der sich durch nichts bezeichnet. Man sagt von großen Schriftstellern, daß sie nicht einem Volke, sondern der ganzen Welt gehören. Spräche ich in diesem Sinne, so hätte ich Klopstock, Goethe, Schiller usw. genannt; aber diese bezeichnet der Charakter des Genies, das durch jedes Werk seine Herkunft beweist. Jedes gute, ja sogar jedes mittelmäßige französische oder englische Werk hat den Ton und die Farbe der vaterländischen Sitten und Gebräuche. Warum haben sie die deutschen nicht?

7
[445]

DIE Großen und der Hof hatten in Frankreich die Grundsätze (das, was man jetzt »Mißbrauch der Philosophie« oder »heutige Philosophie« nennt) schon lange praktisch ausgeübt, eh' sie die Philosophen in ihren Werken systematisch aufstellten. Wann haben wohl die Großen und Menschenführer Bücher um Rat gefragt, wie sie ihr Geschäft treiben sollten! Der Lehrmeister ist ihnen viel näher, und das Praktische stellt sich bei ihnen ohne alle Theorie ein. Zu allen Zeiten haben wohl die herrschenden Sitten die Schriftsteller nach ihrem Geiste gebildet, aber wann die Schriftsteller die Sitten nach dem ihrigen? Und wer von den Großen liest den Sittenrichter, der sich der Zurechtweisung anmaßt?

8


WENN ich von den Großen im Staate oder am Hofe rede, so will ich damit eben nicht immer sagen, sie verdienten diese Benennung immer wegen ihrer großen und wichtigen Taten und Tugenden; vielleicht denke ich nur dabei, sie hätten den Beruf dazu. Vielleicht erinnert mich dieser laute Schall auch nur an die Gefälligkeit und Gutmütigkeit der Kleinen.

9
[144]

DER höchste Genuß für mich in diesem Leben war bis jetzt die Hervorbringung einiger meiner Schriften, dann ein witziger Einfall unter munter-geistreichen, sich verstehenden Gästen bei Tische, der das Lachen rechter Art erweckte, oder ein kühnes Bild, ein starker, verwegner Gedanke, die plötzlich, ganz ausgerüstet, dem Geist entsprangen, tiefen Sinn enthielten, die Zuhörer in angenehmes Erstaunen oder mit Furcht vermischte Verwundrung versetzten. Der Augenblick ist voll wahren ästhetischen Genusses, wenn die Anwesenden nach und nach, mit noch schüchternem Blick, nach dem Manne hinsehen, der die Blitze so kühn über ihre Häupter schleuderte, ohne sie zu versengen.

10
[5]

MAN streute wohl ehemals Goethen Weihrauch; jetzt aber erkühnen sich Knaben, ihn mit Teufelsdreck zu parfümieren. Ich würde sagen: Was für einen Zauber muß Schmeichelei mit sich führen, da Goethe nicht an einem solchen Gestank erstickt! Aber ich denke zu gut von ihm, als daß ich einen Augenblick glauben sollte, er habe diesen Gestank gerochen. Wären »Wilhelm Meister« und »Hermann und Dorothea« nicht von so gutem Atem, wie würde es ihnen unter einem solchen Rauchfaß ergangen sein? Und doch glauben verständige Leute zu bemerken, ihre Farbe sei etwas blässer dadurch geworden. Übrigens gehört den Deutschen der Ruhm dieser neuen Vergiftungsart zu, und hoffentlich wird kein Volk sie ihnen streitig machen wollen.

11
[498]

EINEM Unerfahrnen Lebensregeln geben, heißt: einem Ungeübten Unterricht im Fechten durch Zuschauen geben. Das Auge unterscheidet die Stöße nicht, und doch gleicht einer dem andern so wenig als ein Fall des Lebens dem andern. In Büchern nehmen sie sich sehr gut aus, und ein Welterfahrner kann bei Lesung derselben ebendas Vergnügen empfinden, das ein Weltumsegler bei einer Reisebeschreibung fühlt, die ihm bekannte Untiefen, Klippen, Sandbänke mit den dabei ausgestandnen Gefahren ins Gedächtnis ruft.

12
[353]

DER fanatisch-royalistische Schriftsteller ist mir ebenso verhaßt als der fanatisch-demokratische. Gewöhnlich verteidigt der erste einen sultanischen Despotismus und schadet einer Sache, auf welcher notwendig das Glück der Menschen gebaut ist, der andre baut ohne Grund und tut dasselbe. Beide sind nun außer der Zeit. Der erste suche nun von dem Äußern des zweiten etwas Gefälligeres und Gesetzlicheres anzunehmen, so wird alles recht gut gehen. Wer wagt dann noch aufzustehen und ein freches Wort zu sagen?

13
[449]

UM orthodox zu reden, so hat auch die »Vorsehung« die Französische Revolution, wie alles, herbeigeführt. Das heißt: Sie fand die Voraussendung aller der uns empörenden und erschreckenden Greuel nötig, um endlich das zu bewirken, was wir nun sehen. Man muß ein Theolog sein, und ein recht orthodoxer, um diese Angel zu verschlucken, an der sich auch ein Walfisch verbluten könnte.

14
[256]

WENN die Menschen die moralische Kraft hätten, alle ihre moralische Kraft zu gebrauchen, so möcht' ich wohl das Wesen der Gesellschaft sehen, wenn noch so etwas bestehen könnte. Ein einziger Mann von ganzem, unbiegsamen, gediegenen Charakter ist der Schrecken der ihn Umgebenden, ein Felsen, gegen den der Strom verunglücktes gläsernes Geschirr treibt.

15


DIE härteste und schwärzeste Erfahrung, die wir zu machen haben, ist die Anerkenntnis, daß wir im tätigen Leben das ganz Entschiedene unsers moralischen Werts verbergen müssen, wenn wir geduldet werden wollen. Nur mit dem, was man nicht fürchtet, was man nicht zu achten gezwungen ist, woraus das gewöhnliche moralische Wesen der Gesellschaft besteht: mit schielenden, schwankenden Halbtugenden verstattet man aufzutreten, und auch nur diese machen uns der Gesellschaft erträglich.

16


ALLES, was uns Vater, Mutter, Lehrer und Bücher in der Jugend als feste moralische Lehren so sorgsam einzuflößen trachten, müssen wir auf der Bühne des Lebens zu verschleiern oder gar zu vergessen suchen. Der sie ganz befolgen will, muß die Beschränktheit und Einsamkeit wählen. Nun frage ich: Was ist denn die Gesellschaft, die ihr widersprechende Erziehung dazu,[348] wenn es so ist? Das Sonderbare aber, meiner Meinung nach, liegt noch mehr darin, daß man uns trotz allem dem nach so vielen tausend Jahren noch immer in der Jugend gegen den Strom zu schwimmen lehrt, ob man sich gleich bewußt ist, daß der Strom für die Kraft des Stärksten zu mächtig ist. Hier waltet abermals etwas von der Poesie, von welcher ich oben1 sprach.

17
[349]

VOLTAIRE, Montesquieu, Rousseau, Mably, Diderot, die Ökonomisten und Enzyklopädisten sollen durch ihre Schriften die Französische Revolution geschaffen haben – so sprechen die Ausgewanderten, und wer nicht denken kann oder mag, ihnen nach. Sie vergessen (die Ausgewanderten wissen warum) die Ränke, den Stolz, die Habsucht und Zügellosigkeit der Großen seit der Minderjährigkeit Ludwigs XV. Doch wer mag sich hierbei aufhalten? Und was wäre wohl ohne obige Genies am Ende aus der Revolution hervorgegangen? Ebendas, was aus der Türkei hervorgehen würde, wenn dort eine politische Revolution statthaben sollte: noch grausamere Szenen und eine gänzliche Auflösung. Haben diese Genies wirklich etwas zur Entwicklung der Revolution beigetragen – nachdem sie so gut vom Hofe und vorzüglich von den Großen vorbereitet war –, so haben sie auch den Samen in ihren Schriften hinterlassen, den man wieder aufgehen[256] sieht. Im Wiederaufbauen zeigt sich das aufgeklärte Volk; die andern können nur niederreißen und dann sich zerstreuen!

18


DASS etwas Teuflisches (ein dunkles Wort; aber es bezeichnet) in der menschlichen Natur ist und sich der Oberherrschaft bemächtiget, sobald es nur kann, haben wir während der Französischen Revolution anschaulich genug gesehen, und es hat beinahe das Ansehn, als sei es nur dieses Teuflische, das den Sumpf bewege, in dem das Menschengeschlecht sich herumwälzt. Mit guten Absichten wird immer angefangen (wann je mit reinern, edlern von seiten der Regenten?); aber sie sind allein nicht hinreichend, die Kräfte aufzurühren; die scheußlichen wilden Leidenschaften sollen, müssen zum Ziel führen, und nur wann sie ein Ungeheuer, das alle verschlingt und alle noch übrigen zu verschlingen droht, ausgebrütet haben, blickt man wieder auf den Zweck zurück, den die guten Absichten angedeutet haben. So schien auch dieses Werk ohne Teufeleien nicht gelingen zu können und prägte sich zur Beschämung des Menschengeschlechts dadurch recht zum scheußlichen Menschenwerk. Gelungen ist [es] nun einmal, wir mögen es nun anstaunen, verfluchen, bewundern oder uns davor kreuzigen und segnen. Es ist doch nur Menschenwerk und leider ganz natürlich zugegangen, so teuflisch es auch aussieht. Da habt ihr eine allgemeine Weltgeschichte zur Lehre und Warnung in einem Atemzug, wie freilich noch kein deutscher Professor seinen Zuhörern eine zum Leitfaden zugeschnitten hat.

19
[257]

WENN etwas Sonderbares und Bedeutendes im deutschen Charakter ist und ihm Ehre macht, so ist es dieses: daß die Gelehrten dieses Volks noch im achten Jahre der Französischen Revolution untersuchten, ob die Franzosen auch ein Recht dazu gehabt haben. Hätten sie dieses ausfinden können, so hätten sie sich wahrscheinlich über ihre Leiden getröstet. Und dieses Gefühl für Recht ist das Gefühl des ganzen Volks. Haben Deutschlands Völker diesen Sinn für Recht nicht in den gefährlichsten Zeiten aufs kräftigste bewiesen? Ihren Fürsten trotz dem von ihnen so laut, durch so auffallende Maßregeln gezeigten Mißtrauen so bewiesen, daß man kein Dorf auf dem deutschen Boden zu nennen weiß, das seine Bürgerpflichten verletzt hätte? Ich hoffe, Deutschlands Fürsten werden es erkennen; werden erkennen, daß, wenn die Weltgeschichte kein Ereignis aufgezeichnet hat, das der Französischen Revolution gleicht, sie auch kein Volk nennt, das bei solchem Unglück, in solcher Not und solchen Versuchungen es so mit Recht und Pflicht und seinen Fürsten gehalten hat. Und da ich aus vielen moralischen Ursachen stolz bin, ein Deutscher zu sein, so bin ich es aus dieser vorzüglich.

20
[263]

WER, möcht' ich sagen, das Tierische, Fleischliche, Sinnliche eines durch weisheitsvolle Schriften berühmten Mannes nicht gesehen und beobachtet hat und seinen Charakter nach seinen Büchern zusammensetzt, der könnte ebensogut von einer Stadt sagen, durch die er einmal auf Reisen bei schönem Wetter und Sonnenschein gefahren, es wäre dort immer schönes Wetter und Sonnenschein; besonders wenn ein solcher Mann ohne Leidenschaft, Humor und Laune, folglich immer weise und klug schreibt. Hier kann man sich oft bei näherer Besichtigung, wenn man noch einigen Zweifel hat, aufs innigste überzeugen, daß zwei sich ganz entgegengesetzte Dinge in dem Menschen hausen: ein Gott und ein Tier, die sich wechselsweise ausspannen und ablösen; zweispännig fährt doch der Mensch in den Hauptmomenten nicht, denn wenn der Gott den Zügel ergreift, steigt das Tier murrend hinten auf; faßt ihn das Tier, so muß sich der Gott ohnedem gefallen lassen, hinten aufzutreten. Wir lesen jetzt Bücher und sogar periodische Schriften, die uns erheben, durch ihre hohe Weisheit und schöne Menschlichkeit beruhigen und beseligen. Sähen wir manchen ihrer Verfasser näher, wir würden über das sinnliche, irdische, körperliche, eitle, leidenschaftliche Tier erstaunen, das so göttlich reden kann, und gar nicht begreifen, wie es zu gewissen Stunden die grobe Hülle abstreifen und [wie] ein Wesen einer andern Welt vor uns treten konnte. Ein solcher Mann scheint unter dem Stabe einer Fee zu stehen, die ihn durch eigensinnige[301] Berührung umwandelt. Aber kann und soll dieses den Glauben an seine Weisheit oder die Lehren derselben schwächen? Mich dünkt: Es muß ihn vielmehr in den Augen des billigen Beurteilers erhöhen; denn beweiset es nicht das wirkliche Dasein dieses Gottes um so kräftiger, wenn der ihm huldiget, der von dem gefährlichen Tier so gewaltig hin und her gezerrt wird?

Darum mochte freilich das öffentliche und mündliche Lehren in den Hallen, Gärten, auf den Spaziergängen, wie es bei den Griechen Sitte war, etwas gefährlicher und bedenklicher sein. Man mußte sich doch, um nicht durch eignes Handeln und Wirken im täglichen Verkehr des Lebens mit seinen Lehren im Widerspruch zu stehen, etwas mehr zusammennehmen, als wenn man bloß, unbekannt und unsichtbar dem Publikum, das man sich als Schüler denkt, im Kabinett die Feder führt und sich in den besten, gesundesten Stunden des Geistes und Herzens zur Höhe seines Gegenstandes schwingt, windet oder schraubt. Daher kommt auch wohl das Gehaltene, Übereinstimmende im Reden, Tun oder etwanigen Schreiben des einmal angegebenen oder angenommenen Charakters der griechischen Philosophen. Diogenes hätte vielleicht nur in Büchern hündisch gebissen und die Reichen, Üppigen, Schwelger und Ungerechten verhöhnt und zur Schau ausgestellt, übrigens aber gelebt wie jeder Autor, der auf alles dieses schimpft und demohngeachtet so gut ißt, trinkt, sich bettet und kleidet, als er und der Verleger es bezahlen können; Diogenes mußte wirklich wie ein Hund leben, wenn er sich und seine Lehren nicht lächerlich und verächtlich machen wollte. Ob Sokrates zur Bekräftigung seines öffentlichen Lebens und Lehrens im Gefängnis, das man ihm öffnen wollte, geblieben wäre, um für beides den Tod zu leiden, wenn er in seiner Stube geschrieben und das Geschriebene an den Buchhändler verkauft hätte, anstatt es jedermänniglich auf den Straßen und in den Werkstätten zu predigen, ist wenigstens eine erlaubte Frage, die ihn und seinen Dämon in allen Ehren lassen soll.

Doch haben nicht auch wir Lehrer der Weisheit und Moral in[302] unsern Hörsälen? Aber kommt man über mehr mit ihnen überein, als daß sie zu gewissen Stunden des Tags einer gewissen Anzahl junger Leute, etwa für sechs oder acht Taler, ihr Kompendium nach ihren Heften erläutern, die Schüler dieselben nachschreiben, ohne daß sich der Schüler um den Lehrer und der Lehrer um den Schüler weiter bekümmere. Was der Lehrer gesprochen, hat der Schüler schwarz auf weiß; die Schule ist gemacht – das heißt: Er hat geschwatzt, sie haben gehört!

21
[303]

WENN man Schillers »Don Carlos«, »Wallenstein«, Goethes »Tasso«, »Iphigenie«, Lessings »Nathan«, Klopstocks »Oden« und »Messias« und einige andre Werke liest, so fragt man sich wohl, wenn man wieder zu sich kömmt: Welch ein Volk muß dieses sein, für das man so etwas schreibt und das es zu schätzen weiß? Die Täuschung löst sich, wenn man die Götzen dieses Volks ansieht, die auch ihre Tempel haben – und weit besuchtere Tempel als die wahren Götter! Aber hat die Natur nicht jeder Art der Tiere die ihnen zukommende Nahrung aufgetischt? Warum sollte es hier anders sein? Und was wäre wohl mit Recht dagegen einzuwenden? Die Götzen wissen doch, daß sie nur Götzen, daß ihre Priester nicht die wahren sind, daß nur Götzendienst mit ihnen getrieben wird.

22
[490]

WIE sehr bedauert man nicht, wenn man Garves vortreffliche Versuche voller Weisheit, politischer Klugheit und schöner Moral liest, daß der edle Mann so schwer einherzieht, so gar dogmatisch ist und uns gar so sehr den Professor zeigt! Wann werden die Grazien die Sohlen unserer Prosaisten beflügeln, wie sie es den französischen Prosaisten so gefällig tun? Wieland selbst, dem doch die Grazien bei seinen Gedichten so oft zur Seite stehn, scheint, wenn er Prosa schreibt, Blei an den Füßen zu haben. Und die Weitschweifigkeit, die uns nichts erläßt, die uns alles auskramt, die uns für gar zu dumm hält!

23
[457]

WELCH ein schönes moralisches Ganze stellt das Leben der Greise Klopstock und Gleim auf! Übertreffen wir Deutschen die Franzosen in der wahren Poesie, so übertreffen wir sie auch in der Moralität; und beide sind so eng verbunden, daß keins ohne das andre bestehen kann. Und welch eine Reihe von Namen Verstorbener ließe sich in diesem Sinne hinzufügen: Lessing, Garve, Mendelssohn, der edle Georg Schlosser aus Frankfurt – das Bild der reinsten Menschentugend!

24
[303]

DIE deutschen Fürsten und des Reiches unmittelbare Ritter kommen mir während des ganzen letzten Krieges vor wie der hohe französische Adel, als Richelieu Rochelle belagerte. Einer fragte den andern: »Werden wir wohl so toll sein, Rochelle einzunehmen?« Jetzt suchen die deutschen Fürsten bloß Entschädigung für die Kosten der Belagerung, und zwar, da die Festung des Feinds nicht übergegangen, auf Kosten ihrer Mitstände. Wäre aber die Festung wirklich von den Übermächtigen, an die sie sich so fest angeschlossen hatten und anschließen mußten, eingenommen worden, wie wäre es ihnen selbst ergangen? Und wie sonderbar das Schicksal sogar auch mit den deutschen Fürsten zu spielen wagt! Diejenigen geistlichen Fürsten, die vorzüglich den Lärmen zur Belagerung geblasen haben, scheinen zwar etwas berupft, doch noch so ziemlich davonzukommen. Mögen sich die säkularisierten gefürsteten Äbte und Bischöfe damit trösten, daß es wenigstens Männer ihres Standes waren, die das Feuer anlegten, welches ihre Fürstenstühle nun zu verzehren droht. So wird es sich dann jetzt ausgleichen bis zu einer neuen Staatsaktion.

25
[269]

IN Frankreich stürzte, wie man sagt, der Dritte Stand den Thron (den doch der Hof und die Großen untergruben, als seien sie nur dazu gedungen), weil der Hof zu nachsichtig und die Großen zu habsüchtig und eitel waren, die Militär- und Staatsbedienungen dem Dritten Stand zu erteilen oder mit ihm zu teilen. Gleichwohl übertraf der Dritte Stand die beiden höhern an Reichtum, Kultur und Kenntnissen. Hier ein Gegenbild: Der russische Hof findet eine Stütze in dem Dritten Stand gegen den Geburtsadel, dessen Aristokratie und die leibeigenen Bauern. Jeder, der der Krone dient, er sei freigewordener Soldat, aus dem Sklavenstand entlassener Bürger, freigeborner Bürger oder Ausländer, gehört zu dem Adel und genießt dessen Rechte, sobald er Offiziersrang im Zivil- oder Militärstande erhält. Hier hört also aller Neid auf, und dem Verdienst und dem Ehrgeize sind die Tore ohne Unterschied geöffnet. Ja der Dienst des Staats adelt hier mehr als Geburt, weil der Geburtsadel nur durch ihn bedeutend hervortreten kann. So glänzt zwar der Adel, aber er blendet nicht. Wahrscheinlich wäre dasselbe (durch ähnliche Maßregeln, wie sie die eigentümliche Lage des Reichs gestattet) in Frankreich erfolgt, die Eifersucht erloschen, und alles hätte eine andere Wendung genommen. In Frankreich zog der Geistliche den Zehenten von dem Erwerb des Bauern; in Rußland bearbeitet der Geistliche das ihm zugeteilte Feld wie der Bauer, und der Sohn des Geistlichen muß, wenn es gefordert wird, als Soldat dienen[200] wie der Sohn des Bauern. Hat der Mönch hier auch ein bequemeres Leben, so hat er doch gewiß ein noch armseligeres als der Weltgeistliche. Überdem sind die russischen Geistlichen die tolerantesten und genügsamsten, die ich in Europa kenne, und ersetzen an Ruhe dem Staate, was er an ihrer wenigern Kultur verliert. Ihr Stand ist also für den Staat kein Stand in politischer Bedeutung. Wollte man die meisten Staaten den gallischen Entwickelungen, soweit sie nützlich sind und sein können, näherbringen, so müßte man das Übergebliebene des Feudalsystems nach und nach ausrotten; wollte man Rußland den übrigen europäischen näherbringen, so müßte man das Gegenteil tun: Man müßte das Feudalsystem in der besten Art nach und nach einzuführen suchen, damit es den Kreis der andern durchlaufe. Aber welcher Sterbliche wagte, einen Rat zu geben und das Schicksal von vierzig Millionen Menschen auf seine Schultern zu nehmen?

26
[201]

»HABE den wahren Geist deines Postens, Standes und Berufes, so hoch oder so niedrig du auch im Amte stehen magst!« Dieses sollte man allen Staatsbeamten von dem höchsten bis zu dem niedrigsten täglich zurufen; nur bei der Klerisei wäre es ein unnützes Geschäft.

27
[329]

ES gehen wirklich mehr Talente in der Welt verloren, als ausgeübt werden, und dieses beweist, daß wir reicher an Geisteskräften sind, als das von der politischen Gesellschaft uns zugeschnittne Maß auszuüben verstattet. Auch mögen wir ebenso gut klagen, daß mehr von den Naturprodukten verloren geht, als wir verzehren; denn daß sie etwa andern Geschöpfen und Insekten dienen mögen – was kümmert dies den Menschen, für den alles andre gemacht ist? Aber wozu dienen ungebrauchte Talente? Etwa dazu, daß wenigstens diejenigen, welche den Spielraum zur Entwickelung der ihrigen gefunden haben, davon leben können. Beispiele erläutern am besten: Wir haben im lieben Vaterland sechs- bis siebentausend arbeitende Federn; dreißigtausend und mehrere wären gewiß fähig, die Feder zum Bücherschreiben[449] zu führen, wenn sie in die Lage gekommen wären, dieses Talent zu entwickeln. Könnte nun das Publikum die Arbeit von dreißigtausend Federn bezahlen, wie es sechstausend bezahlt? Und gesetzt, es wäre so gefällig, das gute Publikum: Wäre dies nicht eine stärkere Kontribution als die letzte französische?

28
[450]


Über den Kaiser Alexander den Ersten

NACH den ersten Empfindungen und Betrachtungen, welche die Todesnacht Kaiser Pauls des Ersten in mir erweckte, wandten sich mein Herz und Geist plötzlich auf seinen jungen blühenden Nachfolger, der unter solchen Umständen, in diesen Jahren, nach solchen für einen Erbprinzen seltnen Erfahrungen den Thron bestieg. Der denkende Mann, der alles Vorhergegangene beobachtet hatte, in diesem Augenblick vieles ahndete und dabei den Vorhang der Zukunft etwas zu heben suchte, konnte jetzt auf dieser Erde keinen anziehendern Gegenstand seiner Betrachtungen finden. Ich sah den in jugendlicher Schönheit blühenden Monarchen um neun Uhr aus seinen innern Zimmern heraustreten; der ganze Palast war voll noch stummfreudiger Menschen jedes Standes, jedes Ranges, die alle, noch erstaunt über die plötzliche Veränderung, ihre forschenden Blicke aufeinander und dann auf[201] ihn hefteten. Die Herzen gehörten ihm schon lange. Alles, was in mir lebte, dachte und empfand, schien mir jetzt in ihn eindringen zu wollen, um mit ihm zu fühlen und zu denken; ich würde nun etwas Anziehenderes schreiben, wenn ich alle Gedanken und Empfindungen wiederum so lebendig aus meinem Innersten hervorrufen könnte, wie sie in jenem merkwürdigen Augenblick mein Innerstes bewegten. Das Gefühl seiner Lage schien sich in sanftem Trauern, aber in tiefem Bewußtsein seines reinen, edlen Sinnes auf seinem schönen Gesichte auszudrücken. Die Menge, welcher er heute das erste und jetzt gewiß schmerzliche Opfer durch seine öffentliche Erscheinung bringen mußte und die sich um ihn her und hinter ihm wie ein Strom ergoß, schien in seinem Herzen eine schmerzliche Empfindung zu erwecken. Ich sah, daß er tief dachte und tief fühlte. Sein blondes Haar war in Unordnung und ohne Puder. Er hatte eine sehr schwere, sehr bedeutende Nacht gelebt; sein ganzes Äußere trug die Spuren davon in sich. Meine Betrachtungen wurden jetzt ernster in diesem Menschengewühle; wohin ich blickte, sah ich Gesichter bedeutender Leute, deren jedes mir eine Reihe neuer, sonderbarer Ideenverbindungen aufdrang. Hoffen, Furcht, Freude, Angst, Ungewißheit, Besorglichkeit, gutes Bewußtsein, unruhiges Gewissen drückten sich nach den verschiedenen Lagen und Verhältnissen auf den Gesichtern der bedeutenden Männer aus, die hier gedrängt zusammenstanden und von welchen jeder sein Schicksal dem kaiserlichen Jüngling abzufragen schien. Ich kannte seine ganze moralische Würde, seine Milde, seine Güte, seine Gerechtigkeitsliebe, seinen feinen, schonenden Sinn; aber die seltne Tugend, die allen diesen schönen Eigenschaften die Krone aufsetzt, die sie erst zu königlichen Tugenden macht, der feste Wille, die unerschütterliche Stärke in der Ausübung dieses moralischen Sinnes und der anerkannten Pflichten waren noch nicht erprobt. Erst jetzt trat er in die Schranken, diesen gefährlichen Kampf mit sich und den noch weit gefährlichern mit denen, welchen er einen Teil seiner Macht anvertrauen mußte und die jede seiner Leidenschaften jede seiner Schwächen so gern zu[202] benutzen suchen werden, zu beginnen. Ein Jüngling von dreiundzwanzig Jahren an der Spitze von vierzig Millionen! Ich sah diese vierzig Millionen in diesem Augenblick in Scharen von Geistern um ihn her versammelt, die ein plötzlicher Aufruf hervorgerufen und die nun alle voller zweifelhafter Erwartung ihres Loses auf den schönen Genius blickten, dem der Endausspruch anvertraut ward. Dieses Bild schwebte den ganzen Tag vor meinen Augen, und ich schlief ruhig unter den Fittichen dieses Genius ein.

Aber nun sind alle meine Besorgnisse verschwunden, und ich lebe in dem schönsten Genusse für einen Mann, dem das Schicksal der Menschen am Herzen liegt. Ich sehe diesen sanften, edlen Charakter sich täglich mehr und kraftvoller zu allen Pflichten seines so erhabenen als schweren Standes entwickeln. Er weiß, daß Festigkeit, aus wahren Grundsätzen entsprungen, die erste der Herrschertugenden ist, und er übt sie aus. Vor dem Entschluß untersucht, erwägt und prüft er jedes Geschäft mit Kälte, Klugheit, Weisheit und Gerechtigkeit, und jeder aus diesen reinen Quellen entsprungene Entschluß trägt das Gepräge seines edlen Geistes und Herzens, das die Tat und den Ausspruch ganz als die seinigen bezeichnet. Durch sein so feines als kluges Betragen verloschen ohne Geräusch und ohne merkliches Entgegenstreben alle Parteien, die sich unter schwachen, leidenschaftlichen, schnellwollenden und schnellausführenden Herrschern zum Nachteil des Regenten und des ihm anvertrauten Staats bilden, sich untereinander um Einfluß bekämpfen, stürzen und durch ihren rastlosen Kampf, ihr Emporsteigen und Fallen unaufhörlich die Schwäche des Regenten und den Mißbrauch der ihm listig entwandten Macht dem Reiche zur Schau ausstellen. Jeder große Beamte, der die Ehre hat, ihm zu nahen, ist nur dies in seinen Augen und nur nach dem Maße der Erfüllung seiner Pflicht von ihm geachtet. Sein Herz öffnet sich der Freundschaft; er liebt geprüfte Freunde, aber sein Verstand, seine Erfahrung, die ihm das Nachteilige, Gefährliche des Lieblingswesens für sich und seine Freunde zeigen, weisen jedem nur dieses reine Verhältnis als das einzige mögliche an, mit ihm vertraut zu leben. Nur er[203] regiert, und der spähende, auflauernde Hofmann weiß keinen zu nennen, der in Sachen des Staats und dadurch auf das Schicksal der Menschen einen leitenden Einfluß hätte. Bescheiden und liebreich im Umgang, wie kein junger Mann von seinen Jahren, scheint er nur Regent in Erfüllung seiner Pflichten während seines rastlosen Arbeitens zu sein. Hier zeigt er es, daß er sich für den ersten Staatsdiener des ihm anvertrauten Reichs ansieht, daß ihm die schwerste Bürde und die größte Verantwortung zugleich vor allen aufgelegt ist. Das, was der unwissende Haufen der Menschen bewundert und beneidet: der die Majestät umstrahlende Glanz, das Blendende und Ermüdende des Zeremoniells, der trügliche Schimmer einer nur von dieser unwissenden, sinnlichen Menge geträumten Glückseligkeit, die Zeichen der Unterwerfung, in denen sich die Getäuschten und Betrognen seines Standes so wohl gefallen, nur dieses allein fühlt sein Geist, der edlere Genüsse kennt, als eine Last; und nur der Gedanke, sein Stand mache ihm auch dieses Äußere zur notwendigen Pflicht, verhindert ihn, die darauf verwendeten Stunden als ganz verloren zu betrachten.


Um dem Staate Sicherheit und Unabhängigkeit von seinen Nachbarn – und dies auf ihre Kosten – zu verschaffen, mit entfernten Grenzen den alten wahren Kern des Reichs zu decken, haben seine Vorfahren seit einem Jahrhundert mehr nach außen als aufs Innere gewirkt. Die Geschichte spricht von ihren Eroberungen und von dem Ruhm ihrer Krieger; aber jetzt kann man von Rußland sagen: Es arbeitet an seiner Größe, nicht an seiner Schwäche, und ihm [Alexander] ist der Ruhm vorbehalten, die innern Staatskräfte ganz zu entwickeln. Rußland bedarf jetzt keines Eroberers mehr; es bedarf eines weisen Beschützers, Erhalters und Beförderers, eines Regenten für das Innere. Das, was er besitzt, wird ihm keiner rauben, und schwerlich wird man den Versuch wagen. Ein Regent, der auf die Entwickelung der innern Staatskräfte arbeitet, der die Staatsökonomie von sich selbst anfängt, für den Tand und Pracht keinen Reiz haben,[204] der sich hierin nicht einmal etwas versagt, weil es seines Geistes unwürdige Genüsse sind; ein Regent, der überzeugt ist, daß die große Summe, welche der arbeitende Teil seines Volks in so kleinen und für ebendiesen so bedeutenden Zahlen zur Erhaltung und Beschützung des Staats zusammenträgt, auch nur zur Erhaltung und Beschützung dieses Staats bestimmt sei, erwirbt eine Macht und ein Übergewicht gegen seine Nachbarn, die nie die glänzendsten Siege, welche die Schlachtfelder mit Leichen der Untertanen bedecken und die Staatskräfte erschöpfen, verleihen. Dies ist der feste Grund, auf den wahre Macht gebaut werden muß. Mochte der mazedonische Alexander immer nach Indien ziehen; dem unsern wird sich das innerste Heiligtum des Tempels der Menschheit öffnen, dessen Stufen er schon betreten hat. Ein Schmeichler würde sagen: »Er wird Rußlands Alexander sein, wenn man ihn nötigt, das Schwert zu ziehen!« Ich sage: »Er wird dann nur Rußlands Verteidiger sein!« Der strenge Philosoph kann nicht mehr fordern, als er bisher geleistet hat; er sieht, daß der junge, edle Mann seines erhabnen Standes würdig ist, daß er ihn ehrt und zu diesen kritischen Zeiten selbst über freche Äußerungen erhebt. Der Menschenkenner ist überzeugt, daß er auf dieser schweren Bahn als ein starker Mann vorwärtsschreiten wird; denn er ringt nach dem wahren Ruhm, er achtet den Menschen und setzt Wert auf die Achtung der Menschen. Er hat schon die erste der königlichen Tugenden so jung errungen: das Gute zu wollen und, nach Prüfung anerkannt, es voll Mut und Kraft zu vollziehen.

Ob Rußland die Tugenden seines Regenten recht zu erkennen und zu schätzen weiß? Europas kultivierte Völker richten jetzt ihre Blicke auf Rußlands glückliche Söhne, um über ihren politischen und moralischen Wert das Urteil zu sprechen. Ich hoffe, es soll zu ihrem Ruhm ausfallen.

Vor allen Herrschern Europas ist dem Regenten Rußlands das schwerste Los geworden; denn von allen Völkern Europas fielen auf das ihm anvertraute zuletzt die Strahlen jener Kultur, welche die Menschen zur reinen Moralität führt. Nur noch in seinem[205] Reiche waltet durchaus eine politische Verschiedenheit zwischen den Menschen, welche die Quelle vieler Übel und schwer zu besiegender Hindernisse ist; aber die jetzt Lebenden haben so wenig als ihre nächsten Voreltern diese Lage der Dinge geschaffen, und ihnen kann dadurch kein Vorwurf gemacht werden. Die Aufgeklärten des Landes bedauern diese Lage; und Weisheit, Menschlichkeit, mehr ausgebreitete Kultur werden auch hier das ihrige wirken und dieses durch so viele gute Eigenschaften und Tapferkeit merkwürdige Volk durch leise abgemessene Schritte einem.dem Menschen würdigern Verhältnisse zuführen.

Ich habe nie über einen Regenten ein Wort geschrieben, nie einem geschmeichelt. Werde ich es nun, nach meiner Erfahrung, in meinen Jahren, gegen den zu tun wagen, den ich für den Edelsten der jetzt Lebenden seines Standes halte? der meine stillste, innerste Glückseligkeit ausmacht? Und warum sollte ich nicht sagen: den ich innigst liebe?

Ich danke dem schönen Genius, der jetzt so menschlich gut über Rußland herrscht – oder besser und wahrer: der es zu edlen Zwecken leitet –, den reinsten Genuß meines Geistes im stillen Beschauen seines Wirkens; und er ist der einzige Regent, dessen Geschichtschreiber ich sein will, wenn ich so lange lebe, bis das Werk, das er begonnen, etwas vollendeter dasteht. Mein Glaube an seinen Geist und sein Herz ist so fest, daß ich überzeugt bin: Ich werde dann nur nötig haben, alles oben Gesagte durch eine Reihe schöner, weiser und zweckmäßiger Taten zu belegen.

29
[206]

KEIN Mensch hat noch – im bürgerlichen Leben wenigstens – seinen ganzen Verstand und seine ganze Vernunft gebraucht; und ich weiß nicht, ob einem derselben dieser Vorzug zu wünschen wäre. Ohne das Kissen der Sinnlichkeit lägen wir zwar auf einem sehr reinen, aber sehr kalten Marmor, und wahrscheinlich würden wir darauf erstarren.

30
[91]

ICH erröte jedesmal, wenn ich einen Menschen, indem er von seinesgleichen redet – es sei von einem Manne oder Weibe –, die Beiwörter »heilig« und »göttlich« gebrauchen höre. Meine eigne Tierheit erinnert mich sogleich an die Tierheit des Mannes oder Weibes, von welchem man redet, und meiner Einbildungskraft erscheint der schmutzige Zug aller dieser Tierheiten, die uns anhängen und durch welche wir bestehen, noch schmutziger, als er ist. Vom Menschen kann man nichts Bessers sagen, als daß er ein Mensch im rechten und natürlich guten Sinn des Worts ist. Ich fühle so gut als ein andrer, daß man ein biedrer, wackrer, mutiger, auch zuzeiten ein edler Mann sein kann; aber »heilig« und »göttlich«? Was für Worte! Und wie leer in Beziehung auf das Menschentier! Dieser Schnickschnack ist seit einigen Zeiten in Deutschland sehr gebräuchlich. Beweist es etwa, daß wir uns dem Gegenteil mehr nahen, daß wir dieser Schminke bedürfen, unsre durchschimmernde Immoralität mehr zu bedecken? Oder ist es Ziererei, die doch einem sonst ernsten Volke am wenigsten kleidet? Die Philosophen sprechen uns sogar von Heiligkeit des Willens und der Menschenrechte vor; sie beweisen dieses alles a priori. Die Natur und das bürgerliche Wesen gehen indessen ihren gewöhnlichen Gang fort, ohne welchen alles Spekulieren der Philosophen ein Ende hätte. Ich möchte ebenso gern einen Bären, der auf zwei Beinen nach dem Dudelsack einher sich spreizt, einen Vestris nennen als einen Menschen »heilig«, »göttlich«,[85] er sei auch, wer er wolle. Diese Wörter sind aber nur Phrasen und Schriftzeichen, die das Publikum dem Buchhändler und der Buchhändler dem Autor bezahlt.

31


SELBST diejenigen, die unsre Tugend »göttlich« nennen, sagen etwas Einfältiges. Recht menschlich muß die Tugend sein, wenn sie Menschen nutzen soll. Die »göttlich« Tugendhaften lassen gewöhnlich die Welt gehen, wie sie geht, seufzen und verhalten sich ganz ruhig in ihrem »göttlichen« Gefühl. Sie zahlen ihre Schuld an andre und die Welt mit Wohlgefallen an sich selbst ab.

32
[86]

»SCHÖNE SEELE« – ein Weib, das von Vapeurs gewisser Art geplagt wird und keinen Appetit hat; ein Dichterling ohne Einbildungskraft, in deren leerem Raume Phantasmata statt Bilder und Farben schwimmen und schweben, dem es an wahrer physischer und moralischer Kraft, etwas zu erschaffen, gebricht! Sieht man zwei solcher Wesen sich in wechselseitiger Entzückung aneinander reiben, so glaubt man einen Frosch zu sehen, der seiner Gattin die Eier am Paternoster (wie die Naturkündiger das Gewächs nennen) mit allem Eifer des Instinkts herauszieht, ob ihm gleich ein Spallanzani die befruchtenden Teile herausgeschnitten hat. Die »schönen Seelen« sind auch vorzüglich in Deutschland – nein, in deutschen Büchern! – zu Hause. Ich wünschte wackre, tätige, kräftige, mutige Seelen zu sehen. Für diese arbeiten aber *** und mehrere nicht. Die Tränen, welche uns diese und besonders der erste krugweis dahingießt, gleichen den unecht silbernen Tränen, die auf den Leichentüchern der Großen in Flittern schimmern.

33
[479]

ALS Samuel sein jakobinisch-maratisches Gemälde von der königlichen Regierung mit so grellen Farben aufstellte, sprach doch wohl der Priester aus ihm, der durch Sauls Salbung die weltliche Herrschaft über die Juden verlor! Warum vergaß ihn der Abt Barruel in seiner berüchtigten Liste der Jakobiner? Weil kein Priester den andern einer Sünde zeiht. Darum stehen sie auch so ungern unter weltlichem Gericht. Doch kenne ich einen Fall, wo keiner des andern schont: Wenn nämlich die Beichte bezahlt wird wie in einigen protestantischen Städten und besonders bei reichen Gemeinden. Man müßte dieses abzuschaffen suchen; wäre es auch nur darum, den esprit du corps dieses Standes rein zu erhalten.

34


KÄME Christus heute zur Welt und predigte seine Religion in dem reinen Geist und Sinn, wie er sie einst gepredigt hat, in Rom, die Inquisition würde ihn schnell als Ketzer ergreifen, ihn in die Engelsburg festsetzen, wenn sie nicht, um dem Greuel schneller zuvorzukommen, etwas Ärgeres täte. In protestantischen Ländern könnte er weder Pfarrer noch Schulmeister werden, denn schwerlich würde er die Symbolischen Bücher unterschreiben wollen. Und wie sehr würde er sich wundern, wenn man ihm sagte, er müßte erst nach Halle ziehen, seine Religion zu studieren, wenn er sie predigen oder lehren wollte.

35
[384]

JEDER schimpft auf die Eigenliebe des andern als einen Feind aller uneigennützigen und edlen Handlungen, und jeder weist der seinigen den ersten Platz in seinem Innern an. Da sie also der Hauptgötze eines jeden wird, so wandelt auch jeden der Pfaffengeist an: Alle andern sollen nur den seinigen allein anerkennen und ihn als Priester vorzüglich ehren.

36
[57]

DIE Metaphysiker rechnen die Einbildungskraft zu den niedern Seelenkräften, um sie von den reinern, edlern, geistigern zu unterscheiden. Ich habe nichts dagegen; nur ist es sonderbar, daß sich diese ohne jene ihres Daseins gar nicht bewußt wären.

37
[95]

MAN sagt gewöhnlich, der Umgang mit den Menschen schleife den Charakter ab. Spräche man nicht bestimmter, wenn man sagte: »Die Furcht, unserm Interesse zu schaden, macht uns so behutsam, daß wir uns auf das sorgfältigste hüten, etwas Rauhes, Starkes, Wahres, Kühnes zu sagen und zu tun, daß wir fein geschmeidig, nachgebend werden, nicht um andern [nicht] zu mißfallen und sie zu schonen, sondern weil uns der allergeliebteste Freund näher an dem Herzen liegt?« Nicht die Welt, der Egoismus um der Vorteile in der Welt ist der Schleifstein, an dem sich die rauhen Ecken der meisten abreiben, weil sich sonst die scharfe Seite gegen sie selbst wenden würde.

38
[57]

MAN gewöhnt sich in der Gesellschaft an alles; selbst an das Lächerlichste, Erbärmlichste, Plattste des Geistes, an Mangel und Mißbrauch des Verstandes, an die häßlichsten Gesichter, die widrigsten Fehler des Körpers. Man bemerkt diese Gebrechen am Ende kaum mehr; aber noch nie hat man sich an die Energie eines Mannes gewöhnt oder sie erträglich gefunden, der sich in Taten und Worten immer als ein Mann zeigt, der durch Tun und Betragen die Schwäche, Schlechtigkeit, Erbärmlichkeit und Dummheit der so Gebrechlichen in ein zu grelles Licht setzt.

39


DIE Menschen verzeihen einem wohl noch, gerade und ehrlich zu sein; aber sie fordern tiefes Stillschweigen darüber von dem, der es ist. Auf Kosten andrer nur erlauben sie ihm, sich frei und laut auszudrücken.

40
[13]

ES gibt Länder, wo es Herkommen ist, den Staat zu bestehlen. Man erlaubt es wohl einem, ein Dummkopf oder ehrlicher Mann zu bleiben; er hüte sich aber nur, daß dieses Verletzen des Herkommens nicht allzu ruchbar werde. Bei dem Rückzuge der ersten aus dem Dienste sieht man recht, daß sie im Geiste dieses Herkommens gehandelt haben; denn seine Verehrer lassen keinen dieser unbelohnt abtreten – aber weh' den andern! Diesem wird als Warnungszeichen einer solchen Tugend ein schöner – aber schlecht nährender! – Lorbeerzweig zugeteilt, den er, wenn es ihm beliebt, sogar in seiner einsamen Schlafkammer tragen darf (in der Einbildung nämlich!).

41


WER einen Ziegenbock melken will, gehe nach Europas, Asiens usw. Hauptstädten und predige die Tugend. Gleichwohl finden sich in jeder derselben rechtschaffene und tugendhafte Leute: ein Beweis, daß etwas in dem Menschen liegt, welches weder Beispiele, Gewohnheit noch Erziehung durchaus ausrotten können. Zugleich auch ein Beweis, wie wenig wahrhafter Tugend dazu gehört, die Menschen in Gesellschaft zusammenzuhalten. Not, Bedürfnis und Eigenschaften ganz andrer Art wirken dieses Wunder. Das wenige echte Gute ist auch da, aber wie der Probierstein in der Werkstätte des Goldschmieds: Man braucht ihn zur Prüfung, und wenn man den Wert des Goldes erkannt hat,[221] legt man ihn beiseite, arbeitet mit schlechterm wie mit besserm Golde – Gefäße kommen immer hervor. Die Regenten müssen es ebenso mit den Menschen machen; nur daß hier der echte Strich von dem falschen schwer zu unterscheiden ist.

42
[222]

EIN Mann auf einem wichtigen Posten, der gern auf seinen Grundsätzen und bei seinen Pflichten verbleiben, der seine Untergebenen ebenso streng zur Erfüllung ihrer Pflichten anhalten will, sollte so wenig als möglich mit Hofleuten und Weibern umgehen. In ihrer Gesellschaft nimmt man, um nicht immer zu mißfallen, nach und nach soviel Schonendes und Schwaches an, daß man ihnen in ihrer Handlungsart gleicht, ehe man sich's versieht. Die Zufriedenheit dieser mit ihm macht einem solchen Manne den Prozeß, ehe noch ein Kläger auftritt.

43


WER an einem bedeutenden Posten steht und seiner würdig handeln will, sollte sich des Tages mehr als einmal sagen: »Wer in den Wald gehen will, muß sich nicht vor Bären und Wölfen fürchten. Geschmeidigkeit und Furcht machen noch geschwinder zum Schurken als Habsucht.« Die letzte berechnet doch noch; und ein Mann, der von ihr besessen ist, hat es nur mit einem Schurken – mit sich selbst – zu tun.

44
[329]

DIE Weiber kann man nie zu sich heraufziehen, am wenigsten, wenn von großen, wichtigen Dingen, besonders von Gefahren und Aufopferungen, die Rede ist. Ich nehme den Fall aus, wenn sie in den Mann verliebt sind, der so etwas fordert; aber nicht immer, wenn sie ihn nur lieben. Ihr ganzes Bestreben geht vielmehr dahin, die Männer zu sich herunterzuziehen und sie mit ihren eignen Liebenswürdigkeiten auszustatten. Der, den sie so ausgestattet haben, der Liebenswürdige in ihrem Sinne, ist selten ernst und streng mit sich und andern Männern.

45
[330]

EIN französischer Schriftsteller hat sehr gut gesagt: »Ein Mensch ohne Charakter ist ein Ding!« Da aber die Leute, welche den Geschäften des Staats vorstehen, gefunden haben, daß es sich leichter mit Sachen, Dingen oder Werkzeugen arbeiten lasse als mit einem Menschen von Charakter – das heißt: von bestimmtem Willen, von geordneter Neigung und festen Grundsätzen –, so gebrauchen sie die Menschen lieber und vorteilhafter als Dinge. Und da die Menschen von Charakter von ihrer Seite auch gefunden haben, daß man mit den daraus fließenden schönlautenden Eigenschaften verhungern könne, so verbergen sie ihren Charakter solange, bis er sich von selbst verliert, und lassen sich, um zu essen und weiterzukommen, als Dinge gebrauchen.

46


ES ist unmöglich, den Menschen nach einer bestimmten moralischen Form zu bilden und ihn in dieser Bildung zu erhalten, wenn er nur etwas von seinen wenigen natürlichen Rechten beibehalten soll. Dem Despoten mag es durch Furcht im Äußern bis auf einen gewissen Punkt gelingen. Hier erhebt sich aber auch das Unnatürliche gegeneinander so hoch, bis es zusammenstürzt. Daher treffen alle Klagen, die man über die Menschen insgesamt anstimmt, weniger sie als das Zusammensein in der Gesellschaft und die Verhältnisse, die notwendig daraus entspringen müssen, wenn das Ding fortgehen soll. So wenig man nun dem Tier seine[109] Tierheit zum Vorwurf machen kann, ebensowenig kann man dem Menschen das zum Vorwurf machen, was sich aus ihm in der Gesellschaft entwickelt.

47
[110]

JEDERMANN haßt die Heuchelei, und mit Recht; gleichwohl muß jeder mehr oder weniger eine Maske tragen. Diejenigen, für welche sie die natürliche Bekleidung geworden ist, hassen sie am meisten, weil sie sich nicht gern mit gleicher falscher Münze wollen bezahlen lassen.

Ich möchte indessen wohl einige Zeit in einer Stadt leben, wo man übereingekommen wäre, jeder sollte und müßte so gerade, offen im Denken, Wünschen, Reden und Handeln verfahren, als[13] er sich gestimmt fühlte. Ich wette, man würde sich bald gezwungen sehen, die so verhaßte Heuchelei (wahrscheinlich unter einem feinern Namen) von der Kanzel dem Volke als Pflicht zu predigen. Die Erzieher tun dieses täglich, ohne es vielleicht zu wissen, wenigstens ohne es zu gestehen, und bereiten dadurch ihre Zöglinge zur Gesellschaft vor. Man nennt dieses höflicher:dem jungen Menschen einen Firnis des Anstands, des Gefallens geben und ihm den rauhen Weg, der zum Glück führt, ebnen. Gäbe es einen Philosophen, der seinen Schüler unbedingt lehrte, gerade, offen im Handeln zu sein, das Schlechte nicht allein zu hassen und zu vermeiden, sondern auch laut zu mißbilligen, die Wahrheit nicht für sich zu behalten, sondern sie auch ohne allen Vorbehalt mitzuteilen – so möchte ich die Antwort seines Schülers hören, wenn der Philosoph ihn eine Zeitlang nach seinem Eintritt in die Welt fragte, wie er gefahren, was er gefunden, ob er ihm für seine Lehren dankbar sei. Dafür empfiehlt man gewöhnlich feines, schonendes Betragen, Weltklugheit; und das Evangelium selbst sagt ja: »Seid klug wie die Schlangen!«

Und ebendiese Klugheit, dieser Firnis, der, so nötig er auch sein mag, so allgemein sie auch nur unter diesem feinern Namen einherschleicht, sich gar Kultur nennen läßt, ist doch nichts anders als die feinere Maske der Heuchelei, die nicht einmal für Verkappung gehalten wird. Verzeiht man sich nicht alle Heuchelei, sobald sie wie Weltklugheit aussieht? Nennt man den nicht einen rohen, unerzognen Menschen, der sich ohne diese Schminke zeigt, er mag es auch noch so ehrlich mit uns meinen?

48


CHARAKTER darf beinahe niemand zeigen als ein armer biedrer Teufel, der nicht mit uns teilen will, der keinen Anspruch auf das Glück macht, dem wir nachjagen; auch ein dichterischer Mensch, dem das Land der Ideale und schlechte Kost g[e]nügen. Solche Leute können sogar Klügern zum Zeitvertreib dienen, und man erlaubt ihnen das, solange sie bescheiden und bloß mit ihrer Narrheit zufrieden sind.

49
[14]

MAN findet nirgends einen biedern, rechtschaffenen Mann ohne ein Merkzeichen, das ihm Leute von der Gegenseite angehängt haben. Dieses Merkzeichen hängen sie ihm an, damit sich Leute ihresgleichen an dem Manne nicht irren. So bindet der kluge Hirt dem stößigen Ochsen Heu an die Hörner; und jene klugen Leute rufen durch das Merkzeichen ihren Gesellen zu: »Trau ihm nicht, er ist ein Pedant! Ein Reformator! Ein Be-ekler! Ein moralischer Schwärmer!« Freilich ist die Tugend immer etwas trotzig; sie nimmt durch den ewigen Kampf, den immer wachsenden Widerstand, das Gefühl ihres Werts etwas Kühnes, ich möchte sagen: die Mienen und Gebärden eines Soldaten an, der sich in Scharmützeln und Schlachten immer brav gehalten hat. Ihr erlaubt dem rüstigen Rosse zu wiehern, warum nicht dem Manne, der doch weiter nichts gegen euch vermag? Bedenkt nur, daß, wenn solche Leute gar nicht wären, euch eure Heuchelei und Klugheit gegeneinander zu nichts nützten! Und damit ihr euch untereinander überlisten könnt, müßt ihr doch nach dem Äußern jener, ihren Ausdrücken, ihrem Ton, ihrem Handeln die Maske zusammensetzen, die euch so gut forthilft. Ohne sie dienet nur ihr euch zum Muster, und ihr trüget dann wohl eine scheußliche Fratze, aber wahrlich keine gefällige Maske.

50
[15]

MAN sagt sehr weise und mit vielem Rechte: »Der, welcher sein Glück machen will, muß früh aufstehen!« Es ist aber nicht genug, man muß ihm auch noch folgende Regeln mitgeben: »Du mußt ertragen können wie ein Esel, unermüdet sein wie ein Postpferd, glatt wie ein Aal; mußt allem entsagen, was dich zum Menschen macht, mußt gar kein Bedürfnis kennen; für dich muß es weder Scham noch Schande geben! Nun geh' hin! Das Praktische wirst du in den Vorzimmern der Großen und in ihrer Gesellschaft lernen. Wenn du dann so einige Jahre auf deine Bildung verwandt hast, so fällt dir wohl etwas zu.«

Man sollte sagen, gewisse Staatsleute hätten diesen langwährenden Bildungsplan für ihre Untergebnen geflissentlich ausgedacht, um sie in ihrem Sinn zu erziehen oder die sich Hinzudrängenden zu proben, ob sie fähig wären, den wahren Geist des Geschäft[s]lebens zu fassen. Ihr scharfes Aug' entdeckt schnell den zur Bildung Untauglichen, und an dem verlieren sie gewiß keine Zeit; er wird ebensobald einen Toten aus dem Grabe herausklopfen als das Glück aus dem Kabinett eines solchen Staatsmannes. Aber sagen wird er es ihm nicht, das muß er selbst ausfinden.

51
[179]

ES ist lustig und zugleich traurig anzusehen, wie sich die Hofleute und Staatsbeamten beim Antritt einer neuen Regierung zerarbeiten, um dem Fürsten, der Charakter und Willen zeigt, diese ihnen lästigen, ihm nach ihrer Meinung ganz überflüssigen Eigenschaften geschwind zu nehmen. Ein der Erde drohender Komet kann auf das Volk nicht mehr Eindruck machen als eine solche Erscheinung auf diese Herren. Sie scheinen steif und fest zu glauben, daß jeder Fürst, um es recht nach ihrem Sinn zu sein, moralisch kastriert sein müsse. Die Verschneidung nehmen sie, wenn sie können, so früh als möglich über sich und sind des Lohns gewiß.

52
[197]

IN England spricht man jetzt nur vom Handel; gewisse andre Wörter, die man dort wohl ehemals aussprechen hörte, sind ganz verschollen. Ich erwarte, daß man das Handelswesen dort bald als die einzige Glücks- und Seligkeitslehre auf den Kanzeln predigen wird. Wenn sie das Moralsystem ihres Landsmanns Mandeville beweisen wollen, so sind sie gewiß auf dem rechten Wege.

53
[276]

DIE meisten Gemütsbewegungen der fein erzogenen Weiber, besonders der Romanenleserinnen und »schönen Seelen« – ihre Liebe, ihre Andacht, ihr Lachen, ihr Zorn, ihre Freude, ihre Betrübnis – sind hysterisch. Was können sie dafür, daß sie ein Organ haben, das eine materielle Seele zu sein scheint, die sich in alles mischt?

54
[479]

ALLE Systeme der Moral – von Sokrates, Plato, Epikur, Seneca usw. bis zu Mandeville, Lamettrie und Helvetius – schildern eine wahre Seite des Menschen; auch alle künftige[n] Systemenschöpfer, sie mögen den Menschen noch erhabener oder niedriger als alle Verstorbenen und Lebenden vorstellen, werden eine richtige Seite von ihm treffen. Ein so sonderbares Wesen ist der Mensch in seinem praktischen Tun. Die moralische Welt berührt sich in den entferntesten Punkten, in dem Allerentgegengesetztesten und stellt dem beobachtenden Geist ein Ganzes dar, dessen wilde, unharmonische, durch- und gegeneinanderwirkende Bewegungen und Stöße keinem erlauben, einen Ausspruch über dieses Ganze zu tun, der nicht durchs einzelne widerlegt würde. Der Mann, der dieses wilde Gewühl, das an Verwirrung und Kampf der ungleichartigen Materie das düstre Bild des Chaos der Dichter weit übertrifft, nach den Wirkungen der Erscheinungen auf sein Herz durchs Gefühl beurteilen will, findet sich, eh' er sich's versieht, auf eine Klippe getrieben, wo ihn ein Abgrund erwartet, in den ich nicht mehr blicken mag. Die Vernunft setzt einen Kanon fest und sagt: »So soll es sein! So muß es sein!«, hängt dann die Regeln und Maximen hintenan und glaubt, ihr Werk getan zu haben..Kants eherner, rhodischer Koloß von Imperativ – oder sein ungeheurer, über der moralischen Welt an einem Haar hängend, schwebender Probierstein – oder auch der seiner Sonne entwichene, erstarrte, unfruchtbare Trabant, der kalt[45] und ohne Rolle am Himmel hängt, tut ebendasselbe. Indessen geht diese sogenannte moralische Welt in allen diesen Irrgängen und Durchkreuzungen immer nach dem Alten fort und setzt niemanden in Erstaunen als den Beobachter. Die handelnden Personen denken nur an ihre Rollen, achten des Zuschauers nicht und kümmern sich während des Spiels nicht ein mal um den Verfasser, der ihnen das Stück zum Abspielen so zugeschnitten hat. Die Hauptintrige des Stücks ist übrigens sehr einfach, so verwirrt es auch aussieht, und jedem Spielenden durchaus bekannt;

denn jeder spielt im rechten Sinn des Stücks, das heißt: Er arbeitet, die Katastrophe der Komödie oder Tragödie zu seinem Vorteil zu wenden, unbekümmert, wie es den Mitspielenden ergehe. Und welches ist nun das Zauberwort, der Talisman, der die in den Ohren des erhabenen Moralisten gellende und schnarrende Disharmonie gleichwohl zu einem ganz erträglichen, einzig möglichen Einklang stimmt, den alle kennen, der durch und auf alle wirkt und den doch keiner während der Handlung laut ausspricht? Man hat dieses Zauberwort oder diesen Talisman in allen alten und neuen Sprachen ausgesprochen und Helvetius im klärsten Französischen und im Geiste seiner Zeit; aber da diese Art von Moralisten dadurch eine Seite des Menschen ohne Schonung aufgedeckt haben, welche er so ungern wie alle Wahrheiten sieht, so ist ihnen ebender Dank geworden, den wir dem gewähren, der unser Geheimnis verrät. Was ich ihnen zum Vorwurf mache, ist nicht diese Wahrheit, sondern: daß sie nicht gefühlt haben, daß ebendieses eine höhere Moralität beweist, daß über diesem düstern, empörenden Gewühl reine, lichte Gestirne schweben, nach welchen die von diesem Talisman getäuschten Wanderer zuzeiten aufblicken müssen, wenn sie sich nicht ganz auf ihrem gefährlichen Wege verirren und in dem Morast, den sie als festen Boden betreten haben, untergehen wollen. Die Moralisten ihrer Art hätten nicht vergessen sollen, daß alle diese widrigen Erscheinungen, diese Abartungen ebendas Wahrhafte einer höhern Moralität, die immer den Menschen zu sich zurückzuziehen strebt, aufs strengste und praktisch beweisen. Hätte nicht ohne sie die[46] Ausartung immer zunehmen müssen? Erkennen wir nicht durch die alte und neue Geschichte, durch die ganz neuen Ereignisse, die wir alle erlebt haben, daß, wenn diese Ausartung zu einer drohenden Krisis gestiegen ist, der verirrte Haufe, um sich zu retten, wieder zu jenen leitenden Gestirnen aufblickt? Ein Moralist dieser Art wird freilich mit seinem Talisman hervortreten und uns zurufen: »Nur er wirkt dieses Wunder!« Freilich ist es ein Wunder, und ein recht großes Wunder, um ein leeres Wort zu gebrauchen, daß ebendieser Talisman zur moralischen Ordnung zurückführen muß; aber ich zweifle, daß dieser Talisman das Wunder in diesem Sinne zu bewirken fähig wäre, so kräftig er auch ist, wenn er nicht, gebildet von einem reinern Genius, mit einem edlern Urstoff ursprünglich gemischt, in die Brust eines jeden gelegt worden wäre. Er erlaubt den Gebrauch desselben einem jeden nach seinen Kräften und konnte darum den Mißbrauch nicht hindern; aber keiner kann den seinigen so ganz verdunkeln, um nicht an dem besser erhaltenen Lichte des andern zu entdecken, daß der seinige wirklich verfinstert ist. Beweist es nicht seine Überzeugung von der Verfälschung seines Talismans, daß er, um im Verkehr des Lebens nicht ganz durchzufallen, das Licht des echten Talismans durch Firnis und andre Kunststücke an dem seinigen nachzupfuschen suchen muß? Ein elender, schlechter Mensch – ein Heuchler – kann sich von allen Vorurteilen losmachen; aber das einzige wird ihm bleiben und ihn zwingen, sich zuzeiten zu gestehen – hätte er es auch so fein angelegt, daß alle andre[n] schwiegen –, er sei ein elender, schlechter Kerl. Würden die Menschen, die sich von so vielen Vorurteilen losgemacht haben, sich nicht auch von diesem zu entfesseln suchen, wenn der Talisman bloß aus dem groben, sinnlichen Stoff gebildet wäre?

55
[47]

KEINEM Sterblichen ist ein reinerer Genuß, eine höhere, von andern unabhängigere Glückseligkeit zuteil geworden als dem wahren Dichter – ich rede von Dichtern wie Homer, Ariosto, Tasso, Shakespeare, Milton usw. Wenn sie sich nach dem Gefühl ihrer moralischen Kräfte und der Macht ihres Genies eines Gegenstandes bemächtigt haben, so ist die ganze Schöpfung ihres Werks in ihrer Gewalt. Nichts kann diese Schöpfung hindern; sie ist über alles Fremde, über den Zufall selbst erhaben. Bilder, Gedanken, Ausdruck springen in den seligen Augenblicken der Begeisterung vollendet aus ihrer Seele, und die einzige angenehme Beängstigung, die sie anwandelt, ist: es möchte etwas von diesem zuströmenden Reichtum an Bildern und Gedanken verschwinden oder verlöschen, weil in diesen Augenblicken das Mechanische der Darstellung der voreilenden schöpferischen Dichterkraft nicht nachzueilen vermag. Und welch ein Genuß erwartet ihn beim Überblick seiner Schöpfung nach der Vollendung? Wer von allen Sterblichen – Held oder Staatsmann – kann von seiner Tat und Handlung sagen, sie gehöre ihm so zu, sei so unbedingt nur seines Geistes Werk, als es der Dichter sagen kann?

Setze man zu allem Obigen das, was dazu gehört und ohne welches es nicht zu denken ist: eine hohe moralische Stimmung; einen mit edlen, großen Gedanken beschäftigten Geist; eine durch den Charakter bestimmte kräftige Denkungsart; einfache Sitten, Gefallen an einer beschränkten Lebensweise; völlige Unkenntnis der Glücksjägerei, der schleichenden Mörderin des Besten im Menschen – und ich habe genug gesagt. Nein! Ich habe[450] Klopstocks Genüsse und Leben beschrieben, ohne es zu ahnden. Ein andrer setze das Jahr seiner Geburt hinzu.

56
[451]

DER deutsche gedruckte Unsinn unterscheidet sich durch seine Originalität von allem ausländischen Unsinn; denn er grenzt durch eine krampfhafte oder, wie es seine reichen Schöpfer lieber hören, poetische Verzerrung mehr noch an Wahnsinn als Dummheit, ob er gleich mit letzterer reichlich ausgeschmückt ist. Ich kenne auch wohl englischen und französischen Unsinn; aber er ist doch immer von einer viel bescheidnern, viel prosaischern Stimmung und läßt sich meistens mit der Dummheit genügen. Das letzte Dezennium des vorigen Jahrhunderts hat besonders viele dieser originellen Verzuckungen hervorgebracht, und nach der Fülle des Reichtums ihrer Schöpfer zu urteilen, werden sie uns auch hoffentlich im neuangetretnen daran nicht Mangel leiden lassen. Allein die Herren müssen auch bedenken, daß sie davon leben wollen, daß das Publikum es bezahlen soll und daß man im Eifer für eine nützliche Sache zuviel tun kann.

57
[490]

MAN möchte an manchen Philosophen, der mit einem Werke über die Frage, wie der Mensch denkt, auftritt, die Frage tun, ob er auch wirklich bei Untersuchung der schweren Aufgabe gedacht habe.

58
[406]

MAN hört jetzt jeden Augenblick, wenn von dichterischen Werken die Rede ist, von »Kunstwerk« reden und macht dadurch den zum mechanischen Künstler, der es am wenigsten ist, sein und scheinen soll. Doch es soll vielleicht nur dazu dienen, das ästhetische deutsche Geschwätz mit einigen neuen Phrasen aufzuschwellen. Mich deucht, bei der Lesung eines echten dichterischen Werks müßte man so wenig an Kunst denken, als man an sie bei der Betrachtung der blühenden Natur denkt, und der Geist des dichterischen Schöpfers müßte uns während des Genusses ebenso unerklärbar scheinen als die Kräfte der schaffenden Natur,[498] die ihren Reichtum vor uns hinschüttet. Die Frage: »Woher nahm der Dichter seinen Stoff, die Bilder, die Gedanken, Empfindungen? Wie kam er auf diese Form?« und die Frage: »Durch was für Mittel schmückte die Natur unsre Erde? Wie kam sie auf diese und jene harmonische Ordnung?« sind gleich schwer zu beantworten.

Sie sagen, durch die Kunst beweise der Dichter, daß er Gewalt über seinen Stoff habe, daß er ordnender Herr seiner Schöpfung sei. Wichtige Entdeckung! Wer hat je geglaubt, daß es zur Begeisterung gehöre, von Sinnen zu sein? Das Werk, der Geist des Werks stellt das Maß der moralischen, dichterischen Kraft seines Urhebers auf, und eh' sich diese ergießt, hat sie sich die bequemste Form und den zum Gegenstande schicklichen Ton schon gewählt. Wer dann mit dem Maße und der Richtschnur in der Hand arbeitet oder beurteilt, verfertigt oder beurteilt ein Werk der Konvention und kein Dichterwerk. Goethes »Iphigenie« und »Tasso«, Lessings »Nathan« sind die vollendetsten Dichterwerke neuerer Zeit; und Goethe fühlte gewiß, ohne an Kunstwerk zu denken, daß die Form des »Götz von Berlichingen« zur Entwicklung der gegenwärtigen, mit dem Stoff harmonierenden Stimmung nicht die schickliche wäre. Und gleichwohl ist »Götz von Berlichingen« ein ebenso großes Kunstwerk! Und dann Shakespeares, Dantes Kunstwerke! Aber die Herren, die so viel von »Kunstwerk« in Journalen und Schriften reden, möchten uns gar zu gern an eine gewisse Nüchternheit des Geistes gewöhnen; sie haben freilich ihren Stoff in ihrer Gewalt, denn sie tragen ihn wie Mosaik zusammen, und da tut die schulgerechte Zeichnung das meiste. Die Täuschung ist auch darnach.

59
[499]

EINE große Fürstin sagte zu einem Ausländer, der sich über die Unreinlichkeit des gemeinen Volks ihres Reiches beklagte: »Warum wollen Sie, daß sie für einen Leib Sorge tragen sollen, der ihnen nicht zugehört?« Ein Dolchstich mitten durch das Herz des Genius der Menschheit, wenn ein solches Wesen existiert! Existierte es aber je, so muß es längst an ganz andern Dolchstichen Todes verblichen sein, als an diesem epigrammatischen.

60


EINE andere große Fürstin trank einst bei guter Laune folgende moralische Gesundheit ihren Gästen zu: »Verderben allen Dieben und Schurken meines Reichs!« – »Pst!« rief ihr ein kluger Hofmann zu, »Eure Majestät trinken die Pest über Ihr Reich.« Und in welchem Lande wäre leider dieses nicht die gegründete Erinnerung?

61


ICH habe in einem deutschen Buche, das ich durchblätterte, gelesen, ein Fürst, dessen Name und Reich mir entfallen ist, habe nach der schändlichen Hinrichtung Ludwigs XVI. zu einem andern Fürsten gesagt: »Herr Vetter, was wird aus uns armen*** werden, wenn man so mit Königen verfährt?« Er hätte ebensogut sagen können: »Herr Vetter, es ist hohe Zeit, daß wir unser Geschäft vernünftiger betreiben, uns zusammennehmen, unserem[238] Volk mehr trauen und uns untereinander wie deutsche Männer verbinden«; aber man wollte erst versuchen, ob man das Wesen so forttreiben könnte, wie man bisher getan.

62
[239]

LUTHER war wirklich ein kühner und durch seinen energischen Charakter oft ein großer Mann. Man macht ihm Verschiedenes zum Vorwurf, auf das sich sehr leicht antworten ließe. So sagt man zum Beispiel, der Reformationsgeist sei ihm nur nach und nach gekommen, und er habe bei dem ersten Schritt weder an die Folgen gedacht noch sie erwartet. Schrieb' ich im Priestergeist, so würde ich sagen: Hier eben wirkte die Vorsehung, welche immer die rechten Mittel für und durch ihr schwaches Werkzeug wählt. Hätte Luther das päpstliche Gebäude, das ganz Europa drückte, auf einmal angegriffen, so wär' es ihm wahrscheinlich wie allen denen ergangen, die nicht ein Reformationsgeist, sondern eine Reformationswut überfiel. Diese wollten den päpstlichen Stuhl unter dem *** seiner Heiligkeit nicht nach und nach wegrücken, sondern ihn unter ihm zerschlagen. Dazu stand er zu fest. Die ersten leisen Laute Luthers waren recht dazu gestimmt, das Volk an stärkere zu gewöhnen, den noch sichern Feind zu dummen Antworten und schwächlichen Maßregeln zu verleiten. Hätte er zu laut Lärmen geblasen, so wäre das ganze feindliche Heer aus seinem Schlummer erwacht und er geschlagen worden, bevor er Streiter und Verteidiger um sich hätte sammeln können. Um Luthers Größe darzutun, ist es gleichgültig, wie er es angefangen; das Entscheidende liegt mehr darin, wie er sein Werk durchgesetzt hat; es erhob sich und steht noch. Man wirft ihm ferner vor, der Neid auf die Dominikaner,[245] die sich zum Nachteil seines Ordens der Pacht des Ablasses bemächtigt hätten, wäre Ursache an seinen ersten Schritten gegen den Papst gewesen. Verhielte es sich so und hätte Luther wirklich diesen esprit du corps gehabt, so beweist es doch nur, daß er an seiner Stelle war, was er sein mußte: Mönch als Mönch, Reformator als Reformator. Handelte er hier als Mönch, so schlug er als Reformator die Kardinalswürde aus, wofür tausend und tausende seiner Brüder die ganze Christenheit hingegeben hätten, auch wohl noch heute hingäben. Überhaupt: Je menschlicher die Dinge und selbst die größten zugehen, je näher treten sie uns, je anziehender werden sie für den denkenden Mann, der die Welt, ihren Gang kennt und der den täuschenden Dunst von der Geschichte merkwürdiger Menschen zu verjagen gewohnt ist. Nur Phantasten laufen den glänzenden Irrwischen nach und suchen und finden immer bei großen Wirkungen große, reine, erhabene, übermenschliche Bewegursachen. Die Leidenschaften, das Interesse, die Furcht, der Neid, der Haß, die Rachsucht, die Eitelkeit, welche die Menschen von- und gegeneinander stoßen, diese bringen die Dinge hervor, die oft in der Geschichte in Bewunderung und Erstaunen setzen. Die meisten Geschichtschreiber gehen gern im Feierkleid einher, und es gibt Menschen, die, weil sie wirklich klein sind, gern alle Toten und Lebenden groß sehen wollen; sie glauben dann ihre Rollen und ihren Ruhm mit ihnen zu teilen, indem sie sich für fähig halten, sie anzuerkennen. Wer als Mensch die Taten der Vorwelt liest und die Taten seiner Zeitgenossen bemerkt, dem mißfällt es nicht, wenn ein Mann im Geiste seines Standes seine Rolle spielt. Der Papst muß Papst sein, der Mönch Mönch, der Fürst Fürst, und so die Leiter herab. Nur wenn sie ihre Rollen wechseln oder zusammenflicken, wenn sie hin und her schwanken, werden sie im Handeln und in der Geschichte unerträglich. Ich mag Gregor den Siebenten, so wenig ich Freund der Päpste bin, ganz gern seine Rolle als Papst spielen sehen; die Gegenpartei nur führte sich erbärmlich auf. Wären die Fürsten damals gewesen, was sie als Fürsten sein mußten, so hätte Gregor[246] der Siebente seine Rolle nach der ihrigen abgemessen. Daß Luther das Tintenfaß nach dem Teufel geworfen hat, gefällt mir recht wohl. Wer sich jahrelang mit dem Papst und seinem ungeheuern Heere herumschlägt, kann leicht Teufel zu sehen glauben.

63
[247]

WENN ich einem regierenden Fürsten Bücher zum Lesen und Wiederlesen und nicht allein zum Lesen, sondern auch zum Studieren vorschlagen sollte, so würde ich ihm – da Fürsten wirklich[144] wenig Zeit zum Lesen haben – Friedrichs des Zweiten Werke vorzüglich empfehlen. Dieser trieb sein Geschäft in dem wahren Geist, kannte sein Amt nach allen seinen Pflichten und Seiten und übte es wirklich als ein Amt aus. Da nun der fürstliche Leser den gleichen Beruf mit dem großen Manne hat, dessen Werke ich ihm anempfehlen möchte, so werden seine Lehren mehr Eindruck auf ihn machen und ihm unverdächtiger sein als die Lehren von Männern untergeordneter Stände. Zur Befestigung und Bekräftigung der von diesem König aufgestellten Grundsätze würde ich ihm das Studium der Geschichte Frankreichs im ganzen letzten Jahrhundert bis auf heute, morgen und übermorgen usw. empfehlen. Fragte man mich, ob Fürsten auch Dichter lesen sollten, so antwortete ich »Nein!«, weil kein Amt weniger das Idealisieren verträgt als das ihrige und weil kein Sterblicher schneller und ernsthafter aus schönen Dichterträumen über Welt und Menschen aufgeweckt wird als die Fürsten. Die Männer, mit welchen und durch welche sie wirken, stellen ihnen Ideale aus ganz anderm Stoffe gebildet vor Augen, als die dichterischen es sind. Vielleicht wendet man mir ein: »Gleichwohl war Friedrich der Zweite auch Dichter.« – Ja, er machte Verse, und das ebenso, wie andre Fürsten auf die Jagd gehen, um das Regieren einen Augenblick zu vergessen. Gleichwohl zeigt er es auch in seinen Versen, daß er das Regieren dabei nicht so ganz vergaß, wie die Bourbone[n] auf ihren Jagden es taten; denn auch sie sind voll weiser Lehren und gesalznen Spottes über die, die das Regieren so gern vergessen.

64
[145]

BISHER wenigstens war die deutsche Literatur – zur Ehre unsrer Sitten! – nicht mit gewissen schändlichen Büchern gebrandmarkt; und unsre Lüstlinge mußten sich begnügen, sie in der gebildetern Sprache unsrer Nachbarn zu lesen. Jetzt sind einige unsrer hungrigen Schriftsteller auch auf diesen elenden, schmutzigen Erwerb[s]zweig verfallen, und da ihr Hunger sehr groß, ihr Kopf sehr leer und ihr Herz nichts wert ist, so werden sie wahrscheinlich das ehrliche Publikum mit Übersetzungen und Originalwerken dieser Art überschütten. In Berlin hat man schon Sammlungen davon gemacht; denn da der Deutsche sich immer gleich bleibt, immer auf große, langdauernde, einträgliche Werke spekuliert, so werden wir bald Sammlungen dieser Art besitzen, die sich mit der Masse der allgemeinen Weltgeschichte, Krünitzens »Enzyklopädie«, der Reisen zu Wasser und zu Lande messen können. Daß aber ein ehrliebender deutscher Buchhändler solche Werke nach dem galanten Leipzig zum Vertrieb schleppen kann, beweist, wieweit wir nun schon in der Kultur gekommen sind. Aber wahrscheinlich sind diese Buchhändler – wie ihre Autoren – mehr gewinn- als ehrliebende Leute, und sie könnten beide mit allem Recht das berühmte Motto Vespasians in ihren Stempel und ihr Petschaft schneiden lassen: »Der Gewinn stinkt nicht darnach.« Erst schale Romane voller Tränen und erbärmlicher Empfindungen, und dann diese drauf: das muß unsre Jünglinge und Jungfrauen zu artigen Männern und Weibern bilden.

65
[472]

DIE Eitelkeit ist für die Gesellschaft, was der Wind für die Windmühle ist; ist sie auch nicht der stärkste, so ist sie doch gewiß ein guter Wind, die Maschine zu bewegen. Wir haben eine[57] Luft-, eine Musik-, eine Windleiter oder Windrose, und ich weiß nicht, was für Leitern, um die Kräfte der Natur nach Graden zu messen. Es ließe sich ebenso gut eine Leiter der Triebe machen, die die menschliche Gesellschaft treiben, nur suche man die Töne dazu nicht im Plato allein.

66
[58]

DIE Staatsleute in der Schweiz kommen mir in diesem Augenblick vor wie Bauleute, die weder über den Riß des Gebäudes noch über die Materialien dazu einig werden können. Sie[269] vergessen, daß das Volk, für das sie bauen sollen, und sie selbst unter Ruinen wohnen.

67
[270]

DIDEROT hat den Deutschen gezeigt, wie man über ästhetische Gegenstände schreiben muß. Er entwickelt uns die tiefsten Geheimnisse der Kunst so klar und deutlich, daß sie jeder versteht, sich ihrer jeder erfreuen kann. Das deutsche, schwerfällige, systematische, mit Terminologie beladne, auf Stelzen gehende, philosophisch-ästhetische Gewäsche – der auf dunstender Kohlenglut aufgewärmte Enthusiasmus, womit sie es nicht vergulden, sondern verkupfern – ist von allem deutschen Gewäsche das unerträglichste für einen Mann, der an Klarheit gewöhnt ist. Diderot hat ihnen, ich sage es noch einmal, gezeigt, wie man mit Feinheit, Wärme und Bestimmtheit über diese Gegenstände schreiben kann, und seine »Salons« enthalten, nebst seinen[457] »Betrachtungen über die Malerei«, die erste aller Poetiken und Rhetoriken, nicht der Form nach, sondern des kräftigen, vollen und wahren Inhalts wegen. Der Dichter und der Philosoph gehen hier vertraulich und leicht in der schönsten Verbindung zusammen, und keiner schadet dem andern. Nur Lessing kann neben ihm bestehen; und hätte dieser nicht so viele Streifzüge in die Literatur getan und nicht zuviel Zeit in Scharmützeln mit elenden Geistern verloren, wir hätten so etwas schon längst und vielleicht vollendeter gesehen.

68
[458]

WOHER kömmt es, daß hervorragende Satiriker in den alten und neuen Zeiten so selten sind? Freilich erfordert es gar mancherlei Talente, um hier zu glänzen. Denn außer einem treffenden, wahren, scharfen Witz, einer ausgebildeten, geschmeidigen Sprache, einer regen Einbildungskraft zur Erschaffung neuer Bilder und zur Auffassung unbemerkter, überraschender Verhältnisse, der geistvollsten Poesie zu auffallender Erfindung des Stoffs und der Bearbeitung desselben erfordert diese Gattung noch einen freien, kühnen, hellen Beobachtungsgeist, tiefe Kenntnis des Menschen in allen Ständen und Verhältnissen, eine aus wahrer moralischer Energie entsprungene Indignation über Torheiten und Laster. Diese, nicht die Galle, muß die Geißel führen, wenn wir den Zuchtmeister achten sollen und der Gestrafte mit Überzeugung, er habe die Streiche verdient, erschrocken von dem Buche aufspringen und heulend davongehen soll. Diese Indignation hat Swift zum größten und einzigen Satiriker der neuern Zeit gemacht; um ihn selbst recht kennenzulernen, muß man alle seine Schriften und besonders seine Briefe lesen. Daß es in Deutschland wenig solche Genies gibt, begreife ich; denn, ohne von unsern milden Sitten, unsrer politischen Stille, unsrer Verträglichkeit, unsrer Achtung für das Hergebrachte, der Verehrung des Großen und Reichen zu reden, wirft diese Gattung zu wenig Gewinn ab, und es ist hier nicht so leicht, bändereiche Werke zu schreiben. Unsre Schriftsteller üben daher die Satire nur gegeneinander aus, und das nur in dem Fall, wenn einer dem andern in den Erwerbszweig fällt oder bei den Kunden durch kecken Tadel zu schaden sucht; dazu gebrauchen sie dann gewöhnlich ein Ingredienz, das ich oben vergessen habe: die Grobheit. – Ich hoffe doch nicht, daß man mir entgegensetzen wird, unsre Ritter- und Geisterromane enthielten Satire genug. Vielleicht[469] glauben die Schreiber derselben, eine Satire gemacht zu haben, wenn sie Fürsten, Minister, Geistliche usw. mit recht grellen Zügen, schülerhaften Beschuldigungen, gräßlich abgeschmackten, naturwidrigen Lastern ausstaffiert haben. Ach nein! es sind nur Satiren auf ihre Verfasser und die, welche sie mit Wohlgefallen lesen.

69


EHEMALS verbrannte man die Männer, welche Bücher gegen das schrieben, was die Priester und der Haufe Religion nennen. Die Werke, die ihnen dieses Schicksal zuzogen, liegen jetzt als Seltenheiten in den Bibliotheken vergraben, und nur Büchernarren bezahlen sie noch. Späterhin sah man Schriften dieser Art als etwas Kühnes und mit einiger Furcht an; die Franzosen haben uns aber so sehr an solche Erscheinungen gewöhnt, daß man jetzt das kühnste und witzigste solcher Bücher mit Gleichgültigkeit ansieht und kaum nach dem Namen seines Verfassers fragt. Wir lachen nicht mehr über den beißendsten Spott. Die Sache ist abgetan; das heißt, wir wissen, daß der schärfste Witz des Ungläubigen und der tollste Wahnsinn des Kühnsten gegen die auf Moralität gegründete Religion nichts vermag. Die Verteidigung des Kultus überlassen wir denen, die davon leben. Konnten die Franzosen selbst doch damit nicht fertig werden, und die katholischen Priester haben ihnen wahrlich bewiesen, daß sie keine Druiden des alten Galliens sind! Sie lebten aber auch nicht wie jene im Dunkel der Wälder.

70
[470]

JEDES System zur Unterjochung der Menschen, von Machthabern gebildet, es sei politisch oder religiös, muß endlich den freien, immer regen, nie ganz schlummernden Geisteskräften des[263] Menschen weichen. Werden sie ganz wach und laut, so bleibt nichts übrig, als mit ihnen zu wirken oder, wenn man weise und vorsehend genug ist, sie gleich anfangs auf einen guten Zweck zu leiten. Nur der Widerstand zwingt ihnen eine gefährliche Richtung auf und spielt sie Leuten in die Hand, die solche Zeitumstände zu nutzen wissen.

71


WAHRSCHEINLICH hätten die deutschen Fürsten beim Ausbruch des Kriegs gegen die Franzosen mehr Ruhe bei sich und treuere Anhänger gegen ihren Feind gefunden, wenn sie nicht durch unzeitige, auffallende Maßregeln den Argwohn erweckt hätten, ihr Krieg sei zugleich ein Krieg der Finsternis mit dem Lichte. Dieses machte nicht allein ihr Unternehmen, sondern selbst ihr Regentenwesen verdächtig. Manche handeln noch immer in diesem verkehrten Sinn so fort, als fürchteten sie, die Menschen von diesem Argwohn zu heilen. Und haben dieses Deutschlands Völker verdient? Diese Regenten sollten bedenken, daß, wenn es wirklich möglich wäre, den Geist des Menschen zu ersticken, ihre Vorgänger schon vor Jahrhunderten ihnen hierin zuvorgekommen wären und ihnen schwerlich etwas zu tun übrig gelassen hätten. Aber dieses war immer ein so schwerer als kitzliger Punkt, ohne welchen freilich das Regieren ein so leichtes Geschäft wäre als das Kuhmelken. Wen ehrt aber auch ein leichtes Geschäft?

72


DIE politischen Ketzer haben in den letzten Zeiten die religiösen nun ganz vergessen gemacht. Die Gefahr betraf mehr das Nähere, das Irdische. Wäre ihre Anzahl nicht so groß gewesen, wir hätten ein Martyrologium in Folio; wahrscheinlich wären aber die Dokumente dazu ein politisches Geheimnis geblieben. Zum Verbrennen hätten kaum die Wälder zugereicht. Indessen tat man in einigen recht orthodox-politischen Ländern, was man konnte, und die Staatsinquisition ist – nicht hinter der kirchlichen[264] zurückgeblieben. Vermutlich hat sie auch ebendie Wirkung auf den Geist der Menschen getan wie ihre ältere Schwester.

73
[265]

DIE meisten Verteidiger der Sache der Regenten behandelten diesen so großen als wichtigen Gegenstand ebenso wie die Emigrierten ihre alte Verfassung. Dadurch, daß sie alles verteidigten und Dinge lobpriesen, die eigentlich gar nicht zur Verfassung des Staats und der wahren Lage des Regenten gehören, setzten sie das wirklich Gute, das sie zu sagen hatten, selbst in ein zweideutiges[257] Licht. Hätte es von beiden abgehangen, so weiß ich nicht, was aus dieser wichtigen Sache geworden wäre. Die Not allein macht weise, sowohl die Fürsten als die Völker. So laßt sie denn wirken, diese allmächtige Göttin, und Royalist und Demokrat sich heiser schreien – bald wird ihr Schrei nur ein Schrei in der Wüste sein. Er ist es wohl schon.

74
[258]

UNTER den verschiednen Ursachen, die man für die Korrektheit der griechischen und römischen Schriftsteller anführt, wenn man sie mit den neueren vergleicht, habe ich immer zwei wesentliche vermißt. Die erste: daß zu ihrer Zeit die Buchdruckerkunst noch nicht erfunden worden war; und die zweite: daß sie sich den Bart wachsen ließen, bevor sie das Volk – das heißt: die Männer – zu lehren und zu unterhalten unternahmen; denn ich glaube beinahe aus dem ernsten Tone dieser Männer zu bemerken, daß sie nicht für Weiber schrieben.

75


MAN klagt, dünkt mich, sehr unbillig und in Deutschland selbst wahrhaftig sehr unpatriotisch darüber, daß wir so viele Bücher schreiben und drucken lassen. Haben wir Deutschen nicht ein vorzügliches Recht dazu, da wir die Buchdruckerkunst erfunden haben?

76
[504]

ROBERTSON und Gibbon erkennen laut, wie viel sie in der historischen Kunst von Voltaire gelernt haben. Sie nennen seine »Essais sur l'histoire universelle« ein Meisterstück der Darstellung und ihr Muster. Wir Deutschen schimpfen indessen noch immer auf Voltaire, und diese literarische Sünde hat sich unser großer Lessing zuschulden kommen lassen, von dem sie [sich] dann wie eine Nationalerbsünde auf Greise und Jünglinge immer fortgeerbt hat und immer forterben wird, bis wir auch einst Robertsone und Gibbone haben werden, was ich zu unsrer Entsündigung von Herzen wünsche. Auf einen Voltaire selbst rechne ich aus verschiedenen Ursachen nicht.

77


MAN wirft Voltaire und Gibbon in einem pfaffischen Sinn vor, ihre Geschichten seien Satiren auf die Vorsehung. Und wenn man nun eine wahrhafte Geschichte von dem schriebe, was wir seit mehr als zwölf Jahren erlebt haben, was schriebe man dann? Und was ist die ganze Geschichte? Und warum soll man die Geschichte der Menschen in dem Sinn der orthodoxen und hyperorthodoxen Theologen lesen? Bossuet, der von der Vorsehung die Thronen der Fürsten zerschlagen, die Völker vernichten ließ um der Juden willen, hat eine Geschichte in diesem Sinn geschrieben; wir haben genug daran, und jeder beklagt das schöne Genie, das hier so fehlgegriffen hat oder, aus gewissen Ursachen, greifen wollte. In der Geschichte ist nichts orthodox, da ist leider alles Ketzerei: Ketzerei gegen die Bibel, die Moral, das Natur- und Völkerrecht und die Politik selbst. Wäre die Geschichte nur keine Satire auf die Menschen und Menschheit überhaupt und könnten[247] nur diese sich dagegen rechtfertigen, die Vorsehung selbst wird sich schon, ohne unsre Vermittlung und unsern Beistand, aus dem verworrenen Handel herausziehen. Wir verstehen dieses Wort so wenig wie viele andre Wörter, an deren Schall die Menschen ihr Heil hängen, und befinden uns in der peinlichsten Verwirrung, sobald wir den vermeinten Sinn davon mit dem Gang der Welt ausgleichen wollen. Ist die Geschichte eine Satire auf die Menschen, so seh' ich noch nicht ein, wie es eine auf das sein kann, was man Vorsehung nennt. Die Vorsehung in einem solchen theologischen Sinn in die Geschichte zu mischen, dieses ist Ketzerei – und recht grobe Ketzerei. So behandelt, müßte sie nur von und für Sklaven geschrieben werden, und vielleicht liegt hier der verborgene Grimm gewisser theologischer und politischer Ankläger, den ich nicht weiter aufdecken mag. Die Geschichte soll uns nicht allein weise, klug und erfahren machen, sie soll auch unsre Kräfte aufregen und unsern Geist von dem befreien, was man ihm aus gewissen Absichten aufgeladen hat – kurz, sie soll den Schuldunst von unserm Verstand verjagen, unsre Blicke frei machen, aufs Ganze richten, unsern Mut beleben und philosophischen, nicht theologischen Sinn für die Ansicht der Welthändel erwecken. Nur ein[en] Beweis, wie gewisse Leute Geschichte schreiben, wie andre wünschen, daß man sie schriebe: Wem galt die Satire, als der elende Schmeichler von Jesuiten, Pater Daniel, zum Vorteil seines Ordens es unternahm, die französische Geschichte zu schreiben, um darzutun, es hätten vor den legitimierten Bastarden Ludwigs XIV. schon viele Bastarde über Frankreich geherrscht? Die Geschichte war sehr beliebt am Hofe und sollte den Bastarden des Königs den Weg zum Throne bahnen. Was! Eine solche – und eine Geschichte, die sklavische Unterwerfung unter geistliche und politische Tyrannei predigt und auch den frevelhaftesten Fürsten an Gott und seinen Geschöpfen zum Statthalter dieses Gottes, dessen edelste Geschöpfe er mißbraucht, aufstellt, dies wäre keine Satire auf die Vorsehung? Das mag ein Prior seine Mönche glauben machen; bei uns vermag es der ausgemachteste Staatsmann, der berühmteste[248] Superintendent, der Papst und Luther nicht mehr. Auch Europas Fürsten wissen es, daß man nicht ihnen damit zu dienen sucht.

78
[249]

ALS man eines deutschen Fürsten Vorschlag an den nach dem Rückzuge der Franzosen wiederum versammelten Reichstag des Heiligen Römischen Reichs in Regensburg zu einem Denkmal für den Erzherzog Karl in den Zeitungen bekanntmachte, glaubten einige Leute wirklich, es gelte dem gebeugten, zerstückelten Heiligen Römischen Reiche und der soeben von der Flucht zurückgekehrten Reichsversammlung in einem andern Sinn. Man sprach darüber, wie über jeden Zeitungsartikel. Einige sagten: es scheine ernst zu sein, und jener Fürst habe sich die nicht unbedeutende Rolle aufgespart, am Ende des blutigen Stücks dem den Lorbeer zu erteilen, der ihm der Würdigste dazu schiene; nur sei es schade, daß die Umstände und die traurige Lage des deutschen Reichs nicht so gut zu seinem Wunsche paßten, daß die Folgen der Taten des wirklich edlen und tapfern Helden für das deutsche Reich so gar schlimm ausgefallen wären. Ein anderer erinnerte an den großen Gustav Adolf, ebendieses Reiches Erretter. Ein dritter meinte gar, jedes Denkmal auf deutschem Boden nach diesem Kriege sei ein Siegesmal über Deutschland selbst usw. – und was man noch alles schwatzte. Einer fragte gar, ob die zur Säkularisation bestimmten Opfer auch ihren Beitrag zu der Summe herschießen müßten. Freilich ist jetzt einem gut gesinnten Reichsländer die üble Laune ein wenig zu verzeihen; sie ergreift auch mich zuzeiten; aber wahrlich nicht wegen dieses Denkmals. Der endliche Frieden, woran der junge, edle Held so vielen Anteil hat, wozu er, wie es scheint, den Ausschlag gab, ist hundert Denkmäler des Danks wert, und wahrscheinlich hat es auch der deutsche Fürst so gemeint. Nur müßten die entschädigten Reichsfürsten die Kosten tragen, wenn es dazu kommen sollte.

79
[270]

DIE Juden hatten, wie die Bibel lehrt, ein göttliches Patent zur Vertilgung der Völker und der Eroberung ihrer Länder erhalten. Die Christen haben dieses Patent erweitert und sich allein die Seligkeit in jenem Leben zugesichert, nachdem sie alle andre [n] vor, mit und nach ihnen lebende [n] Völker, die Juden selbst, davon ausgeschlossen haben. Es ist die einzige Religion, die ihre Herrschaft so weit ausgedehnt hat, und das nenne ich Eroberung oder Eroberungssucht. Die protestantischen Christen sind bescheidener; sie zweifeln wenigstens hin und wieder an diesem Eroberungsrecht, auch wird ihnen selbst der Anteil an dem Patent von der alten Kirche bestritten. Mußte dieses ausschließliche Recht aufs künftige Leben nicht einen starken politischen Einfluß auf die Philippe, die Ferdinande in Ansehung des gegenwärtigen haben? Wer kann und darf denen die Erde abstreiten, die durch Dokumente den Besitz des Himmels erweisen können? Auch dieser Geist schweigt jetzt, und vermutlich, weil das Lautwerden zu dieser Zeit doch nichts nützen würde.

80
[385]

MADAME DE STAËL hat Augenblicke in ihren Schriften, die mich vermuten lassen, sie lebe nicht allein mit ihrem leiblichen Ehemanne, sondern noch insgeheim mit einem männlichen Geiste. Ist dieses nicht, so muß sie etwas an sich haben, das andern Weibern fehlt.

81
[451]

VON allem, was man in der Welt Glück zu nennen gewohnt ist, ist keines schwerer mit Mäßigung, Bescheidenheit und Erinnerung seiner Lage zu tragen als die Gunst der Fürsten. Weibergunst verliert ihren Reiz durch den Genuß, nur der Durst nach dieser nimmt während des Genusses zu. Selbst der Weiseste, Erfahrenste, der allen Versuchungen widerstanden, befindet sich in Gefahr, wann er diesem Zauber nahet. Und doch fordert ihr von dem Manne, der diesen Zauber besitzt, der die Wirkung davon auf alle andre[n].beständig wahrnimmt, er allein soll sich nicht von seiner eignen Zaubermacht berauschen lassen. Nur er soll immer weise und bei kaltem Sinn bleiben, ob er gleich sieht, daß der schon dem Rausche nahe ist, der nur auf den Schatten dieses Zauberkrauts getreten hat.

82


WIE man einen Günstling beneiden und hassen kann, begreife ich nicht; doch ich vergesse, daß die meisten, die es tun, nicht am Hofe leben und von jenes Glücke nur reden hören. Der Neid tröste sich! Kein Sterblicher bezahlt seine eingebildeten Genüsse oder das, was das Glück ihm zuwirft, teurer, als es der Günstling bezahlt. Der Sklave verkauft nur seinen Leib, der Günstling alles, was ihn zum Menschen macht, ja selbst seinen Gott; denn er muß sich in seinem Herrn einen sichtbaren erschaffen, um ganz gläubig, ganz hingegeben zu sein und zu scheinen. Der[213] Haß tröste sich damit, daß der Günstling nach Fallen und Steigen, nach Steigen und Fallen und der daraus fließenden peinlichen Ungewißheit seiner Lage endlich so gewiß ganz fällt, als er sich dann ganz unglücklich fühlt. Die so genossenen Jahre vergißt keiner: Wer kann den Menschen wieder in sich erschaffen, wenn er ihn einmal in sich zerstört hat? Das Licht seines Lebens verlischt, sobald seine Sonne ihm untergegangen. – »Und das Böse, das sie getan haben?« Unter einem Fürsten, der so etwas braucht, ist für das Volk selten viel zu gewinnen, wenn sie auch nicht da sind. – »Aber ihre Frechheit, ihr Stolz, ihr beleidigendes Betragen!« Die Armen teilen nur wieder aus, was sie empfangen; wie sollten sie es sonst aushalten?

83


EIN Gemeinspruch sagt: »Das traurigste Los der Fürsten ist, daß sie keinen Freund haben können« – und ich setze hinzu: daß keiner, den sie in diesem schönen Sinn wählen, weise und stark genug ist, sich damit g[e]nügen zu lassen; daß jeder derselben zugleich Günstling sein und scheinen will. Fände sich auch einer, der sich in dieser edlern Bestimmung gefiele, so tun die Hofleute aus guten Gründen ihr Möglichstes, den Freund in den Günstling umzuschaffen; und der muß dreifaches Erz vor der Brust tragen, der hier ihren Ränken und Schmeicheleien widerstände. Es kömmt hierbei auf zuviel für sie an. Ob sie nun gleich keines Menschen Freund sind, so wissen sie doch von Hörensagen, daß aus einer solchen Verbindung gewisse Pflichten entspringen; sie wissen ferner, was durch und mit einem Günstling auszurichten ist und daß, wenn das Günstlingswesen einmal Bedürfnis geworden ist, die Reihe auch an sie kommen kann. Steht der Günstling endlich da, wo sie ihn haben wollen, so kömmt er mir vor wie ein Schlachtopfer, das die Priester beräuchern und schmücken, während der Opferer den Stahl wetzt. Der Fürst selbst hält sich für einen Mann, der in der Liebe nur unglücklich war und es bei jedem Wechsel besser zu treffen hofft. So fällt[214] er natürlich vom Schlimmen ins Schlimmere, denn jeder neu Geworbene sucht sich durch kräftigere, listigere Mittel gegen ihn selbst vor Unfällen zu bewahren.

84
[215]

ES ist vorüber, das schreckliche, düstre, Europa drohende Ungewitter, das seit zehn Jahren überall unsern Horizont verfinsterte und bei dessen leuchtenden, feurigen Blitzen wir in zusammengedrängten, schnell sich nacheilenden, schrecklichen, grauenvoll erhabenen Bildern die Erscheinungen der ganzen Weltgeschichte vorüberfliegen sahen. Jetzt herrscht Stille; die von den Blitzen Erschlagenen schlafen unter der Erde, kaum erinnert man sich ihrer; denn mit dem Verhallen des wilden Getöses verlöscht auch schon die Erinnerung des Geschehenen. Trüge die Weltgeschichte nicht Sorge, diese großen, die politische und moralische Welt erschütternden Begebenheiten aufzuzeichnen und auf die Nachwelt zu bringen, man würde davon in fünfzig Jahren wie von einer tragischen Märe reden; in hundert würden sie wenigstens von der Menge vergessen sein. Wenn dieses kein Beweis des Vorübergehens, des Vergänglichen, des Nichtigen ist, so kenne ich keinen; aber ebendarum, weil dieses die Kennzeichen des Menschengeschlechts sind, mußte und konnte dieses auch nur geschehen. Welch ein Stoff zu einem philosophischen Gedicht!

85
[258]

WER keinen freigebigen Hof gesehen hat, kann sich von der Impertinenz und den Anmaßungen der Menschen, vom größten bis zum kleinsten, keinen Begriff machen. Wenn der tausendundtausendste Teil der Verdienste um den Staat, die hier mit frecher Stirne öffentlich angegeben und schriftlich vorgezeigt werden, wirklich da und ausgeübt worden wäre, ein solches Land müßte ein Utopia sein; man müßte von dem hohen Wert des Menschengeschlechts so überzeugt werden, als es nur immer der verblendetste, schwärmerischste junge Gläubige an dasselbe sein kann. Vermutlich ist dieses die Ursach', daß der Mann von wirklichen Verdiensten – der folglich bescheiden ist – von der ungeheuren Masse der Verdienste andrer so niedergedrückt wird, daß er es gar nicht wagt, von den seinigen zu reden. Aber die Verdienste jener Frechen haben außerdem noch das Eigene, daß sich diejenigen, die diese Verdienste dem Fürsten vorzutragen haben, ein sehr reelles Verdienst für ihre eigne Kasse dabei machen. Denn wer wird nicht eine Belohnung mit einem Verlust erkaufen, auf die man weiter keinen Anspruch hat als den, welchen eigne Impertinenz und die verbrecherische Kühnheit des erkauften Lobredners verleihen? Hat man die erste Empörung überwunden, die diese Leute durch das Aufzählen ihrer Verdienste und die erfolgten Belohnungen in unserm Geist und Herzen erregen, so überfällt auch den wackersten Mann zuzeiten ein solcher Ekel an der Erfüllung seiner Pflichten, daß er mehr als gewöhnlicher Kraft bedarf, ihn zu besiegen. Der betrogne Fürst weiß nicht, daß man ihn dazu braucht, den wirklichen Diensteifer seiner noch Getreuen zu erwürgen, daß er dann nur noch auf die Enthusiasten, die auf dem stolzen Bewußtsein ihres Werts ruhen und eigensinnig darauf beharren, zählen kann; und[222] im bürgerlichen, im tätigen Leben gibt es, wie bekannt, gar wenig Enthusiasten.

86


WENN man eine Zeitlang aufgemerkt hat, wie es in einem solchen Staate, wie der oben bezeichnete, zugeht, so muß man endlich überzeugt werden, das eiserne Schicksal wolle es so, daß ein Teil der Menschen arbeite und der andre die Früchte ihrer Arbeit einernte. Man sollte dieses die Kinder in der Schule lehren, damit sie sich früh daran gewöhnten; vielleicht lernt aber auch mancher es schon da aus Erfahrung.

87
[223]

DER Weise, welcher sagte: »Hielte ich auch alle Wahrheit in meiner verschloßnen Hand, so würde ich mich doch hüten, sie zu öffnen!«, hat mit diesen wenigen Worten ein Urteil über die Menschen gesprochen, das man zwar, wenn man sie kennengelernt hat, unterschreiben muß, das aber auch zugleich die bitterste Satire auf das ganze Menschengeschlecht enthält. Es beweist, daß das Menschengeschlecht nie aus der Kindheit heraustreten kann, daß es dieses nicht einmal wagen darf, daß demnach alles Träumen von immer steigender Veredlung ein schöner, dichterischer Zeitvertreib ist. Kömmt es daher, daß, was diesem und jenem in dieser oder jener gegebenen Lage nützliche Wahrheit ist, in dieser oder jener andern Lage diesem und jenem das Gegenteil und gar schädlich sein kann, so frage auch ich mit Pilatus: »Was ist Wahrheit?« Ich wollte, daß Christus, der diesen frechen, sarkastischen, richterlichen Einwurf hörte, auf diese Frage geantwortet hätte. Er, der für die Wahrheit starb, der die Wahrheit selbst und aus ihrer reinsten Quelle entsprungen ist, mußte das Ding am besten wissen.

88
[397]

DER Mann, welcher zum erstenmal das Wort »Vorsehung« ausgesprochen hat und dem es g[e]nügte, hat für Millionen den verworrensten aller Knoten mit einem Atemzug zerhauen. Er war, ohne es zu wissen, der konsequenteste Politiker und Priester, der je gelebt hat. Mit einem Worte hat er eine Säule gebaut, auf welcher der größte Teil der Sterblichen – selbst zum Behagen derer, welche sie mißbrauchen – ziemlich sicher und hoffnungsvoll ruht. Darneben steht noch eine Säule, von dem Altertum aus rauhen, ungeglätteten Steinen aufgeführt; es ruht sich weniger sanft darauf, weil an ihren scharfen Ecken das Öl des Glaubens herunterrinnt, das sich an die glättere anschmiegt. Und doch ward die glatte nach der rauhen gebildet. Nur das Gefühl des moralischen Werts konnte die Begriffe beider erschaffen; auch mußten sie sich leicht ausbreiten, da Eigenliebe und Stolz ihre Rechnung dabei fanden. Der Mensch sprang von der Erde zum Himmel auf, er machte sich die Gestirne, die Geister der Natur, Götter, Götzen und Fetische im Gefühl seines Dünkels untertan; und gestand er ihnen das Recht der Oberherrschaft zu, so geschah dies nicht um ihrentwillen, sondern darum, damit sie sich mit ihm und seinem Schicksal vorzüglich beschäftigen sollten und um sie dazu bei guter Laune zu erhalten. Der Glaube an Wunder fließt ungefähr aus gleicher Quelle; denn auch von seinem Fetisch fordert sie der Wilde für sich. Für das Gewöhnliche sind sie doch nicht da! Der Glaube an alles dieses mag nun dem Menschen herkommen, woher er will; nichts Tröstenderes[376] und Schmeichelnderes konnte ein zum Leiden und Dulden, zur Ausbildung für solch eine Gesellschaft geschaffenes und bestimmtes Wesen aus sich herausziehen oder in dasselbe gelegt werden.

89
[377]

SOBALD ein Fürst den Thron besteigt, der das Beste des Staats – das heißt, mit Erlaubnis sei es gesagt, das Beste des gesamten Volks – zu seinem Zweck macht, der weise, sparsam, gerecht und menschlich ist, seine Pflichten streng erfüllt und die Erfüllung der Pflichten ebenso streng von andern fordert, der nur wahres Verdienst nach Beweisen und Selbstüberzeugung belohnt, der Pracht und Zeremonien für eine Last ansieht und sich den letztern nur, soweit auch dieses zur Pflicht gehört, unterwirft, so entflieht der hohe Adel, wenn er sich fest überzeugt hat, daß es ernst ist, auf das Land oder geht auf Reisen ins Ausland. Selbst das Wohlgefallen und die Gunst des Monarchen werden weniger gesucht und geachtet, weil man sie ja doch nicht zu seinem Vorteil gebrauchen, ich will sagen, mißbrauchen kann. Die entsetzliche Hofskälte erstarrt, eh' man sich's versieht, alle die bunten und schönen Insekten, die nur in der warmen Sommerluft leben können.

90
[182]

DIE Französische Revolution hat unter vielen neuen Dingen eines hervorgebracht, das man vorher nicht kannte; ich meine die Despotomanie. Ihre Mutter war wahrscheinlich die Demokratomanie, und hoffentlich ist die erste jetzt tot, da ihre Ernährerin abgefahren ist.

91
[258]

ICH verzeihe es einem Manne, der sich unter einer freien, Gesetze achtenden Regierung über schlechte Witterung, Hitze, Kälte, überhaupt über die gewöhnlichen physischen Unbequemlichkeiten beklagt; wer dies aber unter einem despotischen oder gar despotomanischen Treiben (ich ehre das Wort Regierung) tut, der muß nur einen Leib, keine Seele haben, er muß die moralischen Übel weder kennen noch fühlen. Von allen Plagen des armen Menschengeschlechts kann sich die geängstete Einbildungskraft eine Vorstellung machen, selbst von denen der Hölle der orthodoxesten Christen, wobei man doch wahrlich die Farben zum Schrecken nicht gespart hat. Hier verfährt man wenigstens nach einem Ausspruch, hier herrscht etwas Festbestimmtes und Faßliches. Aber wer von den ersten Qualen und Plagen eine Beschreibung machen wollte, der müßte von ganz unfaßlichen Leiden reden, von namenlosen Wunden der Seele, Geisteszermalmungen, Herzenszerknirschungen, von nie rastenden, alle moralische Kraft zerstörenden Qualen; von einer Furcht, die ärger als Todesfurcht ist, da sie kein Ende nimmt, mit der man zu Bette geht, die in bangen Träumen fortdauert, mit der man aus dem schauderhaften Schlummer erwacht und die jeden auf allen seinen Schritten begleitet. Kurz, er würde den Horcher auf einen Punkt des schrecklichen, schaudervollen Leer-Erhabenen treiben, wo das Herz nicht mehr fühlt, weil der Geist nichts mehr faßt. Und wer kann sie ertragen? Nur der, welcher in einem Lande geboren ist, wo so etwas rechtliches Herkommen ist, oder man muß einen ehernen Mut, eine Seele haben, die sich durch eigne Kraft tagtäglich wieder selbst erschafft. Man muß es darauf anlegen und darauf anlegen können, den Kampf mit diesem Wesen nicht allein zu bestehen, sondern ihm gar nicht auszuweichen, wenn man davon überfallen wird. Wer eine solche[110] Lage überlebt und seinen Charakter und seine Denkungsart nicht allein aufgeopfert, sondern sie nicht einmal verborgen hat, der kann stolz auf seinen errungenen Lorbeeren ruhen: Er hat mehr als Schlachten gewonnen.

92
[111]

WARUM kann ein welterfahrner Mann nichts Exzentrisches vertragen? Weil er gesehen hat, daß es zu nichts führt, zu nichts taugt, nichts befördert, selbst das Lachen nicht. Alles, was es wirkt, besteht darin, daß es dem ein Zeichen anklebt, der sich damit schleppt oder der von diesem Wesen besessen ist. In der Welt ist ihm keine Stelle angewiesen, und in der Literatur ist es gegen den Menschenverstand. Aber warum treten so viele unsrer jungen Leute mit diesem Zeichen als Schriftsteller auf? Eben darum, weil sie junge Leute sind und es ihnen noch an allem dem fehlt, was sie zum Auftreten berechtigen könnte.

93
[451]

VOLTAIRE sagt irgendwo: »Wenn die Bewundrer Homers aufrichtig wären, so würden sie die Langeweile eingestehen, die ihnen ihr Liebling so oft verursacht.« Ich glaube, dieser Ausspruch[480] ließe sich mehr auf Platos Bewunderer anwenden, besonders, wenn sein Sokrates recht in das Katechisieren verfällt.

94
[481]

DIE Politik, die es doch wahrhaftig mit klaren Dingen und bloß mit Dingen von dieser Welt zu tun hat, ist gleichwohl ebenso voll leerer Worte als die Metaphysik. Man nehme nur »Völkerrecht«, »Staatengewicht« usw.

95
[169]

HERR VON THÜMMEL hat uns in seinen Reisen nach Frankreich ein Buch gegeben, wie wir noch keins in Deutschland hatten: voller Geist, Jovialität, Genialität, neuer Ansichten, Menschen- und Weltkenntnis. Dies alles ist mit einem so leichten und, wo es nötig ist, mit einem so feurigen Kolorit dargestellt, wovon wir wenige Beispiele gesehen haben. Und doch würde es den Franzosen nicht in einer Übersetzung gefallen, eben wegen dieser Fülle. Aber wie kann man auch die Originalwerke der Deutschen und Engländer ins Französische übersetzen?

96
[458]

DER Nationalhaß, das Nationalvorurteil der guten Deutschen und die bis jetzt noch zur See despotisch herrschenden Engländer, welche die ganze Welt als ein für sie geschaffenes Warenlager ansehen, mögen es noch so bitter finden: Die Geschichte wird das vergangene Jahrhundert, um es mit einem einzigen Worte zu bezeichnen, immer das gallische oder französische nennen. Das gegenwärtig angefangene scheint bisher diese Bezeichnung nicht verändern zu wollen.

97
[276]

DER Mensch gewöhnt sich an alles, lernt endlich alles ertragen; nur habe ich noch keinen gesehen, der sich an Unbedeutsamkeit und Einsamkeit hätte gewöhnen können oder sie hätte ertragen lernen, wenn er eine Rolle am Hofe oder im Staate gespielt hat. Der Kummer, der ihm folgt, verläßt ihn nie und drückt ihm eine Physiognomie auf, die sich von allen Physiognomien des Kummers unterscheidet. Und dieser Kummer drückt sich so leer in solchen Gesichtern aus, daß man vor lauter Mitleiden gähnt, wenn man sie ansieht.

98
[215]

WER eine rechte Schimpf- und Schandrede auf den Egoismus hören will, der bringe den ausgemachtesten Egoisten auf dieses Kapitel. Dieser verficht den Wert und Gebrauch seines Götzen nur dann recht, wenn er den der andern im Kot herumschleift. In dem Augenblick, da er die kleinen Tempel der Götzen andrer niederreißt, glaubt er dem seinen aus den Ruinen ein wohlbefestigtes Heiligtum aufzubauen. Man sagt gewöhnlich, der Egoismus lösche alles Feuer des Enthusiasmus aus, aber der Egoist selbst beweist uns bei dieser Gelegenheit das Gegenteil.

99
[58]

DER HOFMANN: »Es ist doch gottlos und abscheulich, daß die Philosophen, wie man sagt, in ihren Büchern und Hörsälen die Jugend lehren, man könne das höchste Wesen gar nicht begreifen, sein Dasein gar nicht beweisen. Ich bin kein Philosoph und begreife es.«

DER PHILOSOPH: »Nichts ist natürlicher, da Sie Ihr höchstes Wesen tagtäglich mit Ihren eignen Augen sehen und mit Ihren Ohren hören.«

100
[239]

EIN Neuling ganz sonderbarer Art in der Welt ist ein Mann, der von Jugend auf am Hofe gelebt hat, endlich bis zum Günstling emporgestiegen ist, dann fällt und endlich unter andern, mit andern Menschen leben muß. Da er nie das geringste Bedürfnis für seinen Leib, Lebensgenuß und Unterhalt bezahlt und durchaus auf Kosten des Fürsten gelebt hat, folglich den Preis und Wert keines Dinges kennt, so erschrickt er über die kleinste Ausgabe; und muß er auch nur ein Paar Schuh oder einen Wagenriemen bezahlen, so schreit er laut auf, man betrüge ihn, das ganze Menschengeschlecht sei gegen ihn verschworen.

101
[215]

ES gehört hohe moralische Kraft dazu, den Verstand durch Welterfahrung, durch tätiges Geschäftsleben und in dem Umgange mit höhern Ständen aufzuklären, ohne daß das Herz in[47] dieser Schule auftrockne. Ich kenne darum nichts Interessanteres als einen welterfahrnen Mann mit grauen Haaren, der nach ehrenvollem, tätigem Leben zu seinen Verwandten und Jugendfreunden zurückkehrt und den alle, obgleich die Zeit sein Äußeres verwittert hat, doch noch an seinem gesunden Herzen, seinem Geist, Sinn und seiner Denkungsart wiedererkennen. Dieses nenne ich: den Kern im Menschen aufbewahren, und darauf arbeite ich, überzeugt, daß der innere Mensch nie altert, wenn Verstand und Herz sich nicht trennen. Mir ist die Morgenröte der Jugend noch nicht untergegangen; ist ihre Farbe auch nicht mehr so glühend, so ist sie um so sanfter und milder, und der Geist sieht leichter die Bilder, die hinter dem schimmernden Dufte schweben.

102


DIE schönste, seltenste und glücklichste Vermählung unsrer Geisteskräfte ist die der hohen dichterischen Einbildungskraft mit der Vernunft des Mannes von Geschäften, der in der Welt lebt, leben muß und Dichter bleiben will, weil er hierin seinen schönsten Genuß, seine festeste Stütze findet. Aber er muß sich hüten, daß die bilderreiche Gattin nicht über den ernsten, strengen Gemahl den Meister zu sehr spiele. Dieser muß die Kunst verstehen, die Warme, Begeisterte zum sanften Schlafe zu bereden, wenn er im tätigen Leben wirken und handeln soll. Alles, was dem Liebenden verstattet werden kann, ist, zuzeiten der süßschlummernden Geliebten heimlich einen Kuß zu rauben, damit das Herz während der Trennung nicht allzusehr verkalte. Nur wenn der ernste Gatte nach geendigter Tagesarbeit in das stille, heimliche Kabinett tritt, darf die holde Schlafende ganz erwachen.

Was mich ärgert, ist, daß ich um gewisser Leute willen sagen muß, daß darum ein solcher Mann weder Verse noch poetische Prosa zu machen braucht, um Dichter zu sein.

103
[48]

ICH habe so viel von engelreinen Seelen in deutschen Romanen gelesen (gesehen habe ich noch keine), daß ich herzlich wünsche, wenn wirklich solche Seelen im Vaterland existieren oder vegetieren, daß einmal plötzlich ein erzreiner Engel einer solchen »schönen Seele« erschiene, sich unzertrennlich ihr zugesellte und sie auch in keiner Lage des Lebens verließe. Daß er mit ihr schliefe, mit ihr zu Tisch, in Gesellschaft ginge, mit ihr ... Ich wette, die engelreine Gesellschaft würde ihrer Menschheit am Ende so lästig werden, daß sie ihn kniend flehen würde, sie zu verlassen; und ginge es so nicht, so glaube ich beinahe, sie würde zu Torheiten (die Franzosen nennen es Sottisen) ihre Zuflucht nehmen, um des lästigen Gastes los zu werden. – Ein Stoff zu einer Novelle oder einem Roman; ich gebe ihn denen preis, die auf solche »schönen Seelen« gestoßen sind.

104
[480]

ICH halte dafür, daß in der jetzigen bürgerlichen Verfassung der freiste Stand – der nämlich, in welchem man seinen natürlichen Charakter und eine bestimmte Denkungsart am meisten beibehalten, folglich von seiten des Geistes, am unabhängigsten leben kann – der Soldatenstand ist. Wenn man rechts, links, vorwärts marschiert, den Befehlen gehorcht, zu befehlen versteht, so kann man im übrigen (vorausgesetzt, man wolle nicht durch Schleichwege sein Glück machen) so frei, gerade und kühn verbleiben, als es die Natur mit einem gemeint hat.

Setzt man noch hinzu, daß ein solcher Mann das Glück hat, bei einer schönen Gelegenheit von einer Kugel am rechten Fleck getroffen zu werden, auf freiem Felde, in frischer Luft, unter dem hohen blauen Gezelt des Himmels, ohne Chirurgus, Feldarzt und Feldpriester in der Seligkeit seines Berufs aus der Welt zu gehen, so muß man sagen, er ist so unabhängig und frei gestorben, als er gelebt hat.

105
[44]

DIE katholische Religion hatte einen besonderen Einfluß auf die Politik; sie gab ihr einen priesterlichen Anstrich, das heißt, sie machte sie raffinierter, listiger, heuchlerischer, härter, gewandter, stolzer, demütiger und vielleicht tückischer. Man kann noch die jesuitische reservationem mentalem hinzusetzen. Sollte es daher kommen, daß es eine wahre Priesterreligion ist, daß ihr Haupt, der Papst, ehemals der Schulmeister der Politik in Europa war?

106
[385]

ALLE Wissenschaften und Kenntnisse sind in unserm blühenden Europa verhältnismäßig im Steigen. Die Chemie, Naturlehre, Kriegswissenschaft, Politik, ja selbst die Theologie schüttelt in Deutschland den Schulstaub ab und scheint Religion werden zu wollen – und nun gar die Philosophie! Sollte dies nicht die immer steigende Veredlung des Menschengeschlechts beweisen, an welcher so viele zweifeln? Oder werden wir nur reicher an Kenntnissen und ärmer an wirklichen Tugenden? Und doch müßte das letzte nicht der Fall sein, wenn der schöne Traum wirklich in Erfüllung gehen sollte! Unsre Väter wußten weniger als wir; und dennoch glaube ich, daß zu ihrer Zeit, um nur bei dem lieben Vaterlande stehen zu bleiben, mehr Tugend und Rechtschaffenheit in Deutschland zu finden war als jetzt. Bessere Köpfe sind wir, das ist ausgemacht; aber der Kern des Menschen scheint sich mehr zu verhärten. Setzt man aber diese steigende Veredlung des Menschengeschlechts in allgemeine Kultur und Verfeinerung des Verstandes, so ist das ganze Ding weit faßlicher: so veredelt sich, was lesen und denken will, was gelehrt wird. Das Wort Humanität ist indessen auch stark in Gang gekommen; und in der Tat, man ist gezwungen, einige Dinge feiner zu machen als vormals.

107
[436]

EINEM Fürsten ist vieles möglich; nur zwei Dinge vermag auch der mächtigste nicht: daß der Staat, dem er vorsteht, nicht bestohlen werde und daß seine Untertanen immer Gerechtigkeit erhalten. Der Despot vermag beides noch weniger, wenn er nur als Despot regiert; denn unter ihm eilt jeder Beamte, für sich zu ernten, eh' ein andrer über die Saat herfällt. Auch denkt er, er bestehle weniger den Staat als den Herrn und die Günstlinge.

108
[223]

DER leerste, für unsern Geist ermüdendste Aufenthalt sind die Prachtzimmer der Großen, in denen wir allein auf Audienz warten müssen. Alles, was man da stehen und hängen sieht, scheint[179] gar nicht zum Gebrauch bestimmt; man kann sich an keinen Gegenstand anschließen, durch kein Gerät mit dem Besitzer in ein vertrauliches menschliches Verhältnis treten. Alles, was um einen her steht und hängt, scheint dem Besitzer so unnötig und überflüssig zu sein, daß, wenn nun das Warten gar zu lange dauert, man sich endlich selbst zu den ihm unnötigen und überflüssigen Geräten rechnet.

109
[180]

WENN ich begreifen könnte, wie eine Katze maust, die man gleich, noch ganz unerfahren in dieser Jagd, von ihrer Mutter weggenommen hat, wie man zum Dichter wird – wie Homer, Shakespeare, Milton und Klopstock –, wie man in einem moralisch-verdorbenen Staate ein rechtschaffener Mann bleibt, wie die Gesellschaft überhaupt mehr durch den bloßen Glauben an Tugend und Religion als die Sache selbst besteht, wie diese beiden sich auch in der verdorbensten erhalten und fortwirken: so wollt' ich kein Buch mehr lesen und als Menschenlehrer auftreten. So kann ich nur träumen, sehen, hören, bemerken und vergleichen und dann faseln wie jeder andre, wenn ich etwas mehr tun will.

110
[281]

ICH wundere mich nicht, daß man der Kirche in dem Papst wieder ein sichtbares geistliches Haupt hinstellte. Das neue Konkordat, welches mit dem Papste abgeschlossen worden ist, muß ein merkwürdiges Dokument zur Geschichte des menschlichen Geistes sein. Beweist es auch nicht die Stärke des Papsts, so[385] beweist es doch gewiß, was ein Kultus vermag, den Priester länger als tausend Jahre zu ihrem Vorteil gepflegt haben. Von der Religion kann nicht die Rede sein, das ist ein ganz anderes Ding, und darüber hat man nie ein Konkordat geschlossen. Auch hatte man wahrscheinlich einen ganz andern Zweck dabei. An den bekannt gewordenen Palliativen sieht man, daß der Papst, die Kardinäle und die Erzbischöfe ganz in dem rechten Sinn ihres Standes handeln: »Laßt uns nur hinein! Räumt uns nur ein Haarbreit ein, für das übrige wollen wir schon sorgen.« – Ich fürchte, Frankreich wird alles das an diesen Palliativen erfahren, was ein chronisch Kranker bei ihrem Gebrauch erfährt. Die heimgekehrten Priester werden nie vergessen, daß man sie einst auf Diät gesetzt hat. Versucht es nur mit den Jesuiten! Als die Französische Revolution die drohende Wendung nahm, eilten sie zu allen Fürsten Europas, von welcher Religion diese auch waren, schrien laut und lispelten leise: »Da seht ihr die Folgen unsrer Auflösung! Euch und die Bourbone[n] rettet nun nichts mehr als unsre Herstellung!« Sie dachten nur an ihre eigne Herstellung. Die Furcht macht leichtgläubig; sie erregt die Leidenschaften, besonders bei Fürsten, denen gewisse Leute aus gewissen Ursachen immer nur eine Seite, und zwar die jenen gefallende, zeigen. Dieses geschah in vollem Maße, im Anfang und während der Fortdauer der Revolution, veranlaßte alle Fehlgriffe und machte Frankreich zu dem, was es ist. Dies nennt man: teil an dem Schicksal der Fürsten nehmen, sich ihnen recht ergeben erzeigen, und so betrog man viele derselben in der fürchterlichsten Stunde, die je die Uhr der Welt für Fürsten schlug. Auch machte die Vorstellung der Jesuiten, die zu andern Zeiten Unwillen erregt hätte, auf viele sehr kluge Leute Eindruck; vielleicht dauert er noch. Später wandten sie sich an einen großen Monarchen und bewiesen auch ihm: daß nur durch sie der Thron der Bourbone[n] hergestellt und Europas Völker von ihrem Wahnsinn geheilt werden könnten. Sie faßten Fuß, die Sache ging vortrefflich, und es war viel von dem Einfluß eines so großen, stark–, kühn- und schnellwollenden Monarchen für sie zu erwarten. Aber[386] nun machten sie einen Schüler – nein! – einen Pfaffenstreich, den ich von Jesuiten, die so leise gehn, nicht erwartet hätte. Ich würde sagen, die Vorsicht mischte sich drein, wenn ich diese in die Torheit eines Jesuiten mischen möchte. Im Taumel des Glücks fragte einer ihrer Feinsten, der ihr ganzes Werk geleitet hatte, den Monarchen, wie sie sich benehmen sollten, wenn einer seiner Untertanen zu ihrer Religion übergehen wollte? Der Monarch durchdrang auf einmal den Jesuiten und Jesuitismus, die Täuschung verschwand, eine nähere Furcht vertrieb die entferntere, ihr Werk zerfiel von diesem Augenblick an und hätte sich – hat sich, wenigstens in diesem Lande, nicht wieder aufgerichtet. Aber wer hätte dies auch von einem Jesuiten erwartet?

111


DIE Katholiken mögen die Protestanten immer Ketzer schelten; das, was sie von Aufklärung erhalten haben, sowie die wenige Geistesfreiheit, deren sie genießen, verdanken sie ihnen doch, und sie lohnen es, wie Menschen immer Wohltaten lohnen.

112
[387]

DIE kalte Vernunft, besonders die jetzt in der Philosophie herrschende und durch sie zur Herrschaft strebende, verachtet alle Schwärmerei und allen Enthusiasmus. Gleichwohl würde sie noch heute nicht wagen, sich so keck zu zeigen, wenn diese beiden kühnen Waghälse ihr nicht den Weg gebahnt hätten. Die kalte philosophische Vernunft ist wenig zum Wagen geneigt, sie heilt vielmehr das Herz von allem kühnen Unternehmen. Es waren keine kalten, vernünftigen Philosophen, sondern dichterische Köpfe, die über die Mißbräuche aller Art, oft auf Gefahr ihres Daseins, herfielen. Leute oder Geister dieses Gehalts schlugen so lange auf den irrigreligiösen, irrigpolitischen und irrigmoralischen Schleier, der die Augen des Menschen verhüllte, bis er hin und wieder zerriß und freiere Aussicht verstattete. Nur sie bringen laut in der Leute Mund, wovon der ganz vernünftige Philosoph in seinem Kabinett schreibt und spricht, und sind, wie gesagt, die Waghälse der politischen, moralischen und religiösen Welt.

113


DER Streit, der gegenwärtig zwischen den kaltvernünftigen und den warmen, gefühlvollen Philosophen herrscht, gleicht dem Kampfe zwischen der sogenannten ganz neuen Souveränität des Volks und der tausendjährigen Erfahrung dagegen. Er muß auch ein gleiches Ende nehmen; die Anmaßungen werden dann[415] bescheidner werden und das Resultat nach Beendigung des Streits für beide Teile gleich vorteilhaft ausfallen. Sie werden sich ineinander verschmelzen. Wenn die Kämpfenden des Streits müde sind, so sieht sich jeder nach seinem wahren Standpunkt um und tritt in seine Grenzen zurück. Nur ein Unterschied wird übrig bleiben, und er ist beträchtlich. Jener Kampf bedeckte das Schlachtfeld mit Leichen, dieser bedeckt es mit Büchern. Ach, das Vergessen erwartet beide zugleich, und kaum zeichnet man die Anführer auf!

114


GEFÜHL und Vernunft sind die Sonne und der Mond am moralischen Firmament. Immer nur in der heißen Sonne, würden wir verbrennen, immer nur im kühlen Mond, würden wir erstarren.

115
[416]

WENN die Fürsten wüßten, wie das bloße Anerkennen des wirklichen Verdiensts die Herzen ihrer Staatsdiener, von welchem Range sie auch seien, erhebt, ihr ganzes Dasein beseligt, wie es alles Bittere der vorigen Vernachlässigung vergessen macht, wie es ihnen auch die schwerste Arbeit versüßt, ihre Fähigkeiten dazu entwickelt, ihre Moralität und dadurch die Moralität anderer verbessert, sie würden sich's zu einer der ersten Pflichten machen, wahres Verdienst zu erforschen, anzuerkennen und zu belohnen. Aber es gehören so viele glückliche Umstände für den Fürsten und den Staatsdiener dazu, daß die Ausübung dieser Pflicht zu den schwersten und seltensten gehört und darum auch den glücklichen Erfolg nicht haben kann, den ich jedem solchen Fürsten so herzlich wünsche.

116
[133]

OHNE die Eitelkeit erwachten die Fähigkeiten der meisten Menschen nicht, der Weiber ihre blieben nun gar tot. Sie wirkt im gesellschaftlichen Leben mehr als selbst Hunger und Durst, ja man opfert ihr sogar oft das möglich Entbehrliche dieser Bedürfnisse auf. Je eitler der Mensch, je tätiger ist er; dieses beweisen uns ganze Nationen. Sie ist die wahre Königin der Welt, die große Wundertäterin, und wäre sie nicht da, so müßte man sie zu erschaffen suchen. Und ist sie nicht mehr eine liebenswürdige als schädliche Närrin? Spielt sie auch die Meisterin zu sehr, so bringt sie doch immer nur Torheiten hervor, die meistens andern nützlich sind oder durch ihr Lächerliches unterhalten. Da hingegen ihre höhere Veredlung, der ernste Stolz, das Großgefühl, das erhabne Bewußtsein der Geisteskräfte, Stärke und Macht andere niederdrücken und ebenso leicht zu großen als gefährlichen Taten reizen. Die erstere flattert immer wie ein Schmetterling umher; ihre ernsten Geschwister betreten oft mit erschütterndem Schritt die Grenzen des Verbrechens, und setzen[58] sie auch nicht immer die Welt in Flammen, so machen sie doch die Gesellschaft erstarren, in die sie ihre hohe Würde tragen. Die Eitelkeit scheint mehr die Zugabe der mittlern Stände zu sein, der Stolz nebst seinen Nebengefährten mehr das Eigentum der Höheren, das heißt: der Leute, die sich im Besitz des Welttheaters fühlen. Empört bei den erstern der Stolz, so beleidigt die Eitelkeit bei den letztern; denn sie ist bei ihnen mehr ekelhaft als lächerlich. Da Männer, die weder von der einen noch von dem andern so weit beherrscht werden, daß sie ihr Wirken und Tun bestimmen, zu seltene Ausnahmen sind, so lassen wir diese unberührt; gleichwohl lebt keiner auf Erden und hat darauf gelebt – vorausgesetzt, er sei nicht von frühster Jugend auf eine einsame Insel ausgeworfen worden –, auf den nicht die Eitelkeit zuzeiten ihre Rechte ausgeübt hätte. Der Funke, den Prometheus vom Himmel stahl, um das Menschending oder den Menschenklotz zu beleben, war gewiß die Ausbeute der zusammengesetztesten und wunderbarsten chemischen Operation, vielleicht der feinste, lebendigste Extrakt aus dem unendlichen physischen und moralischen Reiche. Aber wie schlich sich das windige, luftvolle Ingredienz der Eitelkeit in die Operation und wie veranlaßte sie nicht die Verpuffung des Ganzen? Woher kam es? In der physischen und bloß tierischen Welt existiert sie so wenig wie ihre höheren Konsorten; da wirkt nur Kraft und Instinkt. So wenig man dem nachrechnen kann, der den Menschen zu so verschiednen Zwecken so gebildet hat, so gewiß ist der reine Mensch eine bloße Null, die die Gesellschaft erst durch Entwickelung zweckmäßiger sinnlicher Triebe, die ihm der Moralist zum Vorwurf machen muß, um sie zu zügeln, zur Zahl macht. Sie setzt die Nenner zu dieser Null. Alles jetzt Berührte gehört zu den großen Zahlen, die allergrößte aber, die aus diesen großen zusammengesetzt wird, vermögen wir so wenig auszusprechen als die unendliche Zahl. Selbst die Newtone, Euler, Laplace und Lagrange vermöchten es nicht.

117
[59]

WIR hassen alle den Despotismus, und gewiß mit Recht; gleichwohl übt ihn jeder mehr oder weniger aus – ein Beweis, daß wir alle überzeugt sind, es gehöre etwas Gewalt dazu, das gefährliche Menschentier in Schranken zu halten. Das Gesetz kann nicht allen Übertretungen, besonders den kleinen, sich jeden Augenblick im menschlichen Verhältnis ereignenden vorbeugen, und gewöhnliche Menschen, deren Zahl die größte ist, müssen zur Erfüllung ihrer Pflichten gestoßen werden. Ist dieses auch kein Despotismus, so trägt es doch die Miene desselben und muß sie tragen. Man versuche es auf einem bedeutenden Posten, nur in seinem Hause mit dem ganz milden, nachsichtigen, liebevollen, humanen Geist, und man wird bald fühlen, daß, wenn man andre nicht ein wenig despotisiert, man gewiß von ihnen despotisiert wird.

118
[60]

ICH wünschte eine Geschichte der Päpste von einem Manne zu lesen, der die Darstellungsgabe Voltaires mit dem kalten philosophischen Forschungsgeist Gibbons, den dieser uns in seiner Kirchengeschichte zeigt, verbände. Er würde uns eine Geschichte des menschlichen Geistes von vierzehn Jahrhunderten geben. Der es aber unternähme, müßte Sekte, Vaterland, Meinung und alle Vorurteile vergessen können. Der unbefangene Verstand müßte immer wachen; das, was wir erfahren, lernen und bemerken sollten, müßte nur aus den Taten und Handlungen hervorgehen und der Geschichtschreiber selbst unsichtbar sein.2

119
[249]

UM eine recht ästhetisch wirkende Geschichte der Französischen Revolution zu schreiben, müßte man die Kunst verstehen, alle die merkwürdigsten Begebenheiten, wie sie aufeinander folgen und eine aus der andern fließen, in einem kräftigen, feurigen, kurzgedrängten Stil, ohne Anmerkungen, Gemälde, Porträts, Deklamation und ohne Schimpf und Lob darzustellen. Jede Begebenheit müßte überdem so erwiesen sein, daß auch der keckste Zweifler und der bestimmteste Parteigeist, von welcher Meinung er sei, nichts dagegen aufzubringen fände. Würde dieses Werk so ausgeführt, welch eine Beschäftigung für unsern Verstand, unsre Einbildungskraft und unser Herz! Aber würde man auch das schreckliche, empörende, zermalmende Gemälde in seiner nackten Wahrheit ertragen können?

120
[259]

DAS Feuer des Unwillens über Torheit und Laster entzündet den Witz zum kühnen Sarkasm[us], der Spott reizt ihn zum spitzigen Epigramm. Der erste entspringt aus einem starken Gefühl; indem dies den Witz berührt, durchglüht es ihn auch, und ebenso schnell springt das elektrische Feuer in die Seele, das Herz und die Einbildungskraft des Hörers. Mit einem Zug entwirft er ein vollendetes Gemälde aus der moralischen Welt; aus[470] den kühnen Gedanken wird ein feuriges Bild, das aus dem Spiegel der Wahrheit glühend herausleuchtet. Der Witz spielt um das Lächerliche, er spitzt in Ruhe den Pfeil und fixiert den Verstand auf den ins Auge gefaßten Punkt. Der Sarkasm[us] wirft eine Fackel in das Dunkel des menschlichen Wesens; schleudert er sie auf den einzelnen, so steht er, wie in einer schnell erleuchteten Höhle, mitten im Feuer. Das Epigramm deutet nur mit dem Finger auf die Toren, und sie ziehen vorüber.

121
[471]

ES gehört viel dazu, daß sich ein Mann, dem, wie man zu sagen pflegt, das Herz überfließt, in der Gesellschaft erhalte; am Hofe ist es gar ein Wunder. Ich rede nicht von einem Narren (so, wie unsre Nachbarn sagen), der aus Geschwätzigkeit und Unbesonnenheit überfließt. Ich spreche von einem Manne, der zu spät an den Hof und unter die feine Welt gekommen ist, der zu steif durch den moralischen Panzer, den er sich selbst geschmiedet und angelegt hat, aller fernern feinen Erziehung unfähig ist, der, selbst edel, rasch fühlend, offen, wahrhaftig und bieder, nur Leute solcher Art aufgesucht hat und, wenn er sie nicht fand, sich, nach Erfüllung seiner Pflicht, in seinen einsamen Zimmern[15] aufhielt. Berührt man vor einem solchen Manne eine schlechte, verdächtige Sache, so bezeichnet er sie, gereizt von der schonenden Höflichkeit der Anwesenden, mit einem Zuge, fährt immer mit der Wahrheit grade heraus, ohne zu bedenken, ob sie die Anwesenden ertragen können oder ertragen dürfen. Selbst gleichgültigen Dingen gibt er durch Wärme, eigenen Ton und feste Art ein Gewicht, die die wichtigsten in dem Munde anderer nicht haben. Aus mutvollem Vertrauen auf sich, aus Gewohnheit und einer gewissen vertraulichen Gutmütigkeit und arglosen Absicht teilt er selbst an der Tafel seines Monarchen, wenn ihm Umstände diese Ehre verschaffen, seinen Nachbarn Gesinnungen über berührte Gegenstände und Personen mit, daß diesen dunkel vor den Augen wird. Man muß so etwas gesehen und erfahren haben, um daran zu glauben und noch mehr, wenn ich hinzusetze, daß man einen solchen Mann ruhig hinlaufen läßt, hat man sich erst fest überzeugt, er strebe nach nichts weiter und lasse sich die Erfüllung seiner Pflicht g[e]nügen. Alles, was man dann tut, ist, daß man ihm ein Beiwort zu seinem Namen hinzusetzt.

122
[16]

EIN Mann, der immer gesund gewesen ist, kennt sich und den innern Menschen nur vom Hörensagen. Krankheiten entwickeln Kenntnisse von Dingen in ihm, die er vorher gar nicht geahndet hat; es ist, als wenn Abspannung, Schwäche, zu gespannte Kraft, Nervenreiz, Fieberhitze und ihr ganzes häßliches Gefolge die innere Seele so ängstigten, daß sie nun im Drang ihrem eignen Besitzer die längst verborgenen Geheimnisse offenbaren müßte. Wir erstaunen dann, daß ein so sonderbares und wunderbares Ding in uns lebt und gelebt hat. Wir treten hier durch physiologische und psychologische Selbsterfahrung in eine uns ganz[281] unbekannte moralisch-physische Welt voller Wunder in uns selbst. Viele Leute erfahren auch nur alsdann erst, daß etwas in ihnen lebt, das sich mit nichts vergleichen läßt. Sagt man ihnen, das Ding ginge ganz natürlich und animalisch zu, so macht man ihnen das Rätsel noch dunkler. Der Seelenkranke endlich, der übrigens mit seinem Körper zu leben und zu handeln scheint wie wir, ist gewiß eine der geheimnisvollsten Aufgaben für den denkenden Mann, und hier löst man nichts mit einem Machtspruch auf. Was weiß ich, wenn man mir sagt, dieser Zustand rührt von physischen Ursachen her? Wenn ich etwas sehen möchte (um etwas recht töricht Unmögliches zu wünschen), so wäre es eine kranke Seele, während sie ihr Körper martert, und dann möchte ich sie wiedersehen, wenn sie ihren Körper verlassen hat.

123
[282]

EIN Mann, der immer mit festem Sinn nach Maximen und Grundsätzen in der Welt handelt und doch sein Glück machen will, kömmt mir wie ein Feldherr vor, der Schlachten großer Vorgänger kopiert, sie ausführt, ohne die Stellung des Feindes damit verglichen oder die seine darnach beurteilt zu haben; oder wie einer, der sich zu einem Zweikampf bewaffnet, ohne zu wissen, mit was für Waffen sein Gegner ihm entgegentreten wird. Der wahre Glücksjäger tritt ohne alle Waffen auf, er verbeugt sich vor jedem Kämpfer, zeigt gar keinen Mut, fällt vor jedem Streich besiegt nieder – und steht doch endlich als Sieger auf, da im Gegenteil der erste, wenn ihm auch durch Zufall ein glücklicher Streich gelingt, der endlichen Niederlage gewiß am nächsten ist. Soll man also weder Maximen noch Grundsätze haben? Das sage ich nicht; ich sage nur, daß der Mann, der sie zum Glückmachen brauchen will, nicht vergessen muß, daß, sowenig zwei Blätter der größten Eiche oder aller Bäume eines ganzen Waldes sich einander gleichen, ebensowenig gleichen sich zwei Lagen im menschlichen Leben, und daß es nicht mit der Maxime allein gelingt, sich in diese ungleichen Lagen hineinzuschicken.

124
[330]

IN Wielands vortrefflichen, einzigen Gedichten ihrer Art – als »Musarion«, »Oberon«, den Rittergedichten, Märchen usw. – herrscht eine griechisch-italienische Phantasie, mit deutschem Gefühl erwärmt und durch schöne, menschliche Philosophie veredelt. Ich habe ihn noch nicht als Dichter genannt; aber braucht man den zu nennen, der ganz Europa gezeigt hat, daß die Grazien im Geleite schöner Weisheit – und doch ohne fieberhafte Überspannung –, immer gefälliger Dichtung, feiner Sinnlichkeit und Harmonie der Sprache auch in einem Deutschen sich vereinigt haben? Von allen unsern Dichtern ist er derjenige, welcher den Ausländern am meisten gefällt und gefallen mußte. Seine Stoffe gehören allen Völkern und liegen der Phantasie eines jeden gleich nah; und ob ihm gleich die Behandlung derselben[458] eigentümlich zugehört, so ist sie doch dem Geiste jedes kultivierten Volks angemessen. Wieviel könnte man nicht noch über ihn sagen? Es sei genug, wenn ich hinzusetze: Er allein hat den sanften Rosenschimmer über unsern Parnaß gezaubert, der die grelle, ernste Farbe desselben erheitert und das düster erhabene, ihn oft verhüllende Gewölke erhellt.

Wer ihn hier verkennt, dem haben nie die Musen gelächelt; aber vielen ihrer sein wollenden Priester in Deutschland lächeln die Musen nie.

125
[459]

DIE Spanier und Italiener hatten politische Schriftsteller; die Engländer und Franzosen hatten ihrer, haben ihrer noch: Nur wir Deutschen haben keine. Unsre Staatsleute schreiben nicht, und unsre Gelehrten arbeiten noch immer an den Elementen. Sie sind noch immer mit dem Natur- und Völkerrecht beschäftigt; und wahrlich, übte man diese nur erst gegen die armen Reichslande aus, wir könnten der übrigen Staatsrechte entbehren. Indessen beschäftigen sich unsre gutmütigen Gelehrten mit der Statistik, die ihnen eigentümlich zugehört, und nicht zufrieden, daß sie ihren Völkerhirten die Herde zählen und deren Ertrag berechnen, tun sie es noch für alle Völkerhirten Europas.

126
[451]

DER gemeinnützige Schriftstellergeist der Deutschen zeigt sich auch darin, daß er den Engländern und Franzosen Verzeichnisse ihrer Schriftsteller liefert. Das Ding liegt ihnen so nah, so sehr am Herzen, daß sie fürchten, es könnte gar einer von diesen Völkern vergessen werden. Übrigens geht hier auch eigner Vorteil mit dem gemeinen Besten Hand in Hand, und so muß es im literarischen wie im bürgerlichen Verkehr gehen, wenn der Staat blühen soll.

127


WENIGSTENS erwerben sich unsre Gelehrten das Recht, über die Literatur andrer Völker zu reden, da sie die Sprachen aller kultivierten Völker Europas lernen und ihre Schriften in dem Original lesen können. Die Engländer und die Franzosen rechnen es sich einander hoch an, wenn sie einige lebende Sprachen gelernt haben; der bescheidene Deutsche nennt es kaum ein Verdienst. Er denkt, es sei ein Werkzeug mehr, ohne welches er sein Gewerbe nicht nützlich und aufrichtig treiben könnte. Und an seine Bescheidenheit gewöhnt, zählt es ihm auch weder der Engländer noch der Franzose zum Verdienst.

128
[452]

WAS eine Schrift von einem großen Mann bewirken kann, beweist die echt königlich schale Schreiberei des Größten der Könige über die deutsche Literatur. Wie viele im Ausland und besonders Männer von höherm Stande, die sich so gern durch einen Machtspruch von aller weitern Mühe befreien und sich[499] ebendarum für die ausgemachtesten Richter der Sache halten, urteilen nach dieser Schrift über uns ab! In fünfzig Jahren, und drückte auch die deutsche Literatur alle Literatur der Ausländer nieder, wird dieses Urteil noch spuken. Es sind noch nicht zwei Jahre, daß mir ein Mann dieser Art geradezu sagte, wir hätten keinen andern Roman als den im Irrgarten der Liebe herumtaumelnden Kavalier. Ich zitierte zur Antwort seine Quelle, und die Sache war zwischen uns abgetan; denn streiten muß der Deutsche nicht mit dem Ausländer, er muß ihn durch Taten besiegen. Hierin nur hat er es getan und wird es ferner tun.

129
[500]

MAN sagt sprichwörtlich: »Der große Mann ist es nicht vor seinem Kammerdiener«; ich möchte hinzusetzen: Welch ein unerträglicher Mensch müßte der große Mann sein, der es auch vor seinem Kammerdiener wäre! Der wahrhaft große Mann ist es nur am gehörigen Orte, an der rechten Stelle, im übrigen ist er wie unsereiner, und je mehr seine Größe unter dem Natürlichen und Gutmütigen vor unsern Augen verschwindet, je mehr fühlen und erkennen wir sie, und auch nur so können wir sie lieben. Nicht die Kraft und ihre immer gespannte Darstellung, die kleinen menschlichen Schwächen oder die Herablassung durch Güte dazu machen liebenswürdig. Der große Mann zeigt uns alsdann, unser aller Mutter sei auch die seine, er bleibe ihr getreu und sei uns noch nah verwandt!

130
[314]

ICH habe viele große Männer und berühmte Schriftsteller genannt, aber noch nicht den reinsten, moralischen Menschen, der mir in einem Leben von beinahe fünfzig Jahren vorgekommen ist. Dieser war Georg Schlosser aus Frankfurt am Main, der daselbst vor kurzem als Syndikus sein schönes Leben endigte. In ihm hatte sich die menschliche Natur veredelt, und er selbst leitete sein ganzes Leben hindurch alle seine erworbenen großen Kenntnisse nur auf diesen Zweck. Kein unreiner Faden läuft durch das reine Gewebe seines Lebens – und er führte ein sehr tätiges Leben. Ich möchte sagen: Nur die Tugend war sein Genie und machte es aus; so kräftig, so ganz und vollendet stellte er sie dar. Daß er mein Freund bis zum letzten Augenblick seines Lebens war, meiner in der langen Abwesenheit gedachte, wie ich seiner, und wir, entfernt und nah, immer in gleichem Geist verbunden blieben, rechne ich zu dem wichtigsten Gewinn meines Lebens. Wann ich einst den[303] deutschen Boden wieder betrete, dann werd' ich erst recht seinen Verlust fühlen. Da er den Ort lange verlassen hatte, wo wir uns zuletzt und so lange sahen, so konnte ihn mein Geist in den neuen Verhältnissen ohnedies nicht mehr an Ort und Stelle gegenwärtig denken.

131
[304]

DAS Immer-Große oder Ganz-Große bringt endlich die nämliche Wirkung hervor wie das Erhabene: Es macht erstarren. Die Seele ist erst ganz gedrängt voll davon, und dann erfolgt eine Leere, weil der Geist allein wirkt und seine Verbindung mit dem Herzen während dem Staunen aufgelöst zu sein scheint. Zum wahren, dauernden Genusse gehört das letztere unbedingt dazu. Der Mensch ist froh, wenn er nach dieser Bewunderung wieder auf etwas stößt, wo sein Herz auch mitspricht.

132


ES ist nichts Empörenders für den Verstand und das Gefühl, als wenn man in einem berühmten Manne durch nähere Bekanntschaft die Entdeckung macht, er sei der Taten selbst nicht[314] wert, die er ausgeführt hat und die ihm doch den Ruhm und sogar die Unsterblichkeit in der Ferne zusichern. Man zankt in innerm Groll mit allem dem, was sich in das Wesen der Menschen mischt und ihr Schicksal leitet. Wer nie geglaubt hat, ein blinder Zufall herrsche in der Welt, glaubt es doch in diesem Augenblick, um sich aus dem unangenehmen Gedränge herauszuwinden. Lernen wir einen wirklich großen Mann kennen und finden ihn seines Ruhms würdig, so macht er, wenn er klein von Person ist, einen noch stärkern Eindruck auf uns; sein Geist wird um so größer vor unsern Augen, denn wir wundern uns, wie er Raum in dem kleinen Körper gefunden hat, und denken vielleicht dunkel an die Anstrengung gegen das Physische, die seine Entwickelung erforderte. Ist aber der Mann seines Ruhms unwert, so schrumpft dieser um so mehr vor uns zusammen, als der Mann groß von Wuchs ist. Einer dieser Art, der auf dem Flügel der preußischen Leibgarde stehen könnte, muß die widrigste Wirkung tun. – Wen sollte es nicht ärgern, daß die Natur so viel Stoff verbraucht hat, um uns zu äffen. Wir wissen ja schon, daß er den Tempel der Göttin des Ruhms beraubt hat, während sie schlief oder sonst was tat. Zum großen Mann gehört noch mehr als Taten; zum berühmten mögen sie hinreichend sein.

133
[315]

WER in spätern Zeiten die kriegerischen Taten der Franzosen nebst den Folgen derselben, deren lebende Zeugen wir waren,[270] lesen wird, dem ist es gewiß nicht zu verargen, wenn er sie für außerordentliche Menschen hält; besonders wenn er hinzudenkt, daß sie sich mit Völkern schlugen, die ihnen an Wissenschaft und Kultur gleich waren. Wir wissen, daß sie Men schen waren wie wir, nur von etwas belebt, das den Menschen nicht gewöhnlich belebt. Das Nationale, was man hierbei denken könnte, setzt sich wechselweise ins Gleichgewicht. Ist der Franzose schnell und lebhaft, so ist der Deutsche ausdaurend und geduldig. So denken wir uns auch die Römer in der Entfernung als außerordentliche Menschen, immer mit ernsten, strengen, politischen Tugenden ausgerüstet. Auch sie waren wahrscheinlich Menschen wie wir, gleichfalls nur mit etwas belebt, was nicht gewöhnlich ist. Aber ebendieses ist es, was den Ausschlag gibt von Volk zu Volk, von Mensch zu Mensch. Die Franzosen haben, wie die Römer, ihre Karthaginienser gefunden, aber keinen Mithridat, obgleich genug von dem, was diesen König und sein Haus stürzte. Überdem stritten die Franzosen für sich, ihren Ruhm, ihr politisches Dasein; ihre Gegner für den Sold und den, der ihn reichte. Der Geist der Eroberung und die Begierde zur Beute, die die Römer vorwärtstrieben, blieben den Franzosen auch nicht aus, nachdem sie sich erst selbst in Sicherheit gesetzt hatten.

134
[271]

TRETET einem Hofmann, der das Podagra hat, auf den kranken Fuß, er wird es euch verzeihen, wenn es darum geschieht, ihm Platz zu machen und er dadurch nur um die Länge des schmerzenden Fußes dem Fürsten näher zu stehen kömmt. Ja, er wird euch, geschmeichelt von der erzeigten Ehrerbietung, unter dem ärgsten Schmerz noch zulächeln. Aber der Himmel steh' euch bei, wenn es darum geschieht, ihm vorzutreten.

135


ICH selbst habe den Oberkammerherrn noch gekannt, der so laut und andächtig in der Kirche betete, daß es die ihm Nahstehenden hören konnten: »Lieber Gott, mache doch, daß der Monarch hold auf mich blicke!« Und warum sollte er nicht? Er kannte keine andre Ernte. Und ist die Ernte der holden Blicke des Monarchen für den Höfling oft nicht einträglicher als die Ernte einer ganzen Provinz, die bei zu lange anhaltender kalten Witterung um die Wärme der Sonne zum Himmel fleht? Jeder betet um das, dessen er bedarf, und Gott weiß ja, wozu er, der jedem seine Bestimmung angewiesen, den Hofmann bestimmt hat. Der Oberkammerherr betete in seiner brünstigen Andacht[239] vielleicht etwas zu laut; seine Kollegen tun dasselbe, nur leiser. In recht kultivierten Ländern haben wohl Mütter von Stande den Heiligen Lichter geweiht, vielleicht noch etwas Ehrwürdigeres tun lassen, um ihren Töchtern die Huld des Fürsten zuzuwenden, wenn sie selbst keine Ansprüche mehr darauf machen konnten.

136
[240]

WENN ein Mann ein Buch schreibt, in dem er eigne Gedanken und eignen Empfindungsstoff verarbeitet hat und dabei aufrichtig verfahren ist, so gibt er dem Publikum nicht allein einen Teil seines Selbsts damit, er läßt es sogar in sein Innerstes blicken und überreicht ihm noch obendrein das Maß seiner moralischen Kräfte. Zerreißt sein Werk nur immer; er gab euch doch nur von seinem Überflusse, und das Ganze, das er in sich ausgebildet hat, bleibt ihm unversehrt!

137
[5]

EIN Maler, der eine recht häßliche Fratze so malte, daß sie in einer nicht leicht zu findenden Stellung gegen das rechte Licht nicht sowohl ein schönes als erträgliches Gesicht vorstellte, würde eine Allegorie des menschlichen Wesens in der bürgerlichen Gesellschaft malen.

138
[282]

ICH, der ich an keine Wunder glaube, will ein Wunder, an das ich glaube, erzählen. Ich sehe tagtäglich die moralische Welt, die so tief, tief auf der physischen ruht, daß sie kaum zu unterscheiden sind, von der geistigen an einem einzigen dünnen Haar aufwärts gezogen und sogar etwas emporgehalten. Und das noch größere Wunder ist dieses: daß die ungeheure Masse seit so viel tausendundtausend Jahren dieses einzige dünne Haar nicht zerreißen kann, ob sie gleich durch unartige Wendungen und unaufhörliches Zerren ihr Möglichstes dazu tut.

139


WER es wirklich so weit gebracht hat, daß er sich durch seinen Geist, seine moralische Kraft beherrscht und durch diesen Geist sein und der Menschen Streben und Wirken und die Gründe dazu hell und ruhig durchblickt, der muß endlich an ein höheres, von der Materie ganz verschiednes Wesen in sich glauben, so unmöglich es auch sonst zu begreifen und zu erweisen ist. Darum möcht' ich sagen: daß der sich nach und nach durch Herz und Verstand ausbildende Mensch durch die Übung, die Anwendung seiner moralisches und intellektuellen Kräfte das Bewußtsein eines höhern Wesens in sich erweckt und selbst das geistige, unsterbliche in sich auferzieht; wenn er also auch seine Seele nicht selbst erschafft, so macht er doch das schlummernde, dunkelträumende, wähnende, unstete Ding in sich zu einem wachen, bestimmten, sich ganz bewußten Wesen. So kann nun auch dieses Wesen gleich einer Gottheit in unserm Innern wohnen, und wir können sogar unter seiner Herrschaft etwas von dem unaussprechlichen Genuß empfinden, den wir dem Schöpfer der Welten und Geister nach unsern Begriffen beilegen, und so das Allererhabenste, im Geist zu herrschen und zu wirken, mehr als ahnden.

140
[49]

AUCH ganze Städte hat die allgewaltige Zeit begraben. – Nach Jahrtausenden haben Sterbliche andrer Sprachen, andrer Sitten, andres Glaubens ihre Gräber geöffnet. Da liegen sie wie tote Gerippe an demselben Lichte, das sie einst erleuchtete und ihre verschwundnen Bewohner erfreute. Die Zerstörerin scheint sie aufbewahrt und hervorgezogen zu haben, um uns zu erinnern, daß vor ihr Hütte, Palast, Städte mit Mauern und Türmen einerlei ist.

141


DIE Werke großer Dichter sind voll düstrer Klagen und erhabner Bilder über Vergänglichkeit und Zerstörung; sie fühlen dabei, daß in ihnen die schönste Welt durch beide erlischt, sich auflöst und verschwindet.

142
[249]

DIE schöne, einfache, väterliche, patriarchalische Benennung der Völker als »Herden« und der Fürsten als »Hirten« gewinnt zu unsern Zeiten, und vorzüglich in Deutschland, tagtäglich an Würde und Wahrheit. Man spricht von nichts als von Vertauschung der Länder oder Triften und unterhandelt ohne Aufhören über diesen wichtigen Gegenstand; kömmt endlich das Werk zustande, so werden die Herden ihnen ganz fremde Hirten haben und die Hirten ihnen ganz unbekannte Herden weiden.

143
[123]

DIE Mythe oder Sage, ein Teil der Engel sei gegen Gott, ihren Herrn und Schöpfer, im Anfang der Zeit aufrührisch geworden, ist ganz im Geist und nach dem Herzen der Menschen erfunden. Das unbeständige, kühne, eitle, stolze Ding traut höhern Wesen, wenn es sie denkt oder träumt, nicht mehr Beständigkeit oder Kraft zu, als es an sich kennt, und um sie sich ähnlich zu machen, ziert es sie mit seinen Gebrechen aus. Ich weiß wohl, daß die Priester diese Sage zu einem ganz andern Zweck gebrauchen; ich weiß auch, daß mit dem Glauben oder Unglauben an dieselbe viel von ihrer Sache steht oder fällt. Übrigens kömmt das Gerücht davon aus dem Orient, dem Lande des Despotismus und des Aufruhrs, her, woher uns noch schlimmere Dinge als dies gekommen sind.

144


WENN plötzlich das Wesen aller Wesen den dicken, dunkeln Vorhang wegzöge, der uns seine Geheimnisse verbirgt – ich glaube, die Auflösung derselben würde so einfach erhaben sein, daß das Menschengeschlecht vor Bewunderung erstarrte. Ein recht keck vernünftelnder Philosoph würde vielleicht ärgerlich ausrufen: »Ist es nur das?« Und der Freche würde mit diesen Worten, ohne es zu wollen, das Höchste gesagt haben. Dieses Wesen hat für unser Glück und unsre Ehre dadurch, daß es sich dieses einfach erhabene Geheimnis, wie ich es zu denken[359] wage, vorbehalten hat, zugleich gesorgt. Die Menschen würden es doch nur verunreinigen, wenn sie dann noch etwas vermöchten.

145
[360]

WER recht zur Erkenntnis seiner Unwissenheit gelangen will, muß Metaphysik, Physik und was dazu gehört studieren; hier erfährt er immer, was das Ding nicht ist, das er wissen will; und so liest und studiert er die Geschichte des menschlichen Geistes, wozu ihm weiter nichts fehlt als die in dem unzugänglichen Archiv verborgenen Dokumente.

146
[406]

MICH dünkt, ebendarum, weil dem Menschen der Ursprung seiner meisten moralischen Übel so nah liegt, versteigt er sich in der Höhe und Tiefe, um die Quellen derselben zu suchen. Er könnte sich bei etwas genauer und aufrichtiger Prüfung hundertmal selbst eine klare Antwort geben, bevor er auf einen so verwickelten Fall stieße, der ihn berechtigte, den zu fragen, der alles durch das weiseste Schweigen beantwortet hat. Er sagte zum Geschaffenen: »Geh und wirke nach deiner Kraft!«, und so verwies er den Menschen an sich selbst. Wir sehen täglich, wie der Mensch ihm für diesen Tätigkeitstrieb dankt, wie er ihn benutzt und wie er den dafür zur Rechenschaft zieht, der ihn damit begabt hat.

147


AUCH die jetzt von den Philosophen so sehr verschrienen Endursachen haben dem Menschengeschlecht große Dienste geleistet; wir werfen in unsern blendend hellen Zeiten eine Krücke nach der andern weg; aber laßt euch nicht beunruhigen, es geschieht nur in Büchern und auf Kathedern. Im bürgerlichen Leben hinken auch die kaltvernünftigsten Philosophen auf Krücken einher – wahrlich, sie müßten sonst in der Luft gehen lernen, denn auf der uns und sie ernährenden Erde würden sie, nach ihrer Weise, auf die Nase fallen, und dazu glaubt der Philosoph, wenn er auch keine Endursache gestattet, die Nase doch nicht gemacht.[418] Auch ich liebe Luftschlösser, sie mögen noch so bunt aussehen, wenn man nur nicht verlangt, daß ich darin wohnen soll; und will man es, so muß man mir doch von der festen Erde an eine Brücke oder Leiter aufbauen und hinstellen, damit ich sie ersteigen kann. Doch eine Brücke oder Leiter gehört zum Empirischen. Tritt auch ein Baumeister, wie der edle Friedrich Jacobi, mit Materialien auf, um uns zu einer geistigen Welt sicher zu führen, so erheben andere ihre Luftschlösser so sehr und schnell in die Höhe, daß sie der Kühnste im Fliegen nicht erreichen kann.

148
[419]

WENN – zum Verdruß der Bauliebhaber – die Verwirrung der Sprachen die Vollendung des Turms zu Babel hinderte – so tun die verschiedenen Systeme der Philosophen dasselbe zu unserm Verdruß bei ihrem Gebäude. Der Tempel der Philosophen und der Turm zu Babel bleiben beide nur Fragmente. Vielleicht ist die Verwirrung, welche die verschiedenen Systeme hervorbringen, noch größer als die Verwirrung, welche die verschiednen Sprachen erzeugten. Denn hören wir nicht die größten Baumeister am philosophischen Tempel immer klagen, daß weder Gesellen noch Jungen sie verstehen? Da steht also das philosophisch-papierne Babel im Fragment, und drückt es auch die Erde nicht, so drückt es doch die Köpfe.

149
[406]

WENN das höchste der Wesen die Hypothesen der Philosophen über seine Schöpfung, Welt und Regierung hörte, es müßte, wenn man menschlich von ihm so reden darf, wahrscheinlich, nach Verhältnis, dasselbe Vergnügen empfinden, das ein großer selbstregierender Monarch empfände, wenn er das politische Gewäsch der Müßigen über seine Regierung und die Geheimnisse derselben im Kaffeehause belauschte.

150
[377]

WENN die wahre Dichterei ein Beweis von höherer Moralität (wie ich glaube) in dem Menschen ist, so ist es die veredelte Liebe zwischen den Geschlechtern in der Gesellschaft auch: Die Sinnlichkeit allein hätte dies nicht gefunden, hätte sich auch nicht so verstiegen. Aber ist nicht auch die Liebe Dichterei?

151
[91]

ES ist sonderbar und vielleicht bemerkenswert, daß die einzige in einem republikanischen Geiste geschriebene englische Geschichte von einem Frauenzimmer, der Miß Macaulay, ist, und wahrlich in einem starken, römisch-männlichen Sinn. Sie suchte wahrscheinlich nichts am Hofe; doch war es schon lange vor der Französischen Revolution in England Gebrauch, sich sorgfältig vor allem republikanischen Anstrich zu hüten. Es schien, als wollten die großen Schriftsteller durch ihre Zärtlichkeit für das regierende königliche Haus oder die Minister desselben die Schuld abbüßen, die ihre Vorfahren durch den Republikanismus auf sich geladen hatten. Man glaubt ihnen zuzeiten gar anzufühlen, als schämten sie sich des Vergangenen, so gar unschuldig sie auch daran sind; ich habe nichts dagegen, wenn die Art der Wiederherstellung Karls des Zweiten dieses bewirkt. Darüber muß man Miß Macaulay hören. Selbst Hume, der doch wahrhaftig als Philosoph skeptisch und republikanisch genug ist, zeigt sich, und besonders in der Geschichte der Stuarts, als die gläubigste und gutmütigste Seele. Selbst der Papismus ist ihm hier weniger zuwider als der Republikanismus, und hätte er, der Allerungläubigste Englands als Philosoph, ganz England als Geschichtschreiber zum katholischen Glauben bekehren können, damit der ihm verhaßte Republikanismus ja niemals mehr das Haupt erhübe, er hätte es wahrscheinlich getan. Mag er! Ich will aber damit nicht sagen, als sollte man die Geschichte in einem republikanischen Geiste schreiben; man soll, meine ich, die Geschichte im Geist ihrer Zeit schreiben: weder tadeln noch loben; weder verbergen noch ausschmücken; dann wird der Wert der Handelnden, ihres Wirkens und ihrer Gesinnungen von selbst hervorgehen.

152
[250]

WER auf schlechtgestimmten Instrumenten spielen will, der sage einem recht Glücklichen Wahrheiten und tröste einen recht Unglücklichen.

153
[330]

DER Mensch war moralisch-tot geboren oder erschaffen worden, so sagt man, und das heißt: Er war vollkommen. Da beschlich der Zweifel seinen Geist, und er ward ein lebendiges, tätiges Wesen, das etwas aus sich zu machen lernte.

541
[50]

ES finden sich in der Tat verschiedne auffallende Ähnlichkeiten zwischen den Ärzten der Seele, des Herzens (den Moralisten) und den Ärzten des Leibes.

Erstlich sind beide noch nicht einig über die Grundsätze ihrer Kunst und Wissenschaft; denn so gut es Boerhaavianer, Stahlianer, Hoffmannianer, Brownianer gibt, ebenso gut gibt es Platonianer, Epikureer, Helvetianer, Zenonianer und Kantianer.

Zweitens sind sie beide in gleichem Zwist über die Behandlung der Kranken. Die eine Partei will reizen, hinaufspannen, erheben, die andre schwächen, niederdrücken, abspannen, demütigen. Für den einen hat der Kranke nur einen Körper, für den andern ist er ganz Geist.

Drittens handeln und urteilen beide nur nach Vermutungen, gehen aber so rasch auf Gefahr des Kranken zu Werk, als sähen sie alles mit leiblichen Augen, als fühlten sie alles mit Händen des Fleisches.

Viertens sind beide innerlich überzeugt, daß sie die ihnen verborgenen Geheimnisse nie erraten werden; das Höchste, was sie hierüber gestehen, ist, daß sie der Sache ganz nah sind, daß ihr so nah zu sein oder sie ganz zu wissen für den Kranken auf eins herauskömmt.

Fünftens gebrauchen beide meistens nur Palliative, besonders bei Leuten von Welt, die für beide Teile gewöhnlich die Chronisch-Kranken sind. Hier flicken also beide nur und suchen die morschen Gebäude zusammenzuhalten.

Sechstens haben beide ihre Marktschreier und Pfuscher.

Siebentens muß der Kranke bei der Kur beider das Beste tun, und da kömmt alles auf seine eigne Natur und Kraft an.

[304] Achtens schreiben heutzutage weder die einen noch die andern ein Rezept umsonst. Wenn der Kranke dem einen es geradezu bezahlt, so bezahlt er es dem andern durch die dritte Hand – die Hand des Verlegers.

Neuntens: Wenn der Arzt sein Heilmittel mit Hilfe des Apothekers in Latwergen, Pulvern, Mixturen, Tränkchen, Pillen usw. seinen Kranken beibringt, so tut es der Moralist durch Hilfe des Verlegers unter der Gestalt von Romanen, Dramen, dramatisierten Geschichten, Almanachen, Gedichten, Kompendien und ganzen Systemen.

Zehntens: Die Arzneien beider können, schlecht oder übertrieben angewandt, Gift werden.

Elftens: Schickt auch der Moralist seine Kranken nicht geradezu aus der Welt, wie es wohl dem Arzt widerfährt, so hilft er nach gewissen Systemen doch manchem auf den Weg dahin. Kuriert mancher Arzt seinem Kranken die Schwindsucht, die Hypochondrie an den Hals, so läuft mancher aus der Schule der Moralisten als ein schwärmerischer Geck oder etwas Schlimmers.

Ein wesentlicher Unterschied herrscht gleichwohl zwischen beiden: Der Arzt erkauft sein Recht zur Praktik bei der Fakultät durch ein Patent, und der andre findet es, gebräche es ihm auch an allem, in seinem Tintenfaß.

Doch genug; der rechte Mann ist sein eigner Arzt und sein eigner Moralist.

154
[305]

ES gibt Leute von so hohem Geiste, daß sie das, was man Gemeinplätze oder Gemeinsprüche zu nennen pflegt, gar nicht leiden können und wollen; sie vergessen, daß man es nur dadurch in den gewöhnlichen Gesellschaften aushalten kann, daß nur[397] durch Gemeinsprüche ein Tor und ein Geck zuzeiten noch etwas Gescheites sagt, daß man also ohne sie so etwas gar nicht hörte. Und läßt sich am Ende nicht beinahe das meiste, wo nicht alles, was die größten Köpfe zur Wahrheit verarbeitet haben, auf einen Gemeinspruch zurückführen? Die Gemeinplätze oder Gemeinsprüche sind die verarbeitete und erprobte Weisheit des ganzen Menschengeschlechts von den ältesten Zeiten her, und vergäße sie plötzlich die Menge, ich zweifle sehr, daß ihr die Werke unsrer Genies den Verlust dieses Schatzes ersetzen könnten. Laßt sie ihr; wir zerarbeiten uns oft an einem verworrenen Knoten, den der gemeine Sinn mit einem derben, kurzen, körnigten, wahrheitsvollen Spruch auflöst.

155
[398]

ES gibt Poeten – nicht Dichter! –, die uns die Natur so kalt, hölzern, steif und schülermäßig korrekt beschreiben, als hätten sie während der Arbeit hinter der camera obscura gesessen. Auch ist es wirklich so. Ihre camera obscura sind die Gedichte ihrer Vorgänger; und ihr ganzes sensorium ist und wird eine camera obscura, in der sich alles verkleinert und zusammenzieht und wo alles da ist, nur das Belebende und Bewegende nicht. Es fällt auch wohl Licht hinein, aber ohne Wärmestoff. Hier trifft wenigstens der Gemeinspruch »Der Dichter wird geboren!« nicht ein; hier macht sich der Poet.

156
[459]

WENN die Kleinen recht wüßten, um was sie die Großen bitten müßten, sie würden ihnen unaufhörlich zurufen: »Gewährt uns nur das Kleine, Gewöhnliche, Tagtägliche in Ordnung, das Große wollen wir euch gern erlassen; wir müssen es ja doch mit dem Kleinen, das ihr uns in vielen Jahren verstattet habt, in einem einzigen Augenblick abbezahlen.«

157


ES wäre noch eine Haupterfahrung an den Menschen zu machen, und zwar eine, von welcher bis auf den heutigen Tag die Weltgeschichte schweigt: ob und wie sie eine lange Reihe weiser, guter, gerechter Regenten ertragen würden. Die Anfrage scheint beleidigend und paradox; ich kann nur sagen, daß es mir leid tut, und wünsche von Herzen, daß das Menschengeschlecht diese Probe erleben möchte, zweifle aber, ob es sie bestände, wenn sich auch alle Umstände von außen und innen dazu vereinigten. Und die Vernunft? Das Glück in dieser Lage, wonach alle seufzen? Wovon alle Philosophen und Menschenfreunde träumen? Eben hier liegt die Schwierigkeit: in diesem Glück, in dieser Vernunft und in diesem Einerlei – diesem seligen Einerlei.

158
[111]

VIELE Philosophen halten dafür, der Glaube an ein böses Wesen – Typhon, Satanas, Teufel usw. – sei dem Menschen von den schrecklichen, ihn oft zerstörenden Naturerscheinungen aufgedrungen worden. Ich seh' es als einen ihm gewöhnlichen, bescheidenen Zug seiner Selbsterkenntnis an. Er brauchte sich aber nicht so weit zu versteigen: die Erscheinungen seiner eignen innern Natur und die Wirkungen derselben nach außen konnten ihm dazu verhelfen. Nur da man anfing, ihm zu schmeicheln um gewisser Zwecke willen oder, als er gebildet genug war, sich selbst zu schmeicheln, warf er den Ursprung dieses Wesens außer sich, um eins zu haben, dem er etwas aufladen konnte, wenn es zur Sprache kam.

159
[377]

MAN erträgt einen Menschen in der Gesellschaft, wenn es gleich allgemein bekannt ist, daß ihm sein Gewissen wegen schlechter Handlungen, die nicht unter das Gesetz gefallen sind, in jedem Blutstropfen an das Herz schlägt. Sobald aber diesem Manne jemand eine Ohrfeige gibt, die er nicht standesmäßig beantwortet, so geht kein Ehrliebender mehr mit ihm um. Was geht uns sein Inneres an? Das Äußere macht den Menschen.

160
[16]

MAN kann ohne Wahrheitsgefühl und ohne den Mut, es zu zeigen, ein großer Virtuose, ein Feldherr, ein Staatsmann, ein großer[49] Versemacher (nicht Dichter), kurz alles im Leben sein, nur kein Mensch im rechten Sinn des Worts. Aber dieses ist auch kein Titel, der etwas einträgt oder zur »Ehre« berechtigt.

161
[50]

MAN sagt, und gewiß mit einem Schein von Recht, wo nicht mit vollem Rechte: daß die Großen der Erde nicht nach den gewöhnlichen Regeln und Gesetzen, die wir im Leben gegen uns zu beobachten verpflichtet sind, verfahren können, daß wir sie auch nicht darnach beurteilen dürfen. So hat sich für sie auch wirklich nach und nach eine ganz eigne Politik und Moral, nach welcher sie gegen ihr eignes Volk und andere Völker verfahren, ausgebildet. Ich habe nichts dagegen und weiß, daß ihre Verhältnisse ganz andrer Art als unsre sind; zu bemerken ist aber, daß, wenn man diese Verhältnisse gar zu geringe achtet, es sich ereignen kann, daß sich das Volk bei eintretenden Umständen auch einer ganz eignen Moral und Politik bedient, wenn es mit ihnen zusammenstößt. Wenigstens sieht man auch da nichts von Regeln und Gesetz, wie uns die Erfahrung gelehrt hat.

162
[123]

DIE Kleinen oder die Menge machen wirklich wunderliche Forderungen. Sie fordern von allen Großen der Erde, daß sie immer groß sein sollen und das so recht in ihrem Sinne, als würde jenen dieses Wesen angeboren wie ihre Titel.

163


WENN Hof- und Staatsleute und Beamte an dem Fürsten die Großmut und Freigebigkeit als vorzügliche Tugenden loben, so sieht man wohl, was sie darunter meinen. Sie möchten gern jeden derselben zum politischen Beutelschneider am Volke für sich selbst machen; und weil sie selbst aus Furcht vor dem Gesetze nicht so gerade zugreifen dürfen, so möchten sie zu ihrem Besten den dazu reizen, der nach ihrer Meinung ein unwidersprechliches, ewiges Privilegium zu solchen Eingriffen hat.

164


VIELE Mächtige der Erde gehen aus der Welt, ohne in ihrem Leben daran gedacht zu haben, welch ein schweres Amt ihnen das Schicksal auferlegt hat – so leicht wissen es ihre Helfer zu machen. Dieses nenne ich doch: in Unschuld des Herzens und Geistes sterben; aber welch eine unschuldige Erziehung gehört auch zu solch einer Bildung!

165


DIE beste Regierung ist, wenn der Fürst nach festen und weisen Grundsätzen selbst regiert, durch seine Minister ausführen läßt und auch um die Ausführung nicht unbekümmert bleibt. Die erträgliche ist, wenn der Fürst hinter dem Vorhang steht und die Minister allein regieren; in diesem Falle müssen sie doch der Selbsterhaltung wegen auf einige Grundsätze halten und sich nach denselben verbinden. Die schlimmste ist, wenn der Fürst zu regieren wähnt oder sich die Miene davon geben läßt! In diesem Falle glaubt sich jeder, der ihm naht, den Mächtigsten, und jeder Minister will außer seinem Departement noch alle andere[n] beherrschen. Keiner will Ast, alles will Stamm sein. Zu Rate sitzen[124] feindliche Parteien, der Staat wird hin und her gezerrt, und wundert sich zuzeiten der Fürst über die Unruhe dieser Menschen, so deuten die Hohenpriester auf ein Opfer; es wird geschlachtet, und er hat wirklich ein paar gute Tage. Gewöhnlich sterben Fürsten dieser Art mit einer starken Gabe Menschenverachtung, ohne doch dabei nur einen Augenblick an sich selbst zu denken.

166


ES ist schwer, daß die Religion der Großen der Erde allgemein so andächtig und brünstig sei als die Religion gemeiner Menschen. Erstlich fehlt es ihnen an der Not, dem Druck, dem Bedürfnis dazu, und zweitens hat man sie nach gewissen Formeln dem höchsten Wesen selbst so nah gebracht, daß sie, wo nicht ganz als Verwandte, doch als recht gute Bekannte glauben vortreten zu können.

167
[125]

WAHR und unleugbar ist es, daß große, immer zunehmende Auflagen die Industrie befördern; aber sonderbar ist es, daß in manchen Staaten das Bedürfnis und der Mangel in ebendem Grade zunehmen, als sich die Staatseinkünfte vermehren. Hier allein seh' ich ein Steigen in der Vervollkommnung des Menschengeschlechts, die gewiß alle Begriffe und Erwartungen der kühnsten Philosophen alter Zeiten übertrifft; und wahrscheinlich wird diese Vervollkommnung an der Grenze des Allererhabensten – dem Nichts – enden.

168
[169]

DASS der bloße Kaufmannsgeist der trugvollste der bösen Geister sei, den die Menschen erschaffen haben, beweisen uns die Engländer und werden es uns fernerhin zur völligen und g[e]nügsamsten Überzeugung beweisen. Viele sind so gut, sich den Kopf zu zerarbeiten, wie sich wohl die Engländer aus diesem verworrenen[276] Handel ziehen würden; ich glaube, ohne den meinen anzustrengen, sie werden es, wie alles, als Kaufleute tun. War der geendigte Krieg eine mißlungene Kaufmannsspekulation, so findet sich auch das Hilfsmittel in derselben Quelle. Kam ja doch am Ende die ganze Sache mit Protest zurück.

169


ENGLAND hat uns gezeigt, daß es außer den Großen der Erde noch einen Stand gäbe, den Stand des Kaufmanns, der nach eigner Moral und Politik verfährt und sich um die gewöhnlichen uns in der Gesellschaft Lebende verbindenden Pflichten nicht bekümmert. Das System der Aufopferung – versteht sich, nicht derer, die diesen Stand ausmachen – ist auch hier an der Tagesordnung. England zeigt uns, daß es für diesen Stand, als Stand im Staate, weder Natur–, Völker–, ja nicht einmal menschliche und göttliche Gesetze gibt. Es geht eine Sage in der philosophischen Geschichte der Menschheit, als habe der Verkehr der Völker durch den Handel einst Kultur und Humanität befördert und ausgebreitet; seht doch, wie sich der Engländer in allen Weltteilen, auf allen Meeren bemüht, uns von diesem Vorurteil zu heilen!

170


WENN man sich von dem humanen und Heldengeist der englischen Staatsleute und Helden einen recht anschaulichen Begriff machen will, so muß man die Reden ihrer Staatsleute und Helden während des letzten Krieges lesen und sie mit den ehemaligen vergleichen. Nelson in der Bescheidenheit und Windham in der Menschlichkeit finden schwerlich ihresgleichen unter dem Volke, das sie vorzüglich hassen; läse auch der erste die Geschichte der Helden der königlichen Zeit und der zweite die des Konvents. Was ich mit den Engländern habe? Ich wollte, man kaufte ihnen nichts mehr in Europa ab, so würde wahrscheinlicher die ganz eingeschlafene Humanität dort wiederum erwachen müssen.

171
[277]

WENN Deutschlands Fürsten je vergessen können, daß Deutschlands Völker, die in diesem langen, gefährlichen und schrecklichen Kriege das meiste gelitten – und am ärgsten gelitten haben, weil sie ganz unschuldig daran waren –, doch trotz allem dem und trotz allen Versuchungen, an denen es nicht fehlte, gleichwohl ihnen und ihren Gebräuchen getreu verblieben sind, so sind sie – ich wage es zu sagen, und sollten sie mir es auch noch so übel deuten – nicht wert, Fürsten solcher Völker zu sein. Wäre nach diesem Krieg ein Denkmal zu errichten, so müßte es ein Denkmal der deutschen Volkstreue sein, von deutschen Fürsten, mit dieser Inschrift: »Dem deutschen Volk errichtet und geweiht.«

Ich spreche nur von den Reichslanden und möchte wohl hören, wie es unsre Amphiktyonen in Regensburg aufnähmen, wenn wirklich ein deutscher edler Fürst diesen Vorschlag machte. Vielleicht sagte einer der Weisen dieser Versammlung, es sei ein gutes politisches Stückchen! – Aber nein! Sie würden schweigen und bei einem gewissen großen Hofe erst anfragen, dessen Antwort ich ebenso gern lesen als den Vorschlag machen hören möchte.

172
[265]

WER ein Projekt machen will, der mache eins, das auf die Einnahme Einfluß hat; es müßte mehr als toll sein, wenn es nicht wenigstens zur Untersuchung an die Behörde übergeben würde.

173
[169]

WARUM werden die Deutschen von andern Völkern nicht so geachtet, wie sie es verdienen? Warum setzt der Engländer den Deutschen dem Franzosen nach, ob er diesen gleich mit unauslöschlichem Haß beehrt? Der Franzose macht es ebenso, ob er gleich nicht Ursache hat, den Engländer zu lieben. Vom Spanier rede ich nicht; dieser ist in seiner Meinung immer der erste. Demohngeachtet gestehen sie dem Deutschen alle ein, er sei tapfer, gelehrt, aufgeklärt, duldsam, erfinderisch, gerecht, treu, bescheiden, halte auf Sitten. Aber ebendarum, weil er nur dies ist, achtet man ihn nicht nach Verdienst. In der Konkurrenz von Volk zu Volk helfen diese Tugenden ebensoviel, als sie dem einzelnen in den bürgerlichen Verhältnissen helfen. Politische Tugenden geben in beiden den Ausschlag.

174
[278]

WER das Volk zu beobachten Gelegenheit hatte und bemerkt hat, wie wenig zu seiner Glückseligkeit gehört, mit welch mühsam ersparten Genüssen es sich für glücklich hält, wie es die Ruhe liebt, der es zu seinem Erwerbe bedarf, wie es sich die schwere Sorge und Arbeit mit den Gedanken auf kommende Sonn- und Festtage erleichtert, wie es sich gar nicht um das bekümmert, was diejenigen treiben, die über dasselbe gesetzt sind,[111] wenn sie es nur in Ruhe arbeiten und das Wenige genießen lassen – der kann gar nicht begreifen, wie solche Wesen auf einmal ihrer glücklichen Ruhe, Zufriedenheit und Beschränktheit entspringen können. Und wahrlich, es gehören ebenso außerordentliche als frevelhafte Mittel dazu, um diesen ihnen unnatürlichen Zustand zu bewirken. Unwissenheit, Unsinn und Verbrechen müssen lange verbunden gewirkt haben, um denen ihre Lage unerträglich zu machen, die so wenig brauchen, um glücklich, zufrieden und ruhig zu sein, die so gar nicht ahnden, daß sie mehr an das Schicksal selbst zu fordern haben als dieses.

175


DIE beste Art, dem Volke wohl zu tun und seine Last zu erleichtern, ist, daß es nach und nach, ohne Geräusch, Lärmen und ohne Prahlerei geschehe. Da das Volk mehr an sich selbst als an das abstrakte Ding von Staat und dessen Bedürfnisse denkt und zukünftige Umstände gar nicht in Anschlag bringt, so glaubt es auch leicht, es tue mit dem Wenigsten schon zuviel, und die notwendigsten Einschränkungen selbst seien Zwang. Doch da dieses Ereignis zu den außerordentlichen gehört, so weiß ich nicht, wie mir es einfallen konnte, eine überflüssige Bemerkung mehr zu ma chen.

176
[112]

MICH dünkt, ein Kenner müßte bei dem Anblick des Bildes einer Madonna oder Heiligen sogleich erraten können, ob es ein katholischer oder protestantischer Künstler gemalt hat. Man glaubt an einer gewissen Kälte zu bemerken, daß es dem letzten am rechten Glauben dazu fehlte. Homer, Virgil und Ovid machen eine gleichere Wirkung auf beide als die Legende, und an den Göttinnen der Mythologie läßt sich ihr Glaubensbekenntnis nicht unterscheiden. Hier scheinen sie beide von einer Religion zu sein, der Religion der Dichter. Ich glaube aus ebendiesem Grunde, daß Klopstock den Stoff seiner Messiade sinnlicher dichterisch – ich möchte sagen brünstiger – behandelt haben würde, wäre er ein recht gläubiger Katholik gewesen. Daher[459] vielleicht das mehr Metaphysisch-Religiöse als das Sinnlich-Religiöse in Bildern, Gedanken und Charakteren.

177
[460]

FREILICH, ihr Zweifler, hat die Vorsehung für alles gesorgt; denn da sie den Reichtum, den Luxus – mit allen gefährlichen[490] Folgen des Müßiggangs – in dem sich zur Gesellschaft entwickelnden Chaos des Menschenwesens schwimmen sah, sah sie auch die Karten, die Bücher aller Art, die Theater, die Künste nebst ihrem Gefolge und alle sonstigen Spielereien darin schwimmen. Sie haben sich nach und nach gefunden, und nun sind sie so amalgamiert, daß das eine mit dem andern geht und gehen muß.

178
[491]

WELCHER Moralist schadet dem Menschen am meisten im wirklichen Verkehr des Lebens? Der, welcher den Menschen zu hoch, oder der, welcher ihn zu tief nimmt? Wäre das Ding einzurichten, so müßte der Hochherzige und Hochgeistige die Schriften der letzten zuzeiten lesen, um sich etwas zu temperieren, um brauchbarer für den Lebensverkehr zu werden. Dem diesem Entgegengesetzten müßte man die Schriften der ersten in die Hände geben, um ihn etwas aus dem Kot zu lüften. Aber[305] die Praxis lehrt, daß das Reine das noch Reinere sucht und das Schmutzige das noch Schmutzigere. Beide finden ihre Gläubigen; der Moralist, welcher nun beiden nutzen wollte, müßte demnach das Menschending weder zu hoch noch zu tief nehmen; aber das rundet sich nicht so systematisch aus und läßt sich auch nicht aus Büchern und durch Spekulation allein finden.

179


ES ist doch wirklich auffallend, daß es meistens Gelehrte von Handwerk, also Leute sind, die mehr mit Büchern als Menschen zu tun haben, die für uns die Moral schreiben oder als unsre Lehrer in dieser für uns so wichtigen Sache auftreten. Haben Staats- und Geschäftsleute denn gar keine Zeit dazu? Glauben sie gar nicht daran? Oder hat sie etwa die Erfahrung gelehrt, das Ding ließe sich nicht systematisch behandeln und nütze überhaupt nicht viel? Freilich ist ihre praktische Erfahrung ein schlimmer Lehrmeister – und ein recht auftrocknender dazu –, vielleicht auch ebenso unzuverlässig, als es die Bücher jener Herren sind, aus denen sie ihre Wissenschaft lernen, um eins mehr zu schreiben.

180
[306]

WIE schwer der Mensch zu befriedigen ist, kann man daraus sehen, wenn man einen beobachtet, dem das Glück plötzlich etwas zugeworfen hat, das er lange sehnlich wünschte, dessen er lange bedurfte und nun kaum mehr zu hoffen wagte. Den ersten Tag wird er trunken vor Freude sein, die Spenderin hochpreisen, ihr gar danken. Beim Erwachen findet er an der Gabe schon dies und jenes auszusetzen, so verliert sie von Tag zu Tag etwas von ihrem Reiz; er findet immer mehr, das Ding hätte doch besser, seinem Verdienste gemäßer ausfallen können. Hört man ihn nach einer gewissen Zeit davon reden, so glaubt man beinahe, ihm sei ein Unglück widerfahren; man muß ihm dann ins Gedächtnis rufen, vielleicht gar beweisen, daß es ein Glück war und ist, worüber er sich nun beklagt. Nur wenn man ihn auf seinen vorigen Zustand verweist, wird man ein Lächeln gewahr. Und das Glück sollte nicht launisch sein? Ich finde es viel vernünftiger und gesetzter als die, deren es sich annimmt.

181
[331]

DEN deutschen guten Sinn (bon sens), diesen derben, kräftigen Sohn eines geraden, natürlichen Verstandes, eines unverdorbenen Herzens und gesunden Körpers, trifft man wohl noch bei Lebenden an, nur in den meisten Büchern zur Unterhaltung muß man ihn nicht mehr suchen. Hier scheint er ganz außer Gebrauch gekommen zu sein. Die Autoren dieser Bücher fühlen dunkel, was sie einst von diesem gefährlichen Feinde, den sie gar nicht kennen, zu fürchten haben, darum arbeiten sie aus allen Kräften instinktmäßig auf seine Vernichtung hin. Umsonst, der plumpe, energische Geselle wird sie überleben, ihnen plötzlich erscheinen und sie durch seine bloße Erscheinung selbst vernichten.

182
[452]

DAS elendeste Buch findet wenigstens einen Bewunderer, sonst wäre es doch wahrhaftig nicht geschrieben worden; aber mußte es nicht geschrieben werden? Gehörte es nicht zu der Reihe der einmal von Ewigkeit her festbestimmten und -angeordneten Dinge, die zu ihrer Zeit erscheinen müssen? Ein schlechtes Buch mußte in seiner Zeit so gewiß erscheinen als ein leerer Kopf. Und was ist nun ein schlechtes Buch? Eine Pfuscherei in der moralischen Welt. Was tun denn die anders, die keine Bücher schreiben? Wäre es nicht besser für manches Volk, daß dieser oder jener Große der Erde, dieser oder jener Staatsmann nur ein schlechtes Buch geschrieben hätte? Es hätte ihn vielleicht von gewissen schlimmern Beschäftigungen abgehalten. – Ich möchte wohl wissen, was man dem einzigen Bewunderer eines schlechten Buches antworten könnte, wenn er diese Sätze recht logisch erhärtete und bewiese. Was uns aber vor diesen sophistischen Einwürfen sichert, ist der einzige Bewundrer selbst.

183
[491]

MAN teilt gewöhnlich die Bibliotheken nach Fächern in verschiedenen Zimmern ab; ich meine, man könnte sie ebenso gut nach Gesunden und Kranken einteilen; es vereinfachte das Geschäft um vieles. Die Kranken müßten dann freilich wieder nach den Übeln, woran sie leiden, abgeteilt werden; man würde also besondere Zimmer bestimmen für Schwächlinge, für nervenlose Empfindsame und kränkliche »schöne Seelen«, für Idioten, für Windsüchtige, für Unheilbare, für Hypochondrische, für Schwermütige, für Überspannte, für Mondsüchtige, für Wahnsinnige, für ganz Unsinnige und endlich einige ganz vermauerte Zimmer für epidemisch Kranke und ganz Verpestete. An die Hauptpforte könnte man die Inschrift eingraben: »Lazarett und Narrenhaus des menschlichen Geistes und Verstandes.« Das Auffallende würde hier sein, daß der Kranken mehr wie der Gesunden sind und man auf eine immer dauernde, nie nachlassende Seuche schließen könnte; glücklicherweise gehören Seuchen in der physischen Welt zu den seltnen Fällen. Was aber auch den besten und gesundesten Kopf verwirren könnte, ist, daß der Besucher dieses Lazaretts in Gefahr wäre, eine ganz sonderbare, erstaunenswürdige und widernatürliche Erscheinung in dem Reiche der Geister zu bemerken: nämlich einen und denselben Mann in dem besten Wohlsein unter den Gesunden und in den beklagenswürdigsten Umständen unter den Kranken zu finden. Wer daran[500] zweifelt, der mustere nur seine Handbibliothek; ich mag den Katalogus nicht machen.

184
[501]

DIE Benennung »Schöngeist«, die vor dreißig Jahren so angenehm klang, ist nun zu einem widrigen Schall geworden; man bedient sich jetzt des allgemein bezeichnenden Wörtleins »Schriftsteller«. Die »schönen Geister« scheinen selbst damit zufrieden zu sein, denn sie beehren sich untereinander wörtlich und schriftlich mit diesem Titel. Ich finde dieses sehr klug; denn der Nachklang Geist in ihrem alten Titel könnte doch manchen ihrer Leser an gewisse Forderungen erinnern. Wenn man sich der Ausdrücke bedient »Schriftgießer«, »Schriftschneider«, so denkt man an etwas Mechanisches, Handwerkliches; bei »Schriftsteller« denkt man an das Schreiben.

185
[453]

MAN wirft den Fürsten immer ihr Mißtrauen vor; macht man es ihnen etwa nicht darnach? Läßt man es ihnen an Ursache dazu fehlen? Ich möchte wohl hören, was diese Herren am Ende von den Menschen sagten und dächten und ob sie ihnen mehr trauten, wenn von ihren Hausgenossen sie in ihrem kleinen, beschränkten Bezirk so behandelt würden, wie man gewöhnlich die Fürsten behandelt, und sie bei jedem Wechsel immer dasselbe erführen. Nicht ihr Mißtrauen – ihren Leichtsinn mache ich ihnen zum Vorwurf. Ich wundre und ergötze mich jeder Zeit, wenn ich einen Fürsten mit grauen Haaren (vorausgesetzt, er sei es wirklich gewesen und habe es nicht bloß geschienen) gutmütig und freundlich lächeln sehe. Wer nach solch einer Erfahrung noch so lächeln kann, der muß etwas vom Menschen in sich gerettet haben;

und dieses ist nichts Leichtes, wenn man nicht mit stumpfem Geist und mattem Herzen geboren worden ist.

186
[125]

DIE Royalisten haben in ihrem Eifer immer das Hauptmittel gegen den Revolutionsgeist der Völker vergessen: Alexander der Erste, Kaiser von Rußland – Friedrich Wilhelm, König von Preußen – Friedrich, Kronprinz von Dänemark – Maximilian Joseph, Kurfürst von Bayern – Friedrich August, Kurfürst von Sachsen – Karl Friedrich, Markgraf von Baden – Karl August, Herzog von Weimar – Ernst, Herzog von Gotha – Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel – Ludwig X., Landgraf von Hessen-Darmstadt – Peter Friedrich Ludwig,[265] Fürstbischof zu Lübeck, zeigen es ihnen lebendig. Die Demokraten machten es nicht besser; für sie mußte erst ein Mann erscheinen. Beide Teile können nun schweigen und die Beispiele reden lassen. Doch gibt es noch Höfe und Winkel, wo sie Hörer finden werden; mögen sie sich da heiser schreien, wenn wir es nur nicht mehr anhören müssen.

187


DIE kantische Philosophie fing ihr Revolutionswesen in dem Geister- oder Verstandesreich mit der Französischen Revolution an. Diese hat, wie es scheint, in einem einzelnen ihr Ende gefunden; aber jene wird, kann und soll ihren einzelnen nimmer finden. Das philosophische Reich ist ja ohnedem nach seinen jetzigen Reichsgrundgesetzen nicht von dieser Welt.

188


DIE Engländer und die Franzosen selbst haben wohl manch dummes und schlechtes Buch in den letzten zwölf Jahren über die Revolution und die Politik überhaupt geschrieben. Das schlechteste und dümmste Zeug über diese Gegenstände ward aber in Deutschland verfertigt. Und natürlich, es war den meisten unsrer Schriftsteller eine ganz fremde Materie – eine Materie, die gar nicht zu dem Nationalgeist paßte; denn wer hatte sich vorher um so etwas bekümmert? Wie konnten sie nun etwas anders liefern, da die meisten erst unter dem Schreiben der Bücher lernten, wovon die Rede war. Warum wurden aber gleichwohl so viele dumme Bücher darüber im Vaterlande geschrieben? Weil der Spekulationsgeist dieser Schriftsteller schnell entdeckte, daß ihnen die gereizte Neugierde hier auf eine reiche und lange dauernde Nahrungsquelle hindeute, aus der zu schöpfen man nur Hände brauchte. Auch waren jetzt die Geister so gestimmt, wenn anders der Geist etwas dabei tat, daß das Tollste und Dümmste das Gesuchteste und dadurch Einträglichste werden mußte.

Wie viele berühmte, sonst kluge und vernünftige Schriftsteller kamen während dieser Zeit mit ihrem Ruhm ins Gedränge? Es[266] war freilich leichter, die Feder nach aufgefaßten oder aus Büchern gezogenen Meinungen zu führen, als die schnell sich folgenden, alle Begriffe verwirrenden Ereignisse nach diesen Meinungen zu leiten. Darum sahen wir auch viele dieser Herren nach jeder Leipziger Messe oder jedem Mondenwechsel (in den Journalen) ihre politische Physiognomie verändern. Ja, viele wechselten ihre Gestalt so oft, daß man in diesem politischen Gewühl die Fabel vom Proteus, wohin man nur blickte, in der Wirklichkeit sah. Sie mögen nun nach einer festen Gestalt suchen, solange sie wollen, uns wird sie immer zweideutig bleiben. Der konsequenteste von allen war, um mit einem recht großen Mann zu enden, der Verfasser des Hamburgischen Politischen Journals, der seinen Noten zu der lange vor der Französischen Revolution erschienenen Übersetzung des Plutarch getreu verblieb und ihren Wert in diesem Journal erhärtete. Er hat die großen Männer der griechischen und römischen Republiken so im Kot herumgeschleift, daß es kein Wunder war, daß er nun mit besudelten Fingern fortschrieb. Seine Noten zu diesem Plutarch haben mich seinen Namen auf ewig vergessen machen, ich hätte ihn sonst wahrlich genannt.

189
[267]

JEDER fängt von sich an – dieses ist der Grundstein, auf welchen die Gesellschaft gebaut ist, auf dem sie ruht. Man könnte es das offenbare Geheimnis derselben nennen. Aber man mag auch wirken, hervorbringen, was man will, wenn es uns selbst nutzen soll, so müssen es andre gebrauchen können. Wer diese Bestimmung für den Menschen zu niedrig findet, der lebe, arbeite, sterbe für sich, wenn er kann, werde zum Gott oder – ein Nichts.

190
[60]

MANIER in der Poesie oder Kunst zeugt immer von Schwäche und Affektation, wodurch man das Mangelnde zu verdecken oder zu übertünchen sucht. Kraft ist ohne Manier, mag sie auch rauh, wild und schneidend sein; übertrieben heißt sie Verzerrung, nicht Manier. Große Dichter und Künstler können wohl eine eigne Physiognomie in ihrer Darstellungsart und dem Ausdruck ihrer Gedanken und Empfindungen haben, aber keine Manier; sie zeigen sich immer, wie sie sind, verhehlen und verbergen nichts und suchen noch weniger durch Künsteleien das Mangelnde zu ersetzen. Selbst das bloße Talent sucht sie zu vermeiden, und nur diejenigen, die beides heucheln, überziehen ihre Werke mit diesem Firnis.

191
[460]

JE stummer das Geschöpf ist, je weniger rührt uns sein Leiden; manchem Fürsten erging es ebenso mit seinem Volke. Das Volk soll und muß stumm sein, und diejenigen, die für selbiges reden sollten oder dürfen, gleichen ganz den Stummgebornen, wenn von ihm die Rede sein sollte.

192


WARUM empfindet der Kleine oder tief Untergeordnete den Händedruck des Großen oder Mächtigen nur in dem Kopfe? Weil er an der Miene, an der Hand, die ihn berührt, fühlt, daß die Handlung ganz von oben und nicht von der Brust herkömmt.

193
[112]

WENN ein Fürst Tag und Nacht, jede Minute und Sekunde alle das Jammer- und Klagegeschrei über die physischen und moralischen Übel seiner Untertanen anhören und vernehmen müßte, seine Lage würde die schrecklichste, unerträglichste auf dem Erdboden sein; und er kann noch sagen: »Hab' ich euch doch nicht geschaffen! Bin doch ich nicht die Ursache eurer unvermeidlichen Leiden! Bin doch auch ich ihnen ausgesetzt wie ihr!« Aber es liegt etwas erschrecklich Groß-Erhabenes für den Menschen in dem Gedanken, daß das Wesen aller Wesen die Klagen, den Jammer, das Winseln und Seufzen über die moralischen und physischen Übel aller auf den unzählbaren Welten Lebenden, von ihm Geschaffenen – von dem, der ihn auf Erden vorzustellen glaubt, bis zum Wurm – von Ewigkeit vernommen und angehört hat und in Ewigkeit vernehmen und anhören wird.

194
[113]

EIN Mann von gefühlvollem Herzen, reger Einbildungskraft und feinen Organen überhaupt, bezahlt die wenigen Genüsse, die er vor andern etwa voraus hat, am Ende teuer genug. Kömmt er glücklich durch, so ist gewöhnlich ein Herz voller Wunden und eine Phantasie voll trauriger Bilder sein Erwerb. Ein gewöhnlicher Mensch genießt und leidet nur für sich; der Mann, von dem ich rede, für das ganze Menschengeschlecht, selbst die Zukunft wird ihm gegenwärtig. »Aber ihr sprecht von einem Manne ohne Verstand!« Ich spreche von einem Manne, der Verstand genug hat, die wahre Gestalt des Menschenwesens einzusehen und zu fassen, der aber nicht Verstand genug hat, seinen Teil für sich zu nehmen und sich über alles andre hinauszusetzen. Wer ganz ruhig leben will, muß gar keinen Begriff vom Allgemeinen haben, selbst der Bettler kann sich so zum Mittelpunkt machen und sich dafür erkennen.

195
[331]

MICH wundert es gar nicht, daß Schwärmer, Enthusiasten, Fanatiker, kurz alle überspannte[n] und verzerrte[n] Köpfe, von welcher Art, Glauben und Meinung sie auch seien, Weltleute und Männer von ruhigem Verstande hassen und schimpflich auszuzeichnen suchen. Ohne diese hätten sie längst die Welt zum Tollhause und sich zu Oberaufsehern desselben gemacht.

196
[95]

DAS Publikum kann freilich zu seinen Schriftstellern sagen: »Ihr steht in unserm Solde.« Die meisten könnten aber dem Publikum antworten: »So dienen wir dir auch!«

197
[491]

MAN könnte zu dem biblischen Spruche »Die Toren sprechen in ihrem Herzen: ›Es ist kein Gott!‹« hinzusetzen: »Laßt es die Toren in ihrem Herzen immer sagen, handelten nur die ›klugen‹ Leute nicht oft so, als gäbe es keinen.«

198
[360]

ZUR Krankheit gehört Geduld, zur Gesundheit Mäßigung, zum Leben Tätigkeit, zum bürgerlichen Verkehr Billigkeit, zum Unglück Kraft, zum Glück Weisheit; aber mit allen diesen Gaben kömmt man doch nicht am Hofe durch. Wer da fragt, was dazu noch erforderlich ist, der bleibe davon weg.

199
[332]

JEDERMANN findet die Schmeichelei, welche einem andern gesagt wird, eine fade, lose Speise; die Eigenliebe aber würzt sie in dem Augenblick, als man sie uns selbst auftischt.

200
[16]

EINE große Monarchin sagte einst: »Man hat mir über alles Mögliche Schmeicheleien gesagt, nur über mein Singen nicht.« Hier nur fanden wahrscheinlich die Hofleute den Beweis der Sterblichkeit ihrer Monarchin.

201
[17]

WEN Glück und Unglück nicht auf die Probe gestellt haben, der stirbt wie ein Reichssoldat, der nie den Feind gesehen hat.

202
[332]

WIEVIEL ist wohl auf den Einfluß des moralischen Gesetzes auf ein Geschöpf zu rechnen, das nicht stark genug ist, die diätetischen Vorschriften zu seinem Wohlsein zu beobachten, obgleich die Strafe der Übertretung dieser durch die schlimmen schnell wirkenden Folgen meistens sogleich eintritt? Die Strafe für die Verletzung des erstern ist oft weit entfernt, das Interesse des Übertretens gewöhnlich innigst mit der Übertretung jener Gesetze verbunden, und der Mensch wird durch das Interesse gestimmt. Dieses kann nie der Fall der Übertreter letzter Art sein; denn die Befriedigung einer augenblicklichen Lust oder die Verletzung der Diät für den Kranken, das Überlassen einer Ausschweifung über die Kraft für den Gesunden sind offenbar gegen das Interesse beider. Man wendet mir vergebens ein, auch dieses sei Übertretung des moralischen Gesetzes, das uns die Mäßigkeit zur Tugend macht; ich rede hier von den erlaubten Genüssen des Lebens nicht in einem mönchischen Sinn, auch nicht von dem, was man tun sollte, sondern von dem, was man gewöhnlich tut, wenn man die Mittel dazu hat. Das Auffallendste aber ist die große Übermacht des Tierischen über das Geistige, die hier so weit geht, daß man wirklich mehr Moralisch-Mäßige als Physisch-Mäßige in der Welt findet, weil die erstern nicht immer das letzte sind. Der größte Held, der klügste Geschäftsmann, der berühmteste Philosoph, der kälteste Kaufmann, der Lehrer der Moral, der Religion selbst, ja der Mann von dem[75] festesten, stärksten Charakter, welches mehr als alles Obige sagen will, sind oft die größten Schwächlinge an der Tafel. Sogar bei der Andächtigen vermag der Arzt weniger als der Beichtvater; sie überfüllt sich den Magen, während sie ihre Augen voll religiöser Schwärmerei zum Himmel erhebt, mit Konfitüren und süßen Getränken, und der süße Hang zur Sünde ist so reizend, daß ihn eine solche Seele wenigstens in dem zu befriedigen sucht, was ihr am unschuldigsten scheint. Der Superintendent, der in der Morgenpredigt gegen jede Unmäßigkeit donnerte, verläßt oft die Mittagstafel mit glühendem Gesicht und einer Übersättigung, die dem Wohlbeleibten mit einem Schlagfluß droht; denn es ist zu wetten, daß ihn der Anblick des sanften Federbetts das unzerische Pulver vergessen machen wird. Vergißt nicht sogar mancher Arzt an einer guten Tafel alle die Rezepte, die er bei seinen Morgenbesuchen gegen die Unverdaulichkeit geschrieben hat? Auch der schwachnervigte Staatsmann, der mit allen benachbarten Höfen im diplomatischen und mit dem seinen in einem ränkevollen Kriege lebt, erinnert sich bei dem reizenden Geruch der gewürzten Speisen der Regeln der Klugheit nicht, die er auf jenen Streitfeldern zu seiner Erhaltung anwendet. Und ach! Hörte nicht der Größte der Könige auf, es an der Tafel zu sein, wie uns seine Anekdotensammler bis zum Überdruß vorerzählt haben? Doch vielleicht ist es ein Glück für die Welt, daß sich die durch allzu große Geisteskräfte zu sehr hervorragenden Menschen durch diesen Mißbrauch etwas abschwächen. Vielleicht hemmt er in etwas ihre allzu gefährliche Tätigkeit, ihren zu kühnen Mut, und der tierische Mißbrauch, den sie an sich selbst ausüben, rettet uns von dem Mißbrauch ihrer Geisteskräfte, die sie wahrscheinlich an uns üben würden. Aber könnten nicht die aus dem überfüllten Magen aufsteigenden Dünste durch den Druck auf das Gehirn oder die böse Laune, die der Unverdaulichkeit folgt, einen schädlichen Einfluß auf unser Schicksal haben? Die wohltätige Natur hat dafür gesorgt und diesen Übertretern ihres Gesetzes die bleierne Trägheit zugesellt, die sie nicht eher verläßt, bis sie sich durch Hilfsmittel[76] aus dieser Lage gerettet haben. Für die üble Laune sind die Kammerdiener, die Hausgenossen oder die Glücksjäger da, die sich in solchen widrigen Stunden aufdrängen. Und gibt es wohl in dieser sublunarischen Welt ein Gut ohne seinen gewöhnlichen Begleiter? Nur die Tätigkeit schlechter Autoren bändigt nichts; diese schreiben in jeder Geistes- und Leibeslage, und schlafen auch zu unsrer Ruhe jene gemeldeten gefährlichen Leute, so rettet uns doch von diesen letzten nichts als der allgewaltige Tod.

203
[77]

EIN Autor, der im hohen Alter, wenn schon seine Leibes- und Seelenkräfte verloschen und durch die Menge der Geburten erschöpft sind, immer noch fleißig fortschreibt, kömmt mir vor, als[5] eile er, seinen Geist ganz auszuleeren, um dem Schöpfer seine Seele so leer zu überliefern, wie er sie bei der Geburt bekommen hat: als tabula rasa (glatte Tafel), wie diejenigen das Ding nennen, welche nicht an angeborne Ideen glauben. Man könnte sie auch mit Weibern vergleichen, bei denen eine gewisse Zeit eingetreten ist, wo ihnen die Natur sagt: »Es ist genug und nun alles umsonst!«, die aber das Ding aus Gewohnheit und falschem Reiz nicht lassen können. Die Anwendung mache ein andrer!

204
[6]

NACH Borellus ist die Kraft des Herzens einhundertundachtzigtausend Pfunden gleich, nach Bernoulli dreihundertfünfundsiebzig, nach Hallern hebt der Herzschlag so viel hundert Pfund Gewicht, als der Mensch ohne Nachteil auf der Brust tragen kann. Gewiß eine ungeheure Kraft für ein so kleines Ding! Wie kömmt es aber, daß ebendieses Ding, das eine so mächtige physische Kraft besitzt, an moralischer so schwach ist, daß es kaum einen Skrupel Kummer vertragen kann, daß es das Lächeln der Gunst oder Ungunst, des Glücks oder Unglücks so leicht emporhebt, so leicht niederschlägt, ja oft gar auflöst? Kurz, daß das Physisch-Stärkste im Menschen das Moralisch-Schwächste ist? Weil die Natur uns die physische Kraft gegeben hat und sie ohne unser Zutun und Anstrengung wirkt und wir bei der moralischen alles tun, sie uns selbst geben müssen.

205
[36]

SEIN gegebenes Wort und Versprechen halten, hat einen so entscheidenden Einfluß auf unsern Charakter, gewöhnt so zum stolzen Festhalten desselben und verleiht so viele moralische kräftige Stimmung und Sicherheit, daß man die Kinder und besonders Knaben von der frühsten Jugend an und in den kleinsten Dingen durch die frühste Erweckung des Gefühls davon daran binden und fesseln sollte. »Ein Wort, ein Mann!« ist ein deutscher und der alten Deutschen würdiger Spruch; ihre Söhne sollten ihn nie vergessen und sich dabei ihrer kräftigern Väter ehrenvoll erinnern. Auf sein Wort und Versprechen festhalten und es immer im Kleinen oder Großen, im Wichtigen und Unwichtigen ehren, entwickelt nicht allein den Charakter zum Kräftigen; es macht auch besonnen im Verkehr des Lebens, aufmerksam auf das, was wir zusagen und unternehmen, und folglich klug. Ein Mann, der ebenso leichtsinnig in unwichtigen Dingen sein Wort gibt, als er es bricht, ist selten sicher in wichtigen. Die Gewohnheit macht Wortbrüchige und Lügner, beides lehrt die Erfahrung, und Beispiele stoßen uns täglich auf. Es gewöhnt zugleich zu Opfern, da man aus Ehrgefühl bei der genommenen Wahl verbleiben muß, wenn auch neue Ereignisse noch so sehr reizten, und der Verkehr in der Gesellschaft fordert wechselseitige Opfer und Entsagungen. Aber warum vorzüglich die Knaben? Weil Mädchen nicht immer halten müssen und dürfen, was sie mit den Augen versprechen, weil sie überhaupt nie alle Versprechen erfüllen[351] müssen, die der Mund aus geheimen Gründen des Herzens leise ausspricht, weil wir den Vorbehalt ihres Herzens wissen und gestatten, weil sie durch süße Lockungen und herbe Versagungen reizen und weil die völlige Erfüllung des Versprechens von ihrer Seite sättigt und übersättigt. Ihre Moral erfordert überhaupt eine eigne Behandlung und besondre Regeln, da sie mehr geschaffen sind, den Tätigen das Leben zu versüßen, als selbst tätig zu sein. Diese Moral müßten die Liebe, die Klugheit und die feine Koketterie schreiben. Aber Rousseau hat dieses Thema in seiner Sophie erschöpft, und ich hätte immer schweigen können.

206
[352]

»WIR fordern immer Liebe und Liebe von den Weibern; manche aus Stolz und Eitelkeit wohl auch dann noch, wenn sie von dem, was sie so feurig forderten, übersättigt sind. Und doch wundern oder ärgern wir uns, lästern sie sogar, wenn sie das, was wir ihnen im Taumel zum Hauptgeschäft des Lebens gemacht und als einzige Bestimmung aufgedrungen haben, auch von uns heftig fordern und, finden sie es nicht mehr bei uns, es endlich bei andern suchen. Auch die, denen die Natur diese süße Schwärmerei versagt hat, müssen die Liebe als eine Kunst von uns lernen, wenn sie uns gefallen wollen, und übt man nicht, um den Meister zu ehren, eine gelernte Kunst noch lieber als das, was uns die Natur ohne Mühe gegeben hat?

207
[316]

WENN ihr die Fürsten beneidet und für glücklich haltet, so denkt euch einen edlen, rechtschaffenen Mann auf dem Throne und setzt hinzu: »Der Thron hat seine eigne Moral und Verfahrungsart und muß sie wegen der schwierigen, verwickelten Verhältnisse haben.« Denkt diesen wenigen und vielsagenden Worten recht nach, erwägt sie in ihrem ganzen Umfang nach eurem moralischen Gefühl, setzt euch an seine Stelle und beneidet ihn dann, haltet ihn dann für glücklich, wenn ihr es noch könnt. Der Fürst eines großen Reichs, der nicht hundertmal mit einem Privatmann seine Lage zu wechseln wünscht (ich rede nicht von trägen Geistern), ist es selten wert zu sein. Nur wer die Last wirklich selbst trägt, kennt ihr Gewicht. Wir können uns den Opfern entziehen, ihn weihen wir uns durch die Huldigung aufs Leben dazu ein, und nur er hat so viele Richterstühle, als er Herzen seiner Untertanen zählt, weise und törichte, gerechte und ungerechte, die ihm alle den Prozeß ohne Schonung, meistens ohne Untersuchung machen. Legt dieses in die Waage gegen das eingebildete Glück und wählt!

208
[126]

EIN schlechter Mensch ist der verdrießlichste und ungeduldigste Zuhörer in Gesellschaft, wenn man von seinesgleichen spricht; er fühlt sich auf dem Armensünderstuhl vor dem peinlichen Gericht. Darum sagt De Thou vielleicht: Es ist ein Fehler aller Menschen, daß sie mehr geneigt sind, das Böse zu tun, als die Erzählung schlechter Handlungen anzuhören. – Das Erinnertwerden daran scheint ihnen denn doch beschwerlich zu sein.

209
[69]

DIE Alten zerarbeiteten sich an weisen und sophistischen Untersuchungen, ob die Tugend gelehrt werden könnte. Es läßt sich freilich alles durch Fleiß und Anstrengung erlernen, sogar die ausstudiertsten Formen und spitzigsten Wortklaubereien, nur der Geist der Sache, der rechte praktische Sinn dazu, nicht. Der muß schon in uns vorhanden sein und sich nur durch Berührung entwickeln. Man sagt, man wird zum Dichter geboren, und ich setze hinzu: auch zum Regenten; beides wird keiner durch Kunst; alles, was diese tun kann, ist, das allzu Genialische und Gewaltsame zu zügeln. Wer eins von beiden ganz gegen seine Natur und Kraft ist, ist entweder ein Repräsentant des Dings oder ein Versemacher. Darum sind auch beide im hohen Sinn so selten. Nur kann man den Repräsentanten des Dings keinen Vorwurf machen; denn sie müssen es sein, und das Schicksal hat über sie dieses Los geworfen, ohne sie zu fragen.

210
[453]

DIE Politik, der Stolz, die Eitelkeit, die Langeweile, das Vorurteil, die Übereinkunft, die Ansprüche, die Überschätzung, der feine Geschmack, ein schwächliches Gefühl, welches von allem Geraden und Wahren empört wird, haben die strenge Etikette, das steife, lästige Zeremoniell, die künstliche Politesse in den Gesellschaften der Mächtigen und Reichen dem Menschengeschlecht[182] zur Wohltat hervorgebracht. Wer darüber spottet und die Mächtigen und Reichen eines Bessern belehren möchte, ist ein schlechter Menschenbeobachter und kennt den Vorteil des Volks nicht. Vermahnen, dazu aufmuntern sollte man; auf Mittel denken, das Erlernen dieser Künste und ihre Ausübung noch schwerer zu machen; Vorübungsschulen, Akademien sollte man dazu einrichten und Preise austeilen. Warum? Weil es die einzige der vielen Befriedigungen der Mächtigen und Reichen ist, der sie nicht auf Kosten der Kleinen G[e]nüge leisten und wodurch sie sich standesmäßig untereinander und gegeneinander selbst quälen, wenn es eine Qual für sie ist. Wer hätte es wohl gewagt, ihren Einfällen, Begierden und Leidenschaften einen so zuverlässigen Kappzaum anzulegen, wenn es nicht die Verfeinerung der Sitten und das daraus entspringende Hochgefühl eines besondern Werts über die Menge ohne das Zutun der Kleinen getan hätte? So rundet sich alles Eckige in der Welt aus; das Lächerliche selbst wird nützlich, und man könnte auch hier sagen: den Menschen fließen Wohltaten zu, deren sie genießen, ohne sie zu ahnden oder ihre Quelle zu kennen. Verliert nicht der, welcher durch die Anstrengungen in diesen Kleinigkeiten zu glänzen sucht, die Kraft zu größern, gefährlichern Dingen? Arbeitet nicht mancher – um ganz liebenswürdig zu sein – so lange an dem Zurückdrücken seiner Begierden und Leidenschaften, bis sie endlich ganz verdampfen? Setzt er nicht den Rest seines Charakters, wenn er ja einen hatte, auf dieses Spiel? Wo soll das Ding, von dem man keine Spur zeigen darf, am Ende nisten? Ich sehe das ganze Wesen als ein Opfer an, das man sich unbewußt dem allgemeinen Besten dadurch bringt, daß man sich alles dessen, was die Ruhe stören könnte, nach und nach beraubt. Und wie leicht ist es nicht, hier vollkommen und ein Mann des Tags zu werden? Je mehr sich die Mächtigen und Reichen mit Kleinigkeiten und unbedeutenden Dingen beschäftigen, je sichrer ist die Ruhe der Menge. Wenn sie so recht in ihren ausschließenden Zirkeln prangen und des dortigen Glücks siegend genießen, so denken sie der rohern und ungebildetern Klasse nur mit Verachtung[183] und Mitleid, und diese mögen sich Glück wünschen, daß jene ein solches Theater für ihre Tätigkeit gefunden haben; denn diese Verachtung ist ihnen nützlicher als die Tätigkeit. Freilich, den aus einer solchen Stimmung entspringenden kleinlichen Leidenschaften entgeht man nicht, und ganz lischt der Mensch nicht aus; aber man kann ihnen ausweichen oder sie versöhnen. Nur derjenige, welcher mit Kraft und Mut aus Macht- und Reichtumsgefühl handelt, geht rasch und kühn vorwärts, er mag zerstören oder aufbauen. Wer die Tiefe eines Bücklings nach Graden berechnet und die Worte auf die Waagschale der Gebühr legt, wer aus Überschätzung seines Selbsts nur aufmerkt, ob es ein andrer wage, ihn unter derselben zu behandeln, läßt gewiß die Welt in Ruhe; und griffe er auch durch Zufall und Geburt in ihr Wirken ein, so wird er das Große vor dem vielen Kleinen nicht sehen und sich gleich anfangs bloß darauf setzen. Gebt also den Toren ihr eingebildetes Recht, so werden sie euch um so weniger in eurem wirklichen stören. Preist ihnen ihren Zeitvertreib an, sie werden eurer weniger denken, euch weniger als Zeitvertreib aufsuchen.

Wahrhaft große Männer sind immer einfach; ihr Betragen ist immer ohne Kunst und ohne Schminke, es fließt aus richtiger Schätzung ihrer selbst und dem Anerkennen des Werts andrer. Sie können durch solche Ziererei ihrem Werte nichts hinzusetzen, aber wohl ihm etwas nehmen. Von diesen ist hier die Rede gar nicht.

211
[184]

KEIN Verschwinden einer Täuschung überrascht mehr, als wenn man endlich Gelegenheit hat, die großen Männer im Staate oder an der Spitze der Armee recht in der Nähe zu sehen. In der Jugend erscheinen sie uns alle so groß, ihr Wirken so bedeutend und wichtig, ihr ganzes Wesen und Geschäft scheinen so viele außerordentliche Geisteskräfte, hohen Mut, Talente und Aufopferung zu erfordern, daß wir gar nicht begreifen, wie solche Menschen dazu kommen und sich dazu ausbilden können. Wir sehen die große Maschine sich bewegen und denken uns das Gewicht darnach. Aber wie erstaunen wir, wenn alle die Träume verschwinden und wir den kleinen Hebel sehen, der das große Ding forttreibt; dann wundern wir uns nur noch darüber, daß es mit so wenig angewandter Kraft geht, gehen kann und gehen muß. Das Kapitel der Aufopferungen verschwindet ganz. Wir sehen dann, daß mancher Staatsmann, der die Regierung leitet,[126] weniger Fleiß und nicht mehr Geisteskraft aufwendet, auch wohl nichts Größeres tut als ein Bürger, der Haus und Gut verwaltet und in Ordnung hält. Dann fällt natürlich unser Blick auf die, denen daran liegt, daß die Maschine gehe, und die aus Not und Instinkt den Gang derselben befördern, ohne zu ahnden, daß sie außer ihrem täglichen Beruf ein so großes Ding in Bewegung setzen und immer glauben, viel höhere Geister als sie trieben das Geschäft für sie. Diese vermeinten großen Geister gleichen der Mücke des Lafontaine, die von dem Heuwagen herunterrief: »Seht doch, was ich für einen gewaltigen Staub mache!« Den Zuruf vergessen die Herren auch nicht; wer wüßte auch sonst etwas von ihnen? Aber auch das hat sein Gutes; nur das Zuviel-Tun, das Immer-nur-wichtige-Dinge-tun-Wollen ist das Bedenkliche. Was würde überhaupt aus der Welt und den Kleinen wer den, wenn die, welche sie leiten, alle große Männer wären, nur Großes tun und wirken wollten? Aus dem vielen Kleinen recht viel Nützliches zusammensetzen und dann ein heilsames, harmonisches Große hervorbringen, das ist Größe, die wir wünschen müssen.

Solange der Himmel ruhig über uns einhergeht, ist alles still; nur wenn ein Schwanzstern erscheint, kömmt alles in Bewegung, vom größten Astronomen bis zur Küchenmagd.

Also keine großen Männer? Recht große Männer, nur keine Schwanzsterne und Feuerkugeln am politischen Horizont! Am Himmel nur schaden sie nichts, und wir sind berechtigt, an uns vorzüglich zu denken.

212
[127]

DIE meisten Menschen sterben, ohne nur ein Wort davon zu wissen, daß sie durch ein unbegreifliches Wunder gezeugt worden[436] sind, durch ein ebenso großes Wunder gelebt haben und von nichts als den erstaunungsvollsten Wundern der Natur umgeben waren. Sie ahnden gar nicht, daß sie ihre Tage auf einem Schauplatz voller Zauberschlösser zugebracht haben, deren herrliche Erscheinungen und Wunder keine Einbildungskraft erreicht, kein Verstand durchdringt, kein Gedächtnis faßt und keine menschliche Zunge nennt. Wer die Natur durch ihre großen Historiker und die Beobachtung selbst nicht kennt, der geht aus dem Grabe im Mutterleib in das Grab der Erde hinüber, ohne daß sich der Schleier vor seinen Sinnen verdünnt hat, und ich weiß nicht, wie er die Wunder jener Welt ansieht und erkennt, da er in dieser ein Fremdling geblieben ist und sozusagen ohne Maßstab ankömmt.

213
[437]

DIE Moral ist die Stütze der Religion, die Naturgeschichte sollte die Stütze der Moral sein. Hier herrschen durchaus feste, unveränderliche Gesetze; Gesetze, die wir befolgen müssen, wenn wir erträglich, mit Gewinn, Genuß und ohne Furcht unsre Tage hinleben wollen. Ordnung, Harmonie, Zweck und Notwendigkeit – sind dieses nicht die Angeln, um die sich das menschliche Leben dreht und drehen sollte? Und die letzte? Jeder Gegenstand in diesem schönen, klaren und erhabenen Lehrbuch deutet auf diese Gesetze hin; nur hier sehen und hören wir nichts von Anmaßung, Pedanterei, dogmatischem, sophistischem Ton. Die Weisheit im schönsten, bescheidensten Gewande spricht uns aus allem an und führt uns immer aus unserm Wahn auf uns selbst und diese Gesetze zurück. Was sind die Systeme der Philosophen gegen ein Insekt, eine Blume oder die Welt, die eine Staude in sich und um sich bildet? Und was sind die Genüsse des Metaphysikers, der den Schall von Worten zu verkörpern sucht, gegen die Genüsse des Naturforschers, der die wahre Schöpfung in ihren schönsten Geheimnissen belauscht?

Man kann der jetzt herrschenden kalten, auftrocknenden, erstarrenden Philosophie nichts Besseres entgegensetzen als die Kenntnis der Natur; und es freut mich, daß ich in den meisten Büchern, die man in Deutschland für die Jugend schreibt, diesen Gegenstand so zweckmäßig behandelt finde.

214
[410]

DER Geist, der Verstand, die Seele machen den Menschen zum moralischen Wesen. Dies angenommen, wie es dann angenommen werden muß, sollen und müssen auch sie die Materie beherrschen. Da wir aber tagtäglich zu unserm Kummer sehen und an uns selbst erfahren, daß man oft nicht weiß, wer eigentlich den Herrn in uns spielt, und die Materie öfters als die Seele despotisiert, so ist es unmöglich, daß alle Seelen von gleichem Stoffe, gleicher Form, Gestalt, Stimmung, Laune und Kraft sein können. Ich weiß, daß dieses alles leere, nichtssagende Worte sind, daß es wie Unsinn aussieht; aber dem sei, wie ihm wolle: Verhält es sich so, so müssen sich im allgemeinen Vorratshause der Seelen ebensowohl verkrüppelte, buckligte, schiefe, hektische, rachitische, ungesunde, träge, gallartige, nebligte, feurige, salamandrische Seelen finden, als es Körper dieser Art im Vorratshause der Keime oder Embryonen gibt. Kurz, es muß ebensowohl ein Verhältnis zwischen den Seelen als zwischen den Leibern obwalten; und wohl dem, welchem eine recht gesunde, unverkrüppelte bei der Geburt zuteil geworden ist! Kann er auch nicht auf das Geschenk stolz sein, da er so wenig dabei getan hat als bei seiner physischen Zeugung, so kann er sich doch die reine Erhaltung desselben zurechnen, und dieses ist nichts Kleines. Noch einmal: Es ist eitel Torheit, aus der vielleicht etwas Verstand nur wetterleuchtet; aber wahrlich, man kömmt in das Gedränge, wenn man alle die erbärmlichen Seelen um sich her sieht[77] und über den Gegenstand nachsinnt; hier rettet nichts als ein salto mortale oder ein capriccio. Glichen sich alle Seelen von Haus aus: was für eine Gewalt müßte die Materie auf sie ausüben? Könnte sie nicht aus der schönsten Seele – dem reinsten Ausfluß des erhabensten Wesens, dem heiligsten, uns von den Tieren der Erde trennenden, uns ihm nähernden Geschenk – ein Ungeheuer machen, das es bei Wiedererblickung gar nicht mehr für sein Geschöpf erkennte, das es verwerfen müßte? Wie? Was? Woher? Warum? Aber die Vernunft soll wachen, ihr sind die moralischen Gebote eingegraben, und zwar von dem Höchsten selbst. Kant erwies es noch neulich! Und je räudiger, ungesunder, widerstrebender, schlechter der Stoff des Körpers ist, den sie regieren soll, um so größer ist das Verdienst; ja, sie kann nur dadurch auf Verdienst pochen, wenn die Vernunft auf etwas pochen darf. Das Leichte wird gar nicht gerechnet, da man des Schwersten sich nicht rühmen darf. – Aber die Vernunft steckt ja in der Seele und die Seele in der Vernunft und der Geist in beiden. Es ist immer derselbe Regent, nur unter verschiednen Titeln, den wir uns bald aristokratisch, bald monarchisch, bald demokratisch, bald despotisch denken müssen und der auch wirklich das Schicksal der Regenten hat; denn seine Minister täuschen und betrügen ihn unaufhörlich, wie es Minister zu tun pflegen, zerren ihn hin und her, machen ihn wohl zuzeiten glauben, er herrsche; und er muß es wohl glauben, da sie ihm aus Politik oder Klugheit die oberste Stelle lassen und ihn immer als regierenden Fürsten begrüßen. Ich kann mir nicht helfen, der Eingang in die Welt scheint mir schon einem Hasardspiel oder einer großen Lotterie für uns zu gleichen. Wir setzen, ohne es einmal zu wissen, schon dann unser ganzes Dasein auf ein Los – und nach der Erfahrung gibt es tausend und tausend Nieten gegen einen Treffer. Die Seele fliegt unserm Keim oder dem an das Licht sich gewaltsam drängenden Körper zu, wie sie aus dem Lostopf gezogen wird; jeder muß sie aufnehmen und sich mit ihr durch das Leben behelfen. So schüttelt das Schicksal die Würfel schon bei unsrer Geburt vor dem Schoß der Mutter,[78] stürzt sie aus der Hand, unbekümmert um den, dem der Wurf gilt; ja vielleicht tut es dasselbe schon im dunkeln Schoß der Mutter bei der Zeugung. Alles, was es zu sagen scheint, ist: »Geh' hin und kämpfe gegen den Wurf – oder mache eine Niete zum Treffer!« Spiele auf dieser gellenden, schnarrenden Saite weiter, wer Lust hat! Von dem Sollen und Müssen, dem heiligen Willen habe auch ich gehört. Wer den Knoten zerhauen will, muß über die Himmel springen, nicht mehr rückwärts blicken; denn jeder Blick auf die Erde verwirrt ihn aufs neue.

Große Religionslehrer haben ihn so zerhauen: Nach ihnen werden alle Seelen gleich geschaffen, das Wesen der Wesen zieht sie aus dem Glückstopf, bezeichnet jedes Los – und dann dreifaches Weh dem, auf dessen Los Verdammungszeichen steht!

Wenn aber ein elender, übelgebildeter, ungesunder Körper eine gute, reine, schöne Seele verpfuschen kann: Wie kömmt es, daß so oft in den schönsten Körpern die flachsten, schlechtsten, erbärmlichsten Seelen wohnen? Dieses müßte dann gar nicht sein können, oder jenes hat auch nicht statt.

215
[79]

WER sich einen reinen Begriff von dem menschenfreundlichen Charakter Christus' machen und sich ganz überzeugen will, daß er keine Religion als Priester und für Priester zu stiften dachte, der vergleiche seine milden Lehren, die er selbst ausgesprochen, mit den harten, gewaltsamen, zwingenden Dogmen einiger Kirchenväter, des Augustins, Calvins, Luthers usw. Hier findet man, was der Stand wirkt, welchen Einfluß er auf den Charakter hat. Sie scheinen alle von dem Spruch ausgegangen zu sein: »Wer über den Geist des Menschen herrschen will, muß ihn ängstigen und zerknirschen.« Christus, der den Priestergeist, von dem er so ganz entfernt war, kannte, wollte die Juden von den Zwangsgesetzen des Leibes befreien und ihnen Gott, den das Alte Testament immer als den schreckenden malt, als einen Vater nach seinem milden Sinn darstellen. Die spätern vermessenen Lehrer[387] oder Priester seiner Lehre legten den Geist in Fesseln; und damit er sie nie löse, frischten sie die Schreckensfarben wieder auf, und um das Gemälde recht schaudervoll und zweckmäßig zu machen, erfanden sie die Gnadenwahl. Das nenne ich die Seelen der ganzen Christenheit mit einem einzigen Netzwurf fangen. Nun bedurfte doch auch der Beste ihres Trostes. Aber welch ein Herz mußte der Mann haben, der Gott so denken, ihn so lehren konnte? Nur ein Priester konnte so etwas ersinnen; und die Philosophie, von den Sieben Weisen Griechenlands bis auf den großen Kant, kann sich gegen die Theologie rühmen, nie etwas erdacht zu haben (und es fehlt auch hier an Unsinn nicht), das nur an diese Vermessenheit, um es gelinder zu nennen, grenzte. Nur das harte Herz, der Stolz, die Herrschsucht, der Haß, der Verfolgungsgeist, die Anmaßungen solcher Religionsmäkler konnten den milden Geist Christi um ihrer geheimen Zwecke willen so grob menschlich-priesterlich umformen, als wir ihn durch sie sehen, wenn wir ihn nach ihren Auslegungen beurteilen.

Sprechen nun Leute dieser Art die erhabnen Worte aus: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!«, so kann man gewiß sein, daß sie nichts anders mehr vermögen und sich ihrer als bloßer Formel am Ende doch einmal erinnern.

216
[388]

DER Selbstdenker Hobbes ist derjenige Philosoph, von welchem der Mensch am meisten über sich selbst erfährt. Er verliert sich, die Erde, worauf er lebt, und ihre Bewohner nie aus den Augen. Er ist vielleicht der einzige Philosoph, der seinem Forschungsgeist nie erlaubte, das Land der Schimären zu betreten. Kam es daher, daß er so wenig las? daß ihm nichts daran lag, die Systeme der andern zu stürzen, da er Grund und Boden für das seine gefunden hatte? Man macht ihm zum Vorwurf, er sei ein Lehrer des Despotismus. Wenn ein Mann von seinem Geiste gezwungen ist, den religiösen Wahnsinn der Independenten, Presbyterianer und wie sie alle heißen eine Zeitlang anzuhören, so flüchtete er sich auch in die Hölle, wenn ihre Tore den Lebenden offen ständen.

217
[432]

DIE Buchdruckerkunst macht es den Betrügern und Schwärmern schwerer als die wachsamste Polizei, neue Sekten oder Religionen, wie sie es nennen möchten, zu stiften. Sie hat es Cagliostro, Mesmern, Gaßnern, Lavatern und andern gezeigt. Ohne sie waren sie selbst in unserm aufgeklärten Zeitalter auf dem rechten Wege dazu; die Buchdruckerkunst hat ihn aber zu hell für sie erleuchtet.

218
[504]

WARUM betrachtet man in allen Staaten den Minister des Auswärtigen vorzüglich als Minister und räumt ihm den Rang oder das Gewicht über denen des Innern ein? Warum glaubt man, sein Posten erfordere mehr Geist und Klugheit als der für das Innere? Liegt dem Fürsten und dem Volke mehr an dem Äußern als an dem Innern? Es wäre Unsinn, da beide nur durch das Innere da sein und bedeuten können. Denken vielleicht die[127] Fürsten, das Innere ginge ohnedem und müsse gehen? Ich glaube, die große Aufmerksamkeit auf das Äußere, die Achtung für den Minister des Auswärtigen und seine behutsamere Wahl, beweise weiter nichts als die Meinung, die die Fürsten untereinander von sich haben. Der Minister des Auswärtigen gleicht dem Wächter auf dem Turme einer immer vom Feinde bedrohten Stadt. Das schärfste Auge sieht am weitesten, entdeckt den Feind am geschwindesten; daher kömmt nun die allgemeine Schätzung für alles Diplomatische; und sie beweist unsre »Sicherheit«, unsre »Verträglichkeit«, unsre »friedliche« Verfassung.

219
[128]

WIE konsequent der Priestergeist in seinem Fache ist, mag folgende Anekdote beweisen: Als Christoph Beaumont, Erzbischof von Paris, der Molinist, auf den Einfall kam, dieselben Waffen gegen die Jansenisten zu gebrauchen, die einst der Kardinal Noailles gegen die Molinisten benutzte: den Gesunden und Sterbenden das Abendmahl nur auf ein Zertifikat zu reichen, ließ er gleich seine Befehle an die ganze Klerisei in Frankreich ergehen. Er wollte den Hof verwirren, und das Ärgernis war so groß, daß das Parlament endlich durch einen Schluß befahl, den Gesunden und Sterbenden das Abendmahl ohne ein solches Zertifikat zu reichen. Villeneuf, Erzbischof von Montpellier, gewandter und[388] feiner als alle seine Mitbrüder, suchte sich gegen den Schluß des Parlaments auf folgende merkwürdige Art zu decken: Ein sterbender, des Jansenismus verdächtiger Priester forderte das Viatikum und was dazu gehört. Der Erzbischof, um es mit beiden Mächten nicht zu verderben, schickte seinen Großvikarius nach den Kirchen der Stadt mit dem Befehl, alle Hostien so geschwind als möglich zu verzehren. Er leerte auch wirklich alle Ziboria aus, und die Mahlzeit bekam ihm so übel, daß er eines plötzlichen Todes starb. Als man seinen Leichnam öffnete, fand man einen festen Klumpen Teig in seinem Magen. Hier würde jeder Zusatz zuviel und zuwenig sein. Und solche Priester sprechen von Religion! Und man wundert sich über den Verfall der Religion zu jener Zeit in Frankreich!

220
[389]

MAN kann auf die Stimmung des Geistes und Herzens der Mächtigen und Reichen nach den Gegenständen der Gemälde schließen, die sie an den Wänden des Zimmers um sich haben, worin sie sich vorzüglich aufhalten; vorausgesetzt, daß Neigung und nicht Kenner-Liebhaberei, die nur auf den großen Namen des Malers und die Seltenheit sieht, die Wahl getroffen hat. Ich wenigstens kann in kein solches Zimmer treten, ohne mit meinen Blicken die Gegenstände der Gemälde zu mustern und die Gemälde über den Besitzer und den Besitzer über die Gemälde im stillen zu examinieren. Ist es nicht erfreulich, erweckt es nicht Zutrauen zu dem Besitzer, wenn man eine Reihe schöner, edler, erhabner Taten und Handlungen, von dem Pinsel des Künstlers der Vergessenheit entrissen, um sich her sieht, mit denen der, welcher sie ausgewählt, in Einverständnis steht? Sind es nicht oft die Gemälde allein, die den Mächtigen noch Wahrheiten sagen, ihnen von tugendhaften, edlen Handlungen und Aufopferungen reden, indem sie ihnen die Beispiele davon lebendig vor die Augen stellen? Es sind Lehrer ohne alle Anmaßung für sie.

221
[180]

DIE gefährlichsten Feinde der Religion sind nicht die, welche über den Mißbrauch, den die Menschen mit ihr treiben, laut werden, gegen die Vorurteile zu Felde ziehen und für die helle Vernunft arbeiten, ja selbst die nicht, die die Sache selbst und gerade antasten; die Indifferenten (die kalten Gleichgültigen) sind es, die über den Mißbrauch und die Vorurteile lachen und sich ihrer schädlichen Wirkungen erfreuen. Diese verachten die Menschen so sehr, daß sie glauben, sie könnten nicht anders sein und handeln, wären nichts Bessers wert, die Vorurteile allein machten ihr Glück, und man müßte sie lieber tiefer in den Schlamm hineinstoßen, als sie herauszuziehen suchen. Diese Leute sind zu fürchten, und ihre Zwecke, ihre Denkungsart verdienen Aufmerksamkeit.

222


AUCH der Hof und der Staat hat seine Indifferenten oder Gleichgültigen, und sie erfordern besondere Aufmerksamkeit. Sie unterscheiden sich nur dadurch von den übrigen, daß ihre Indifferenz den Augenblick zur wärmsten Parteilichkeit übergeht, wenn das Maß der Torheiten und des daraus fließenden Unglücks voll ist. Diesen Augenblick erwarteten sie in kalter, anscheinender Stille, und das Unglücksmaß füllte sich nicht ohne Genuß für sie.

223
[189]

WER das Mögliche frecher Anmaßungen, Überschätzung des Werts, von Dummheit, Narrheit, Stolz und Selbstgefälligkeit erfahren will, der höre die Unzufriedenen in einem Staat an, merke gefällig auf ihre Klagen und scheine an die Verdienste, die sie dem Staate geleistet haben und noch leisten könnten, zu glauben. Ich zweifle aber, daß ihm Ärger und Unwillen das Lachen verstatten.

224


VOR dem Manne mit Kraft und List – oder mit einem Wolfszahn und einem Fuchsschwanze – hütet euch, besonders wenn er ein Hof- oder Staatsmann ist oder sonst einen wichtigen Posten bekleidet; am meisten, wenn er das Haupt einer Partei ist oder[223] darnach strebt. Solche Charaktere finden sich am ersten unter den halbkultivierten Völkern, und es gehört ein Rest von Wildheit, ein durchdringender, seinen Vorteil schnell absehender, aber kein geordneter Verstand dazu. Es ist gewöhnlich Selbstbildung, Entwicklung der innern Kräfte durch die Umstände bis an die Linie, wo die Moralität anfängt. Von dieser Linie halten ihn die heftigen Begierden und der Geist, der im Verwegnen seinen Wert sucht, zurück. Umarmt euch ein solcher Mensch, so beißt er euch wenigstens mit seinem Bärenherzen, wenn ihr noch nicht zu seinen Zwecken paßt, und tritt er in einer Gesellschaft auf, so mustert er Freund und Feind mit dem Blick des Raubtiers, indem er zugleich jedem der Anwesenden mit dem Fuchsschwanz über die Augen streicht.

225
[224]

GELLERT und Rabener haben mehr zur Bildung des deutschen Volks beigetragen als unsre größten Genies ebendarum, weil sie keine Genies waren und es auch nicht scheinen wollten. Was soll auch das Volk mit den Werken der Genies machen?

226
[491]

DER Mensch kann vielleicht alles vergessen: die Liebe, die Freundschaft, die schuldige Dankbarkeit, alle Pflichten, ja selbst das Andenken des Guten, das er getan hat. Was er aber nicht vergessen, dem er nie ausweichen kann, was nie in ihm schläft, das, wenn es auch schlummern könnte, doch durch das kleinste Ereignis plötzlich erweckt würde, ist sein eignes Urteil über seinen Wert und sein geführtes Leben. Hier zeigt sich der Finger eines Höhern mehr als in der ganzen übrigen Schöpfung, und[36] hier liegt der Grundstein der Moral, den weder Laster noch Sophismen bewegen können und nie bewegen werden; denn während man sie begeht, während man sie niederschreibt oder denkt, spricht man sich auch schon das Urteil drüber.

227
[37]

MIT geziemender Bescheidenheit und der gehörigen Achtung für die jetzt lebenden großen philosophischen Genies aller deutschen Universitäten wage ich meinen Landsleuten in das Ohr zu flüstern: Wir haben einst auch einen Philosophen gehabt, der einiges Aufsehen in Europa machte; er hieß Leibniz. Bald wird man hinzusetzen müssen: und einen Kant!

228


ES ist ein Buch zu schreiben über die Undankbarkeit gegen die Genies vergangener Zeit; nicht des Publikums, sondern der[432] lebenden Genies; denn diese – sie seien Dichter, Philosophen, Moralisten, Politiker, Ökonomen und was man will – fangen gewöhnlich damit an, daß sie vor den Augen des Publikums die Altäre der Verstorbenen ihres Faches zerschlagen; kein Wunder, daß dann die Verehrung derselben aufhört. Also ein Buch über die Undankbarkeit der Genies gegen die Genies. Aber – ach! – die Nemesis erwartet auch sie!

229
[433]

ES gibt Leute von Welt, Geist und auch wohl von Herz, die mit Ernst spotten und mit Spott ernsthaft sind. Man muß ihre Schule gemacht haben, um sie zu erraten; das heißt: man muß durch Erfahrung an dem Nichtigen, Unsteten, Zweideutigen, Zwecklosen humoristisch geworden und der Geist durch das Aufzeichnen der vielen mißlungenen Kalküln ein so schneller Rechenmeister geworden sein, daß er bei jedem Ereignis, jeder Begebenheit, die andre erfreuen, in Bewundrung, Erstaunen und Hoffnung setzen, schnell das Fazit zieht; aber das Herz muß sich noch an der allzu großen Fertigkeit des Rechenmeisters ärgern. Nur der letzte Umstand macht humoristisch. So wird es auch begreiflich, wie ein solcher Mann über wichtige Begebenheiten und Vorfälle spöttisch und über kleine ernsthaft spricht: Die ersten, denkt er, verlieren ohnedies ihr Gewicht, und den letzten muß man doch aus Mitleid beistehn, damit sie etwas zu sein scheinen.

230


Quelle:
Friedrich Maximilian Klinger: Betrachtungen und Gedanken, Berlin 1958, S. 3-7,13-18,36-38,44-51,57-61,69-70,75-80,85-87,91-92,95-96,109-114,123-129,133-134,144-146,169-170,179-185,189-190,197-198,200-207,213-216,221-225,238-241,245-251,256-260,263-272,276-279,281-283,301-307,314-317,324,329-333,348-354,359-361,376-378,384-390,397-399,402-407,410-411,415-420,432-434,436-438,445-446,449-454,457-461,468-473,479-482,490-492,498-502,504-505.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Betrachtungen und Gedanken
Betrachtungen Und Gedanken Uber Verschiedene Gegenstande Der Welt Und Der Litteratur (1 )
Betrachtungen Und Gedanken Über Verschiedene Gegenstände Der Welt Und Der Litteratur, Nebst Bruchstücken Aus Einer Handschrift (German Edition)

Buchempfehlung

Haffner, Carl

Die Fledermaus. Operette in drei Aufzügen

Die Fledermaus. Operette in drei Aufzügen

Die Fledermaus ist eine berühmtesten Operetten von Johann Strauß, sie wird regelmäßig an großen internationalen Opernhäusern inszeniert. Der eingängig ironische Ton des Librettos von Carl Haffner hat großen Anteil an dem bis heute währenden Erfolg.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon