15.

[74] Allein die mehrsten Menschen handeln, oft ohne es sich selbst bewußt zu seyn, so, als dürften sie sich für den Mittelpunkt der ganzen Schöpfung ansehn, als sey alles außer ihnen nur ihrentwegen da. Dies offenbart sich in ihren unbedeutendsten Reden und Handlungen. Sie sprechen nur von sich, von ihren Schicksalen, Geschäften und Vorsätzen. Was aber andre Leute angeht, das[74] hören sie bey weiten nicht mit der Theilnahme und Gefälligkeit an, die sie für ihr Interesse fordern. Im Umgange wollen sie immer nur genießen, stets nehmen, nie geben. Man hört sie leicht über Langeweile klagen, indeß sie selten darauf Rücksicht nehmen, ob sie auch wohl uns Langeweile machen. Wo sie nicht Unterhaltung genug finden, da gehen sie fort, oder werden böser Laune; aber wo es ihnen gefällt, da bleiben sie, unbekümmert, ob sie auch etwas zur Unterhaltung und Belehrung Andrer beytragen. Wo es ihren Nutzen oder ihr Vergnügen gilt, da sollen wir ihnen unsre Grundsätze und unsre Ruhe aufopfern. Fällt es ihnen ein, bey nächtlicher Zeit zu tanzen, zu singen, zu toben; so ist es ihre geringste Sorge, ob irgend ein schwächlicher, nach Ruhe sich sehnender Mann darüber im Schlafe gestört wird oder nicht. Fehlt ihnen die vierte Person zum Spiele; so fordern sie dich[75] mit Ungestüm dazu auf, wenn gleich sie wissen, daß du höchst ungern und unglücklich spielst. Haben sie Lust, eine Thorheit zu begehn, die ihnen von ihren Mitbürgern verdacht werden könnte, wenn sie allein sie trieben; so wollen sie irgend ein andres männliches oder weibliches Geschöpf, das bey dem Publiko in Achtung steht, zwingen, auf Unkosten seines Vergnügens, seines Rufs und seines sittlichen Gefühls, an dieser Ausschweifung Theil zu nehmen, oder gar die Verantwortung davon zu tragen. Und weigert man sich, aus Rücksicht höherer Pflichten; so verschreyen sie uns als einen eigensinnigen, wunderlichen, harten Mann, der andern Leuten kein Vergnügen gönne. Auch die Gerechtigkeit kann man von manchen Personen nicht erhalten, daß sie uns erlauben, unsern Weg ruhig neben ihnen hinzugehn, ohne uns um den ihrigen zu bekümmern; nein! wenn es in ihrem Kram paßt,[76] sollen wir durchaus mit ihnen durch dick und dünn wandeln. Wenn man ihnen nichts Böses, vielmehr, wo es die Gelegenheit fügt, alles Gute erweist, übrigens aber in keinen genauen Verhältnissen mit ihnen stehn mag; ist ihnen doch das nicht genug. Sie wollen uns ausschließlich alles seyn; wir sollen an allen ihren Narrheiten und Ungehörigkeiten Theil nehmen, für sie und mit ihnen leben und weben. Wir sollen sie liebenswürdig, angenehm, schön, unterhaltend finden, wenn sie auf alle Weise zurückstoßend sind. Sie würden es uns eher verzeihen, daß wir sie haßten, verfolgten und Böses von ihnen redeten, als wenn sie uns gleichgültig, wenn sie uns nichts sind, wenn wir ihnen ausweichen.

Quelle:
Adolph Freiherr von Knigge: Ueber Eigennutz und Undank. Leipzig 1796, S. 74-77.
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