Sechster Abschnitt

Ob unsre heutigen Staatsverfassungen auf echten Grundsätzen beruhen und der Stimmung des Zeitalters angemessen sind

Nachdem ich nun im allgemeinen die Grundsätze entwickelt habe, auf welche durchaus eine jede Regierungsverfassung gebauet sein muß, wenn sie zweckmäßig und dauerhaft sein soll, so lasset uns doch nun auch sehn, ob unsre gegenwärtigen europäischen Staaten nach diesen Grundsätzen regiert werden oder nicht und ob also zu erwarten steht, daß sie noch lange so, wie sie beschaffen sind, bleiben können! Ich glaube, das ist nicht schwer zu beantworten, und es bedarf wohl keines weitläuftigen Beweises, um darzutun, daß die Regierungen der mehrsten kultivierten Länder nach und nach Maximen angenommen haben, die in dem allerauffallendsten Kontraste mit den ersten Grundsätzen des gesellschaftlichen Vertrags stehen – eine kurze Darstellung wird hinreichen, dies anschaulich zu machen, und dann werden wir zugleich gewahr werden, daß die mehrsten nicht einmal politisch genug sind, solche Mittel zu wählen, die der Stimmung des Zeitalters angemessen sind.

Das römische Recht schon ist ein wahres Alphabet des Despotismus. Kann man sich einen abscheulichern Grundsatz denken als den, welcher L.I. in pr. D. de constitutionibus principum steht? Quod principi placuit, habet legis vigorem. Der Willen, die Phantasie, die Grillen eines einzigen Menschen also sollen die Handlungen von Millionen bestimmen? Darauf kann der Vorsteher eines Irrhauses oder der Erzieher unmündiger Kinder seine Gewalt stützen, in einem wohlgeordneten Staate hingegen muß das Gesetz eher existieren als der Handhaber und Exekutor der Gesetze. Gestattet aber ein Volk seinem Regenten, willkürlich Verordnungen zu machen, die nicht in der Konstitution gegründet sind, so ist natürlich zu erwarten, daß diese Herrschaft nur so lange dauern kann, als die Nation, das heißt der stärkere Teil, sich das gefallen lassen will, weil sie entweder zu roh und unwissend ist, um über ihre Verhältnisse nachzudenken, oder sich bei den Verordnungen wohl befindet. Also ist eine solche Regierungsverfassung allen Gefahren einer Revolution ausgesetzt. Wir haben aber in Europa Länder, wo es gar keine Volksrepräsentanten, Reichsstände, Parlamente, Landstände und dergleichen gibt, sondern wo der Willen des Herrn das höchste Gesetz ist; und in diesen Ländern ruht dann die Oberherrschaft auf schwachen Füßen.

Eine sehr unnatürliche, von einigen unsrer Juristen bestimmt oder verblümt behauptete und auch aus den römischen Gesetzbüchern, obgleich erzwungen, hergeleitete Lehre ist die: daß der Mensch, indem er das Band der bürgerlichen Gesellschaft geknüpft, seinen natürlichen Rechten entsagt hätte, daß das Völkerrecht das Naturrecht aufhöbe oder wenigstens dieses durch jenes beschränkt werden könnte – ein grober Irrtum! Seinen natürlichen Rechten kann niemand entsagen; sie machen einen Teil seiner Menschheit aus; aber übertragen kann er sie, und zwar:

1. nicht mehr Rechte übertragen, als er selbst haben würde, wenn er sie in Person ausüben wollte, und

2. kann er zwar einen Kontrakt schließen, der ihn, nicht aber einen solchen, der andre Menschen, am wenigsten die folgende Generation, verbindet.

Nun aber üben unsre Beherrscher Rechte aus, die sich gar nicht aus dem Naturrechte erklären lassen, sondern die vielmehr mit diesem im Widerspruche stehen, die niemand ihnen übertragen konnte, die niemand ihnen übertragen hat, die ihnen nicht angeboren und nicht auf sie vererbt sein können. Solche Regenten haben dann zu befürchten, daß ihre Gewalt aufhört, sobald der gute Willen, sich dies gefallen zu lassen, lau wird.

Überhaupt scheinen die beiden Grundsätze, daß der Willen des Fürsten das höchste Gesetz sei und daß die bürgerliche Verbindung die natürlichen Rechte aufhebe, von den mehrsten europäischen Beherrschern als ein Glaubensartikel betrachtet zu werden. Sie setzen sich und ihre Nachkommen auf ewige Zeiten an die Stelle derer, durch deren Übereinkunft sie die Oberherrschaft besitzen, ja, einige von ihnen scheinen ganz zu vergessen, daß alle Oberherrschaft ursprünglich von freiwilliger Übertragung herrührt und alle Gewalt vom Volke abstammt, dessen Stellvertreter sie sind. Sie sehen das ganze Land als ihr Erbstück, als ihr Eigentum an; sie vertauschen und verkaufen Provinzen, ohne sich darum zu bekümmern, ob die Untertanen Lust haben, sich einem andern Herrn zu unterwerfen oder nicht; sie fordern Abgaben und treiben sie ein, ohne Rechenschaft abzulegen, ob diese Gelder zu Bestreitung der Staatsbedürfnisse verwendet werden; sie bestreiten aus dem öffentlichen Schatze ihren unnützen Aufwand und die Unkosten zu eiteln Vergnügungen und Flitterstaate; sie bestrafen Beleidigungen ihrer eignen Person wie öffentliche Verbrechen; sie setzen die übrigen Staatsbedienten nach Willkür an und ab; sie machen willkürlich neue Gesetze und widerrufen die alten, dispensieren, begnadigen, mildern und verdoppeln die Strafe; sie rauben Freiheit und Leben ohne vorhergegangnen öffentlichen Prozeß, ohne Bekanntmachung des Verbrechens. Wem schaudert nicht die Haut, wenn er liest, daß Ludwig der Eilfte zwei Prinzen von Armagnac in einem Ker ker, in welchem sie nie grade aufrecht stehn und gar nicht gehn konnten, verschmachten ließ, nachdem sie wöchentlich zweimal bis aufs Blut gepeitscht und ihnen vierteljährlich ein Zahn ausgerissen wurde, und daß sich nachher fand, daß sie – gar nichts verbrochen hatten? Man antworte hierauf nicht, daß dergleichen in unsern Tagen nicht mehr geschehe! Erstlich ist das nicht wahr, und dann, wenn es auch so wäre, so bewiese das nichts. Eine Staatsverfassung, in welcher es nur möglich ist, daß dergleichen geschehn kann und darf, ist nicht besser wie eine Mördergrube und Räuberhöhle, und wer leugnet, daß dies noch jetzt in manchem europäischen Staate geschehn kann und darf? Sie selbst, die Regenten, glauben sich über die Gesetze erhaben, bestrafen Verbrechen, die sie täglich selbst begehen, und an der Seite einer vor den Augen des Volks unterhaltenen, geehrten, im Glanze des Reichtums und der Hoheit lebenden Mätresse unterschreiben sie Verdammungsurteile gegen Hurer und Ehebrecher. Zu Befriedigung ihrer Privatrache, und wo bloß ihr Familieninteresse im Spiele ist, führen sie blutige Kriege, die Hunderttausende das Leben kosten. Was ging denn der Spanische Sukzessionskrieg die französische Nation an? Was kümmerte es die Schweden, ob der König in Polen Augustus oder Stanislaus hieß? Sie privilegieren gewisse Stände auf Unkosten der übrigen Bürger und bestimmen über die öffentliche Ehre, als wenn diese von ihrer Schätzung abhinge, ein Werk ihrer Schöpfung wäre. Rang, Gewicht und Ansehn sind nicht der Preis des größern Verdienstes, der größern Nützlichkeit, sondern der Gunst eines einzelnen. Gefällt dem Fürsten ein Schmeichler, ein müßiggehender Hofschranze vorzüglich wohl, so gibt er ihm den Rang eines Feldherrn und überschüttet ihn mit Reichtümern, die hundert arbeitsame Familien aus dem Elende retten würden. So sind denn die unnützesten Bürger die vornehmsten und reichsten und die, welche mit ihrer Hände Arbeit den Staat aufrechterhalten, verachtet und dürftig. Wo etwa noch Repräsentanten des Volks, dem Anscheine nach, das Recht haben, zu Abgaben und neuen Einrichtungen ihre Einwilligung zu geben oder zu verweigern, da werden diese Repräsentanten nicht frei gewählt aus denen, welche am mehrsten bei solchen Verhandlungen interessiert sind, sondern es sind Personen, die entweder aus Furcht oder aus Eigennutz so reden, wie es der Regent gern sieht, und die um so williger sind, ihm alles zu geben, was er fordert, da sie das Privilegium haben, keine der Lasten mitzutragen, sondern sie allein auf die Klassen zu wälzen, welche keine Stimme haben. Derjenige Stand, welcher grade am mehrsten leisten und zahlen muß, darf am wenigsten dazu sagen, auf welche Weise er leisten und zahlen will. Friedensschlüsse, die ganzen Nationen neue Verbindlichkeiten auflegen, werden, ohne Rücksprache, von einzelnen Personen beschworen und – gebrochen. Über dies alles seine Meinung freimütig, wenn auch noch so bescheiden, zu sagen, so wichtig auch diese Gegenstände der ganzen Menschheit sind und so unbezweifelt das Recht jedes Mitbürgers ist, sich darum zu bekümmern, wie mit ihm und dem Seinigen gewirtschaftet wird – das gilt für ein Staatsverbrechen. Gibt es doch in Italien einen Staat, der noch vor wenig Jahren sechstausend Spione besoldete, die jedes Wort von der Art aufsammeln und hinterbringen mußten!

Ebenso mit Vernunft und Billigkeit streitend wie die politischen Grundsätze in dem größten Teile von Europa, so sind es auch unsre gottesdienstlichen Einrichtungen und kirchlichen Verfassungen. Der Staat maßt sich das Recht an zu entscheiden, wie man von Gott und göttlichen Dingen denken und reden und nach welcher Form man dem höchsten Wesen seine Verehrung bezeugen solle. Diese von der weltlichen Regierung dem Schöpfer aller Dinge vorgeschriebne Weise, wie er sich soll anbeten lassen, nennt man dann die herrschende Religion, und gute Bürger, die aber nach einer andern Art, ihrer Überzeugung gemäß, die heiligste ihrer Pflichten, die keinem Zwange unterworfen sein kann, erfüllen wollen, können froh sein, wenn sie geduldet werden. Daß man sie von bürgerlichen Ämtern und Vorteilen ausschließt, versteht sich von selber, und es ist die Frage, ob jemand, der laut sich erklären würde, er glaube nicht an die ewige Verdammnis, auf dem ganzen festen Lande von Europa an irgendeinem Orte als Nachtwächter Brot fände. Die Geistlichen machen einen besondern Stand aus und mischen sich in Geschäfte, welche allein die weltliche Regierung angehen, dirigieren den Unterricht der Jugend und lassen den Menschen den vierten Teil seines Lebens, den er anwenden sollte, sich zum guten Bürger zu bilden, mit dem sehr unnützen Studium der dogmatischen Lehrsätze verschwenden und ihn, wenn er vierzehn Jahre alt ist, angeloben, was er sein ganzes Leben hindurch glauben will, gleich als wenn ein Mensch voraus wissen könnte, was er in der nächstfolgenden Stunde glauben wird, und als wenn man nicht jedem überlassen müßte, da, wo es nur auf seine individuelle Überzeugung und Glückseligkeit ankömmt, sich ein System zu wählen, das ihm Ruhe und Zufriedenheit gewährt! Noch alberner, wenn das möglich ist, muß es einem Philosophen vorkommen, daß die Fürsten in Friedensschlüssen miteinander darüber einig werden, was ihre sämtlichen Untertanen künftig glauben sollen. In katholischen Reichen übt denn vollends die Geistlichkeit eine Gewalt aus, die zuweilen sogar der weltlichen Regierung furchtbar ist und die ihr niemand übertragen hat, verschwelgt im Müßiggange das Fett des Landes, verurteilt ihre Mitglieder, den Trieben der Bestimmung und den Pflichten zu entsagen, wozu die Natur alle Geschöpfe auffordert, und entzieht dem Staate tätige Bürger, um sie in Klöster einzusperren. Die vorgeschriebne Art der äußern Gottesverehrung besteht in manchen Ländern aus läppischen, kindischen Zeremonien, in andern aus den allerlangweiligsten und geschmacklosesten Gebräuchen.

Alle diese politischen und kirchlichen Systeme nun hindern denn auch den Fortgang der Wissenschaften und hemmen den freien Untersuchungsgeist. Wem die Natur Talente gegeben hat, Licht zu verbreiten und Wahrheit zu finden, der muß seine schönsten Jahre verschleudern, um sich und die Seinigen fähig zu machen, durch die Menge verwickelter Verhältnisse hindurch, in die Klasse der wenigen hinaufzurücken, die auf Unkosten der übrigen größern Anzahl leben; die Philosophie darf über alles grübeln, nur nicht über das, was den Menschen am wichtigsten ist; wer Geschichtbücher schreibt, der schildert die Torheiten und Verirrungen einzelner Personen. Der Gelehrte muß ums Geld arbeiten; er muß sich also nach Zeit, Umständen und den Launen des Publikums richten, statt nur Wahrheit und Schönheit vor Augen zu haben. – Doch warum sollte ich die Züge häufen, um die Inkonsequenzen unsrer Verfassungen zu schildern? Leugne einer, wenn er kann, daß das Original zu diesem mehr oder weniger ähnlichen Bilde in allen europäischen Staaten anzutreffen ist! Oder sollen wir England ausnehmen? Freilich, wenn wir des Herrn de l'Olme Roman über die englische Konstitution für treue Darstellung der Verfassung halten wollen, so findet man nirgends eine zweckmäßigere Gesetzgebung, mehr Gleichheit in Verteilung der Gewalt, mehr persönliche Freiheit und Sicherheit als in Großbritannien. Aber beleuchten wir ein wenig die Szene, so werden wir andrer Meinung. Des Königs Gewalt über Krieg und Frieden und überhaupt seine monarchische Macht ist dadurch eingeschränkt, daß von der Nation die Verwilligung der zu jeder Unternehmung nötigen Gelder abhängt; auch darf er, ohne Einstimmung der Parlamente, keine Gesetze geben. Diese Parlamente nun bestehen aus gewählten Repräsentanten, die, wie bekannt ist, nach einer höchst widersinnigen Proportion das ganze Volk vorstellen, so daß eine Universität deren mehr abschickt als eine ganze Grafschaft. Bestechungen haben, nach Monsieur de l'Olmes Versicherung, dabei nicht statt; aber das ist keinem, der gewählt werden will, verwehrt, daß er einem Wählenden für einen Korb voll Eier hundert Pfund Sterling bezahle. Die Hofpartei ist also nicht nur Meister von den Wahlen, sondern kann auch, da sie Ehrenstellen und Pfründen vergibt, sich nach Gefallen Partei ma chen und durch die Überstimmen Dinge durchsetzen, wovon jedermann weiß, daß der neunundneunzig Hundertteil der Nation dagegen ist. Die Justiz wird so verwaltet und die Gesetze sind so klar, daß nirgends in der Welt die streitenden Teile so jämmerlich von den Advokaten geschunden und nirgends in der Welt so himmelschreiende Urteile gesprochen werden als in England. Die Friedensrichter sind nicht selten bestechbar, die Geschwornen oft gewissenlose Menschen aus dem niedrigsten Pöbel. Ein Bösewicht, der mich als Dieb angibt und seine Aussage durch einen Meineid bekräftigt, kann mich ohne Umstände an den Galgen bringen. Durch den geringsten Anstoß gegen übliche Förmlichkeiten wird die gerechteste Sache verloren, und der ärgste Verbrecher bleibt ungestraft, wenn bei seinem Prozesse gegen eine solche Formalität gefehlt ist. Als im Jahre 1790 ein verworfner Mensch die Frauenzimmer auf offner Straße mörderischerweise mit Messern anfiel und er endlich entdeckt und angeklagt wurde, fehlte nicht viel, daß man ihn hätte ohne Strafe freilassen müssen, weil die Anklage in eine solche Form gebracht war, daß daraus nichts erwiesen werden konnte, als daß er ein paar Löcher in die Kleider einiger Damen gerissen hatte. Ein Mädchen, das Hauben gestohlen hat, wird, wenn auch der Diebstahl selbst erwiesen ist, freigesprochen, wenn der Ankläger aus Versehn Leinewand nennt, was Nesseltuch war. Ein Mann darf seine Frau, mit einem Stricke um den Hals, auf dem Markte verkaufen. Vor zwei Jahren geschahe dies in einer englischen Stadt von Gerichts wegen an einer Armen, welche die Gemeine nicht länger zu ernähren Lust hatte. Wenn ein unglücklicher Mensch, einer Kleinigkeit wegen, am Pillory steht, so wird dem Pöbel verstattet, ihn zu Tode zu martern. Von den greulichen Gewalttätigkeiten, die im Jahre 1790 bei dem Matrosenpressen vorgingen, habe ich schon oben geredet; ich will nur noch den Herrn von Archenholz als Zeugen anführen, der uns erzählt, wie damals freie, mit Gewalt angeworbne Menschen zu Hunderten in enge Schiffsräume zusammengepackt wurden, wo viele von ihnen, wie im schwarzen Loche in Kalkutta, erstickten. Der Unfug der Akzise-Bedienten beweist auch nicht, daß Freiheit in England respektiert wird; daß jemand, der die Schwester seiner verstorbnen Frau heiratet, wie ein Blutschänder bestraft wird, ist eben kein Zeichen einer philosophischen Gesetzgebung. Die reichen Geistlichen führen ein ärgerliches und wollüstiges Leben in der Hauptstadt und lassen drei oder vier Landpfarreien, welche sie an sich gekauft haben, durch Vikarien versehn. Hierzu werden die gewählt, welche am wenigsten Besoldung fordern; die Gemeinen müssen mit den verworfensten, unwissendsten Menschen zu Seelsorgern vorliebnehmen, indes die wirklichen Pfarrer von ihrem teuren Gelde in London Mätressen unterhalten und nie keinen Fuß in ihre Kirchsprengel setzen. Die Preßfreiheit wird von Jahren zu Jahren mehr eingeschränkt. Luxus, Mangel an Treue und Glauben und Unsittlichkeit nehmen auf eine fast unglaubliche Weise überhand. Öffentlich werden Akademien eröffnet, in welchen man Unterricht im Stehlen gibt; öffentlich werden die Hasardspiele geduldet, gegen welche man die strengsten Gesetze gegeben hat; die Menge müßiger, gegen die Ordnung der Natur lebender Menschen vermehrt sich in allen Ständen, und die unerhörtesten, niederträchtigsten Verbrechen und Laster, wovon man täglich Beispiele sieht, laden den Staatsmann und Philosophen eben nicht ein, die englische Verfassung zum Muster anzupreisen.

So sieht es mit unsern europäischen Staatsverfassungen aus – leugne das, wer da kann, und verteidige das, wer da darf! Nicht daß wir keine edle, große, die heiligen Menschenrechte respektierende Könige und Fürsten hätten; aber wir reden hier nicht von einzelnen Menschen, die sich des Mißbrauchs enthalten, den sie von ihrer Gewalt machen könnten, und die, soviel möglich, den Fehlern auszuweichen, die Gebrechen zu heilen suchen, die in der Konstitution liegen, sondern von den Verfassungen selbst reden wir, die von der Art sind, daß keine bestimmte Gesetze jenen möglichen Mißbrauch einschränken. Sie sind also gegen die Ordnung der Natur; sie streiten mit dem ersten Zwecke jeder gesellschaftlichen Vereinigung, indem sie, statt die allgemeinen Menschenrechte und die persönliche Sicherheit und Glückseligkeit aller durch gegenseitigen Schutz zu befördern und gegen Beleidigungen zu sichern, vielmehr ganz darauf eingerichtet zu sein scheinen, daß eine kleinere Anzahl der Bürger, auf Unkosten der größern Anzahl, ihre Leidenschaften befriedigen, sich Vorteile verschaffen und Vorrechte anmaßen könne, die ihnen nach der Ordnung der Natur nicht zukommen. In den Zeiten der Barbarei nun, wo unter hundert Menschen kaum einer fähig ist, über seine Verhältnisse nachzudenken, wo dicke Nebel die Augen des großen Haufens umhüllen und alle Ressorts, aus welchen das Maschinenwerk des Despotismus besteht, ihre volle Kraft haben, da läßt sich eine solche Gewalt über die Menge erlangen. Auch beruht diese Gewalt auf dem heiligen, in der Natur gegründeten Rechte des Stärkern; denn wenn der Schwächere in den Kräften seines Geistes und in seiner Geschicklichkeit Hülfsquellen findet, die ihm den Mangel an körperlicher Prästanz ersetzen, oder wenn er den Stärkern dahin bringen kann, daß er freiwillig oder aus ungegründeter Furcht ihm ein Übergewicht zugesteht, so wird er ja dadurch der Mächtigere. Allein sobald jener die Augen öffnet und anfängt, sich selber zu erkennen und zu fühlen, dann ist die Zeit der Täuschung aus, und das künstliche Regiment hat ein Ende. Töricht wäre es, verlangen zu wollen, daß in einem Zeitalter, wo Kultur und Wissenschaften in allen Ständen zugenommen haben, die alten Gängelbänder, an welchen man unwissende und dumme Menschen leitet, nämlich Vorurteil, Autorität, Täuschung und blinder Glauben, noch immer den Haufen der Starken im Zaume halten sollten. Und doch verlangen wir nicht nur, diese Albernheit durchzusetzen, sondern wir wollen sogar die Sache per modum contrarium treiben, das heißt: indes das Volk täglich klüger, täglich abgeneigter wird, sich im Blinden führen zu lassen, werden die Ansprüche der Herrscher auf blinden Gehorsam täglich größer. – Das Kind behandelte man mit Glimpf, und den Mann will man mit der Rute züchtigen. Ist es möglich, ist es denkbar, daß dies dauern könne? Nein, gewiß nicht! und ohne Prophet und ohne Aufwiegler zu sein, kann man es voraus verkündigen, daß allen europäischen Staatsverfassungen eine nahe Umkehrung bevorsteht.

Quelle:
Adolph Freiherr von Knigge: Der Traum des Herrn Brick. Berlin 1979.
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