23.

[44] Und nun zum Schlusse dieses, vielleicht manchem Leser zu trocken scheinenden Abschnittes, noch einige Bemerkungen! Ich habe oben die Würklichkeit angebohrner, allen Menschen eingepflanzter bestimmter Begriffe von Tugend und Pflicht geleugnet. Es ist hingegen unwiderlegbar gewiß, daß in unsrer Natur ein lebhaftes Gefühl von Recht und Unrecht, das heißt: von dem, was der Vernunft gemäß und nicht gemäß ist, herrscht, welches jedoch erst durch die Verhältnisse und Lagen, in welche wir versetzt werden, eine deutliche und bestimmte Richtung bekömmt. Es geschieht aber, durch eine sehr gewöhnliche Verwechselung von Ideen, daß wir diejenigen Eindrücke, welche wir durch Erziehung und nachherige Bildung erhalten haben, nachdem sie uns zur andern Natur geworden sind, für angebohrne Begriffe halten. Daher der Irrthum[45] derjenigen, welche, mit Verwerfung aller Rücksichten auf Erfolg und Nutzen, in dem Geiste und Herzen der Menschen die vollkommensten und würksamsten reinen Motive zur moralischen Pflicht-Erfüllung zu finden glauben. Diese Verwechselung findet nicht weniger bey andern Begriffen und Empfindungen Statt. So hat, zum Beyspiel, jeder Mensch ein angebohrnes Gefühl von Schönheit, oder vielmehr einen natürlichen Sinn für den Unterschied zwischen schön und häßlich; allein giebt es darum eine, von allen Menschen unter allen Himmelsstrichen anerkannte allgemeine Regel der Schönheit? Ist deswegen derselbe Gegenstand unter allen Umständen immer gleich schön oder häßlich? Gewiß nicht! Man rede aber von einer schönen menschlichen Gesichts-Form; so wird dem an antike Profile gewöhnten Kunstkenner die Gestalt der griechischen Stirnen und Nasen, dem Neger aber wird ein ganz[46] andres Ideal vor Augen schweben und doch wird bey Beyden der Grund-Begriff rein seyn, nämlich abstrahirt von dem Wohlgefallen, das in ihm der Anblick des vollkommensten menschlichen Antlitzes, (so wie er sich die Idee davon durch Gewohnheit von Jugend auf eingeprägt hat) erweckt. Eben so ist es mit den Begriffen von Ordnung. Diese sind sehr relativ, obgleich das Gefühl für Ordnung und Symmetrie in jedem Menschen von Natur wohnt. Der Platz, den in Einem Hause, in einem Zimmer, eine Sache vernünftiger Weise einnehmen muß, würde in einem andern für dieselbe Sache äußerst unschicklich seyn. Allein man rede von einem ordentlichen Manne; so werden sich an diese Haupt-Idee alle, durch Gewohnheit hinzugekommene Neben-Begriffe anschließen, und jeder Anwesende wird sich, ohne es zu wollen, den ordentlichen Mann als einen Solchen denken, der seine Geschäfte[47] in eben der Reihe, wie er, verrichtet, seine Sachen nach eben der Weise, wie er, verwahrt. Wäre es nun aber vernünftig zu behaupten: Man müsse sein Hauswesen, seine Geschäfte, ohne Rücksicht auf Umstände und Folgen, immer nach solchen Regeln ordnen, die zu jeder Zeit als allgemeine Gesetze für alle Haushaltungen gelten könnten?

Quelle:
Adolph Freiherr von Knigge: Ueber Eigennutz und Undank. Leipzig 1796, S. 44-48.
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