Siebentes Kapitel

[232] Um neun Uhr abends kamen wir endlich an die Barrieren der Residenz. Hier und dann am Tore selbst wurden wir abermals die Kreuz und die Quer examiniert; dann gab man uns einen reitenden Kosaken mit, um uns zu dem Kommandanten, dessen Wohnung im kaiserlichen Schlosse war, begleiten zu lassen. Die Kuriere gingen hinauf; ich stand indessen mit unnennbaren Empfindungen auf dem mir wohlbekannten Platze.

Es verstrich wieder eine Viertelstunde. Jetzt mußten wir noch zu dem Militärgouverneur, Grafen Pahlen. Er war nicht zu Hause, und wir durften weiterfahren. Gern wäre ich, so spät es auch schon war, noch bei meinem Freunde Graumann eingekehrt. Aber die Kuriere hatten ausdrücklichen Befehl, uns bei dem Generalprokureur abzusetzen. Wir fuhren also dahin. Er befand sich in Gatschina, und sein Stellvertreter bei der sogenannten Geheimen Expedition, der Herr Etatsrat Fuchs, wohnte weit von da. – Was war zu tun? Die Kuriere ließen mich und den Kaufmann auf offener Straße unter der Aufsicht der in Menge herbeigekommenen Domestiken des Generalprokureurs, und fuhren schleunig davon.

Eine gute halbe Stunde stand ich einsam an das Geländer der Moika gelehnt und blickte hinab in ihre sanften Wellen, wobei tausend widersprechende Gefühle in meiner Seele wechselten. Endlich kamen die Kuriere zurück und gleich hinter ihnen der Herr Etatsrat Fuchs selbst, der mich sehr höflich empfing und mich in ein kleines Zimmer führte, um daselbst die Nacht zu verweilen. Ich äußerte den Wunsch, zu meinem Freunde Graumann gehen zu dürfen. Er sagte mir aber, ob ich gleich durchaus[233] kein Gefangener mehr sei, so habe er doch meinetwegen keine bestimmtern Befehle, sondern müsse meine Ankunft zuvor nach Gatschina rapportieren, welches auch sogleich durch eine Stafette geschehen solle. Bis zum Einlaufen der Antwort, die er morgen früh erwarte, müsse ich mich schon hier behelfen.

Ich fragte nun nach meiner Frau. Er wußte nichts von ihr; und so zerfloß auf einmal wieder der schöne Traum, der mir zwischen Moskau und Petersburg so manche Stunde versüßt hatte.

Ich bat um Aufschluß des fürchterlichen Rätsels, warum ich eine solche Behandlung erfahren habe. Auch darauf konnte er mir weiter nichts antworten, als daß man alles auf ausdrücklichen Befehl des Monarchen getan und daß dieser in der letzten Zeit einige Mal gefragt habe, ob ich noch nicht zurückgekommen sei; ferner, daß alle meine Papiere in der Expedition des Generalprokureurs in Verwahrung lägen und daß ich sie sämtlich zurückbekommen würde.

Er wünschte mir bald darauf eine gute Nacht und verließ mich, um die Stafette abzufertigen.

Die erste Nacht verging mir sehr traurig und fast ohne allen Schlaf. Bittrer als je vorher fühlte ich die Qual der getäuschten Erwartung, weil ich noch nie so sicher darauf gerechnet hatte, nun endlich einmal zu erfahren, was aus meiner Familie geworden sei. Zu diesem Kummer gesellte sich noch die düstre Vorstellung von dem Lokale, wo ich mich befand: einem kleinen, schmalen Zimmer, in das man jeden führte, der – schuldig oder unschuldig – der Geheimen Expedition in die Hände geriet. Außer einem Tisch, einem Stuhl und einer Bettstelle ohne Betten waren keine Möbel darin. Die Bettstelle wimmelte[234] übrigens noch obendrein von Ungeziefer; und so wurden mir vollends die wenigen Minuten geraubt, welche die Leiden meiner Seele dem Körper zum Schlummer übrig ließen. O, wie froh war ich, als der Tag wieder anbrach. Wie seufzte ich nach der Zurückkunft der Stafette, um zu meinem Freunde Graumann eilen zu können!

Es war ungefähr acht Uhr morgens, als der Herr Etatsrat Fuchs wieder zu mir hereintrat. Noch keine Antwort aus Gatschina. Aber – o Gott! – welche Empfindung durchströmte mich, als er mich mit den Worten anredete: »Ihre Frau Gemahlin ist hier in Petersburg.«

So ist dem lange gelähmten Kranken zu Mute, dem ein wohltätiger elektrischer Schlag plötzlich die Bewegung wiedergibt. Ich staunte ihn an – meine Freudentränen quollen – »Wo?« stammelte ich. Das wußte er nicht. Auch durfte er die Art von Arrest, in der ich noch immer gehalten wurde, nicht aufheben. »Doch steht es Ihnen frei,« sagte er zu meinem Tröste, »zu sich kommen zu lassen, wen Sie wollen.«

Geschwind sandte ich meinen muntern Wassili Sukin mit einem Zettel zu Graumann. Er kam bald zurück, schilderte mir das Entzücken meines biedern Freundes, der ihn freigebig beschenkt hatte, und brachte mir eine Antwort des Inhalts:


Deine Frau und deine Kinder sind gesund und wohnen nicht weit von mir. Doch ehe du sie siehst, komm vorher zu mir, damit ich Christel vorbereite; die plötzliche Freude könnte ihr tödlich werden.


Sogleich eilte mein Bote zurück, ihm zu melden, daß ich noch nicht ausgehen, wohl aber Besuche annehmen dürfe[235] und daß ich ihn bei unserer Freundschaft beschwöre, mich bald mit meiner Familie zu vereinigen.

Jetzt kam er selbst.

Ich schweige von unserer stummen, wehmütigen Freude; sie war die erste Sprosse der Leiter zum Himmel, in den ich bald versetzt werden sollte! Er erzählte mir, meine Frau befinde sich zwar wohl, aber natürlicherweise sei sie noch sehr geschwächt, da ihr mein Unglück eine zu frühzeitige Niederkunft verursacht und ein Blutsturz sie an den Rand des Grabes gebracht habe. Es sei daher äußerst notwendig, sie behutsam vorzubereiten, ob sie mich gleich schon sehr lange erwarte. Ich fühlte die Wichtigkeit seiner Gründe, bezähmte meine heiße Sehnsucht und ließ ihn nach seinem Gefallen handeln.

Er war, noch ehe er zu mir kam, schon bei ihr gewesen; sein heiteres Gesicht beim Eintritt in das Zimmer hatte ihr sogleich etwas Gutes versprochen. »Gewiß,« rief sie ihm entgegen, »bringen Sie mir Nachricht von Kotzebue!« – »Ja,« erwiderte er, »seine Ankunft ist nicht mehr fern.« Und nun zog er den Zettel aus der Tasche, den ich in Wyschni Wolotschok geschrieben und worin ich sie gebeten, mir auf die erste Station entgegenzukommen. Diesen Zettel hatte ihm Wassili Sukin, ob er gleich jetzt unnütz schien, dennoch diesen Morgen mit abgegeben, und mein Freund wußte einen sehr glücklichen Gebrauch davon zu machen. Die gute lebhafte Christel geriet außer sich: sie befahl auf der Stelle, nach Wagen und Pferden zu gehen, und traf schon eilig Anstalten zur Reise. Sie verlangte, Graumann sollte sogleich zu dem Militärgouverneur eilen, um ihr den nötigen Paß zu verschaffen, ohne welchen man nicht einmal zum Tore hinaus fahren konnte. Er mußte versprechen,[236] ihre Wünsche augenblicklich zu erfüllen, und verließ sie unter dem Vorwande, sich zu dem Militärgouverneur zu begeben, aber mit dem Vorsatze, mich selbst aufzusuchen.

Bei mir fand er nur gleiche Sehnsucht, gleiche Ungeduld: ich segnete und schalt seine kluge Behutsamkeit. Er ging nicht lange nachher mit dem Versprechen, mir meine gute Frau zu bringen, sobald er glaube, daß es sich ohne Gefahr tun lasse.

Als er wieder zu ihr hereintritt, eilt sie ihm reisefertig entgegen und fragt: »Bringen Sie mir den Paß?« – Er lächelt. »Jetzt ist er nicht mehr nötig.« Sie versteht ihn und hängt an seinem Halse!

Nun ist es vergeblich, ihr länger Vorsicht zu predigen. Graumann muß sie auf der Stelle mit in seinen Wagen nehmen und nur noch froh sein, daß sie sich das Versprechen abnötigen läßt, an der Ecke der Straße so lange ruhig halten zu wollen, bis er mich von ihrer Anwesenheit benachrichtigt habe.

Ich war eben mit dem Herrn Etatsrat Fuchs in einem Gespräche begriffen, als Graumann mit der Freude eines Seligen im Gesicht hereintrat und mir sagte: »Deine Frau ist hier; ich habe sie nicht länger abhalten können.« Ich jauchzte laut auf. Der Herr Etatsrat Fuchs war so delikat, sich wegzubegeben, um unsere erste Freude nicht durch seine Gegenwart zu stören. Mein guter Graumann eilte zurück. Ich stand bebend am Fenster, das gerade über der Haustür war – sah ihn meine Christel hereinführen – wankte zur Tür und – sie lag ohnmächtig in meinen Armen!

Weg mit jedem Versuche, diese Szene zu beschreiben! Wehe dem Leser, der sie nicht fühlt! O Gott! Ja, es gibt[237] Augenblicke, die eine Reihe von Jahren aufwiegen–auch eine Reihe von elenden Jahren! Nicht für alles in der Welt hätte ich in dieser Minute das Andenken an meine Leiden vertilgen mögen; der unaussprechliche Genuß dieser Minute überwog sie alle!

Mit Graumanns Hülfe hatte ich meine Frau auf einen Stuhl gesetzt; ich kniete vor ihr, legte meinen Kopf in ihren Schoß und weinte – o, wie ich nie geweint habe! Sie erholte sich, beugte sich liebevoll zu mir herab und mischte ihre Tränen schluchzend mit den meinigen. Reden konnten wir lange, sehr lange nicht. Auch mein Freund ging stumm im Zimmer auf und ab und genoß des rührenden Anblicks. Ja, du guter, redlicher, wahrhafter Mensch! Deinem edlen Herzen wurde in dieser Stunde vergolten, was du für mich und die Meinigen getan hattest. Du warst Zeuge einer Szene, wie sie gewiß nur selten auf der großen Bühne der Welt vorkommt, und deine edelmütige Freundschaft hatte diese Szene vorbereiten helfen!

Als der erste Sturm des Entzückens sich legte und das Chaos unserer Empfindungen sich entwickelte, als wir wieder sprechen konnten und Worte fanden: o, wie viel gab es da zu fragen, zu erzählen, zu beantworten! Wie oft unterbrachen wir uns selbst, indem wir uns die Tränen lächelnd von den Lippen küßten! Es war, als ob unsere Gräber sich geöffnet hätten, als ob wir zu neuer Vereinigung in einer bessern Welt verklärt hinaufstiegen und nun einen Blick auf die Leiden der irdischen Vergangenheit zurückwürfen.

Meine gute Frau erzählte mir ihre Schicksale seit dem Augenblicke unserer Trennung. Sie malte mir das fürchterliche Erwachen aus ihrer Ohnmacht – die öde Stille[238] um sie her – nur von dem Schluchzen meiner Emmy unterbrochen, die sich in einem Winkel auf den Boden gesetzt hatte und heimlich weinte.

Vergebens hatte ich mir in meinem Elende geschmeichelt, daß der Gouverneur von Kurland und seine Familie sich ihrer annehmen würden. Verlassen von allen, fand sie nur da Trost in ihrem Leiden, wo sie ihn nicht gesucht hatte. Der wackere Gastwirt Räder und seine Frau behandelten sie mit Menschlichkeit und feinem Gefühl und gaben einen schönen Beweis, daß Eigennutz selbst in solchen Ständen, in denen er so gewöhnlich ist, dennoch vor edleren Gefühlen schweigt. Durch meine Abreise aus Wahl und Notwendigkeit zu strenger Ökonomie bewogen, versagte meine Frau ihren Kindern die kleinen gewohnten Näschereien; aber Madame Räder versorgte diese reichlich im stillen damit. Auch der kranken Mutter brachte sie täglich Gelees und andere teure Speisen, welche nie auf die Rechnung gesetzt wurden. Es ist meinem Herzen Bedürfnis, diese kleinen Züge öffentlich bekannt zu machen.

Es gelang ihr doch endlich, sich eine Audienz bei dem Gouverneur zu verschaffen. Er empfing sie im Schlafrock mit der Tabakspfeife, nötigte sie nicht einmal zum Sitzen, sagte ihr allerlei artige, nichts bedeutende Dinge, entschuldigte seine Frau mit ihrer Schwangerschaft, wodurch sie gehindert werde, eine Unglückliche bei sich aufzunehmen, empfahl sich und bekümmerte sich nicht weiter um sie. Was eigentlich mit mir vorgegangen sei, wurde ihr noch immer sorgfältig verschwiegen. Täglich erwartete sie meine Zurückkunft; bei jedem schnell rasselnden Wagen sprang sie hoffnungsvoll auf. Alle Briefe, die sie indessen schrieb, mußte sie dem Gouverneur[239] abliefern. Von ihrer traurigen Lage und von meinem Unglück durfte kein Wort darin stehn. Die wenigsten wurden abgesandt, doch alle kopiert und diese Kopien nach Petersburg geschickt. Einen einzigen Brief an Graumann rettete der Gastwirt Räder, indem er ihn selbst auf die Post trug.

Gott sei Dank, daß keine Gefahr mehr dabei ist, sowohl die edlen als die unedlen Züge in dieser Geschichte öffentlich aufzustellen!

Endlich, nach zwei bange verseufzten Wochen, erhielt meine Frau vom Kaiser die Erlaubnis, sich nach Estland zu ihren Verwandten zu begeben. Sie reiste ab; doch schon in Riga nötigte sie Krankheit, abermals zu verweilen. Der Gastwirt Langwitz im Hotel de Petersbourg, wo sie einkehrte, war der erste, der ihr auf ihre Frage, ob ich bei ihm logiert habe, sehr unbehutsam antwortete: nein; ich sei gerade durch Riga nach Tobolsk gebracht worden. Man denke sich ihren Schrecken! Diese Vorstellung war ihr noch nie in den Sinn gekommen. Doch glaubte sie es noch nicht, und mein biederer Freund, der Regierungssekretär Eckardt, den einige andre gute und edle Menschen unterstützten, suchte ihr so viel als möglich Trost und Mut einzusprechen.

Sobald meine Frau nur wieder einige Kräfte hatte, setzte sie ihre Reise über Dorpat nach unserem lieben Friedenthal fort. Die bittersten Gefühle erwachten mit neuer Stärke, als sie von einer Anhöhe herab nun den Ort wiedersah, wo wir mehrere Jahre in stiller häuslicher Glückseligkeit miteinander verlebt hatten. Sie mochte es nicht wagen, unser eigenes Haus, unsere freundlichen Zimmer zu betreten, in denen jeder Winkel, jedes Hausgerät sie an mich erinnern mußte, sondern fuhr zu dem[240] Probst Koch, Prediger des Kirchspiels, einem der vortrefflichsten Menschen von allen, die je eine Kanzel bestiegen haben. Ihm gleich an Herz und Sinn, an Gefühl und Bildung ist seine edle Gattin, eine Französin, die vormals als Gouvernante meiner Frau zuerst ihren Geist und ihr Herz mit Vernunft und Empfindung ausstattete. Ihr Gatte war damals Hofmeister in demselben Hause; dort lernte sie ihn kennen und lieben; dort verheiratete sie sich mit ihm. Er war zugleich einer meiner alten akademischen Freunde: daher blieben unsere Häuser immer eng und herzlich verbunden; daher wurde meine gute Christel jetzt von dem edlen Paare wie von Vater und Mutter aufgenommen, mit der zartesten Schonung getröstet und mit der liebevollsten Sorgfalt gepflegt.

Es gab dienstfertige Leute – ich will sie nicht nennen –, die dem redlichen Manne rieten, meine Frau aus dem Hause zu schaffen, um eigne Gefahr zu vermeiden. »Nein,« versetzte er unwillig, »und sollte ich heute selbst nach Sibirien geschickt werden, das tue ich nicht.«

Gott segne diese seltene Familie, die in einem abgeschiedenen Winkel der Welt Gutes tut ohne Geräusch und die Redlichkeit guter Landleute mit der feinsten Geistesbildung vereinigt! Gott segne sie! Und sollte jemals irgendeine böse Laune des Schicksals eins ihrer Kinder oder Kindeskinder treffen, so will ich, daß diese Zeilen für mich und meine Nachkommen als ein offener Wechsel gelten, und erkläre hier im Angesichte von Europa: daß, so lange ich selbst noch atmen kann oder so lange mein Andenken und mein Segen meinen Kindern heilig sein wird, jedem Unglücklichen aus jener Familie Haus und Herz bei mir und meinen Nachkommen offen stehen sollen![241]

Hier, im Kreise dieser vortrefflichen Menschen, erhielt meine Frau endlich den Brief, den ich aus Stockmannshof an sie geschrieben hatte. Dieser Brief erlebte wunderliche Schicksale, ehe er an den Ort seiner Bestimmung gelangte. Dem jungen Manne, dem ich diesen und die beiden andern Briefe anvertraute, fehlte es wahrscheinlich an Mut, sie an ihre Adresse zu befördern. Der Kammerherr von Beyer oder auch wohl der vorsichtige Herr Prostenius schickte sie vermutlich an den Gouverneur in Riga, dessen Pflicht es erforderte, sie an den Generalprokureur in Petersburg zu überliefern. (Doch ist, so viel ich weiß, der Brief an den Grafen Cobenzl ganz zurückbehalten worden, und so wie der politische Horizont damals aussah, war das sehr klug.) Der Generalprokureur brachte die Briefe dem Kaiser. Dieser empfand es sehr übel, daß ich den Grafen von der Pahlen für seinen Liebling erklärte und in diesem Betracht mein Vertrauen auf seine Hülfe setzte. Es war eine von den Eigenheiten des Monarchen, daß er durchaus das Ansehen haben wollte, als sei niemand sein Liebling und als dürfe sich niemand rühmen, Einfluß auf ihn zu haben. Dazu kam noch, daß wohl auch der Generalprokureur, ein erklärter Feind des Grafen, diese Gelegenheit benutzte und die Sache in ein verhaßtes Licht stellte. Kurz, der Kaiser, der den Grafen täglich selbst sah, ließ ihm meinen Brief durch Obuljaninow zustellen, sprach selbst kein Wort mit ihm darüber, sondern war erzürnt. Der Graf selbst hat in der Folge gegen mich geäußert, daß ich fast die Veranlassung zu seinem Sturze geworden sei.

Den Brief an meine Frau – so schonend es auch gewesen wäre, ihn zurück zu behalten, da er in der höchsten Verzweiflung geschrieben war – befahl der Kaiser, ihr[242] zuzustellen, und zwar gegen Quittung. Dieser unselige Brief tat, so wie ich es befürchtet hatte, die traurigste Wirkung. Meine arme, schon ganz erschöpfte Christel wurde bald darauf von einer dreimonatigen Frucht entbunden – es folgte ein Blutsturz – man sah dem Ende ihrer Leiden entgegen! Ohne die unnennbare Liebe, ohne die zärtliche Pflege der Familie Koch würde ich jetzt mit sechs Waisen ihren Tod bejammern, und kein Kaiser, kein Kaisertum hätte mir meinen Verlust ersetzen können.

Sie ward gerettet! Sobald sie wieder einige Kräfte gesammelt hatte, folgte sie der Einladung meines brüderlichen Freundes von Knorring in Reval und reiste dahin, um sich mit ihren Verwandten und Freunden zu beraten, nicht was sie tun solle – das hatte das edle Weib schon beschlossen: sie wollte mir nach Sibirien folgen! – sondern wie sie es tun solle und wie unsere ökonomischen Angelegenheiten zu berichtigen wären.

Vergebens wurde auch Knorring von ängstlichen Leuten gewarnt, seinem unglücklichen Gaste die Herberge zu versagen. Er blieb mein redlicher, treuer Freund, ob er mir gleich nachher selbst gestanden hat, daß er auf unangenehme Folgen und vielleicht wohl gar auf eine schnelle Reise nach Petersburg vorbereitet gewesen sei. Das einzige Dichten und Trachten meiner Frau war nun die Reise nach Sibirien. Was man auch dagegen sagen mochte: sie blieb fest bei ihrem Entschlusse. Und wenn man sie zuweilen durch die Hoffnung, daß mein Exil gewiß nicht lange dauern werde, davon abzubringen suchte, versetzte sie eifrig: »Wenn ich ihm sein Schicksal auch nur eine Woche erleichtern kann!« Ihre Kammerjungfer, Katharina Tengmann, – sie verdient es, daß ich[243] sie dankbar nenne – bot sich ihr selbst zur Begleiterin an, ob sie gleich eine alte siebzigjährige Mutter zurücklassen mußte. »Ich habe,« sagte das edle Mädchen, »die guten Tage bei Ihnen genossen; nun will ich auch die bösen mit Ihnen teilen.« Meine Frau war entschlossen, unsre Emmy mitzunehmen, die andern Kinder aber zurückzulassen. Ein sicherer Begleiter sollte für eine ansehnliche Belohnung willig gemacht werden, und die Abreise wurde auf den 1sten Julius wirklich festgesetzt. So stand es am 17ten Junius, an welchem meine Frau den ganzen Morgen in einer mehr als gewöhnlich trüben Stimmung war. Sie ging nach dem Mittagessen in ihr Zimmer und warf sich aufs Bett, um einen kurzen Schlummer zu suchen. Knorring stand auf dem Balkon seines Landhauses – da sprengte ein Kurier die Allee herauf – sprengte vorbei – fragte – kehrte wieder um – hielt seine Depesche hoch in die Luft – sprang ab und stürzte in das Haus. Knorring ihm entgegen, halb hoffend, halb fürchtend; die Seinigen für ihn selbst in Angst. Aber – »Gute Botschaft!« waren des Kuriers erste Worte – und in seiner Hand hielt er einen Brief des Grafen von der Pahlen an meine Frau. Knorring wollte ihm den Brief abnehmen; der Kurier bestand aber darauf, ihn selbst in ihre Hände zu liefern.

Von reiner Freude trunken, vergaßen meine Freunde doch nicht, daß hier durchaus die größte Behutsamkeit nötig sei. Sie wollten meine Frau nicht wecken und brannten doch vor Begierde, ihr die frohe Botschaft mitzuteilen. Leise öffneten sie das Zimmer. Meine Frau schlief nicht – sie sah, wie ein Kopf über dem andern durch die halb geöffnete Tür freundlich hereinschaute – freundlichere Gesichter, als sie seit langer Zeit zu sehen gewohnt war.[244]

Sie richtete sich eilig auf: »Habt ihr mir etwas zu sagen?«

»Ach nein,« versetzte man mit schlecht erzwungener Gleichgültigkeit, »wir wollten nur sehen, ob du noch schliefest.«

»Nein, nein! Gewiß habt ihr mir etwas Angenehmes zu sagen; ich seh' es an euren frohen Gesichtern.«

»Nun ja – gute Nachricht von Kotzebue – es ist ein Kurier von dem Grafen Pahlen an dich geschickt« –

Bei diesen Worten war meine Frau schon vom Bette aufgesprungen. Sie eilte aus dem Zimmer, riß dem Kurier den Brief aus der Hand, erbrach ihn, und las durch einen Tränenschleier:


Se. Kaiserliche Majestät haben allergnädigst zu erlauben geruhet, daß Sie sich nebst Ihrem Herrn Gemahl in St. Petersburg aufhalten können. Mit dem lebhaftesten Vergnügen eile ich daher, Ihnen von dieser besondern Gnade unsers huldreichsten Monarchen Nachricht zu geben, damit Sie Ihre Reise hieher, sobald es Ihnen gefällig ist, antreten können. Nach Ihrem Herrn Gemahl ist ein Expresser abgefertigt, so daß er bei Ihrer Ankunft entweder schon angekommen sein kann oder doch bald darauf eintreffen muß. Ich werde mir übrigens ein Vergnügen daraus machen, dafür zu sorgen, daß Ihnen im voraus eine anständige Wohnung gemietet wird.

Nehmen Sie, gnädige Frau, die Versicherung meiner herzlichen Teilnahme und der vollkommenen Hochachtung an, mit welcher ich die Ehre habe zu sein

Ihr

ganz ergebenster Diener

Graf von der Pahlen

St. Petersburg,

den 16. Junius 1800
[245]

Die Erzählung, welche meine Freunde mir von der Wirkung dieses Briefes auf meine Frau machen, ist äußerst rührend. Ihre Freude war fast Wahnsinn. Sie, die noch vor wenigen Stunden ohne Hülfe kaum von einem Sofa zum andern schleichen konnte, sprang jetzt wie ein junges Reh; konnte keine Minute an einer Stelle bleiben; holte alles selbst herbei, was sie oder andere brauchten; weinte dabei heftig und lachte noch heftiger, beides zugleich. Dem Kurier schenkte sie alles bare Geld, das sie noch hatte. Die Anstalten zu der Abreise nach Petersburg sollten auf der Stelle gemacht werden; morgen wollte sie fort, und wer dagegen etwas einwandte, den erklärte sie für ihren Feind.

Glücklicherweise legte sich aber mein edler vortrefflicher Arzt, der Doktor Bluhm, nach welchem man sogleich geschickt hatte, ins Mittel. Er machte ihr begreiflich, daß ihr exaltierter Zustand nicht Stärke sei; und sie mußte sich durchaus entschließen, noch einige Tage zu verweilen.

Indessen langte bald nach dem Kurier auch ein Bote des Gouverneurs von Reval an. Diesem hatte der Generalprokureur dieselbe Nachricht mitgeteilt, mit dem Zusatze: Er solle, auf Allerhöchsten Befehl, die Frau von Kotzebue mit allem zu der Reise Erforderlichen versorgen und dann melden, wie viel Geld dazu nötig gewesen sei. Der Herr Militärgouverneur von Petersburg habe den Befehl erhalten, mir und meiner Frau ein anständiges Quartier anzuweisen.

Meine gute Christel geriet durch das kaiserliche Anerbieten einer Unterstützung in eben die Verlegenheit, in der ich mich einige Wochen nachher in Tobolsk befand. Sie war zu stolz, um viel zu fordern, und wollte doch auch nicht trotzig scheinen, indem sie gar nichts begehrte.[246] Als sie mit ihren Freunden zu Rate gegangen war, verlangte sie endlich die Kosten der Reise bis Petersburg, die ihr auch sogleich ausgezahlt wurden.

Die Art und Weise, wie sich der bei weitem größte Teil der Einwohner von Reval bei dieser Gelegenheit benahm, wird mir ein ewig teures Andenken an diese gute Stadt bleiben. In einer halben Stunde verbreitete sich die Nachricht durch die ganze Stadt. Einer rief sie dem andern auf der Straße zu. Wer in einer Kutsche saß, wurde angehalten, fuhr weiter, sobald er die Nachricht wußte, und ließ wieder anhalten, wenn ein Bekannter oder Halbbekannter ihm begegnete. »Wissen Sie schon?« rief man einander von fern entgegen. »Ja, ich weiß schon!« war gewöhnlich die Antwort. Nicht bloß meine Freunde jauchzten; die Menschheit freute sich! O, es gibt in dem guten Reval so viele edle, wahre Menschen.

Nach drei Tagen reiste meine Frau ab. Ohne unterwegs nur eine Stunde zu ruhen, eilte sie, die fünfzig deutschen Meilen bis nach Petersburg zurückzulegen, da sie dem Briefe des Grafen von der Pahlen zufolge mich vielleicht schon dort finden konnte. Freilich hatte nur Wohlwollen dem Herrn Grafen seine Rechnung eingegeben. Denn da der nach mir geschickte Kurier erst am 15ten Junius abgefertigt worden war, so konnte ich unmöglich früher als nach sieben Wochen in Petersburg eintreffen; und selbst um nur dies zu bewerkstelligen, mußte ich (was ich wirklich getan habe) schneller als die gewöhnliche Briefpost reisen. Meine Frau kam also noch viel zu früh und bezog eine Wohnung im Gasthofe, da die ihr versprochene noch nicht bereit war und auch nachher ganz in Vergessenheit geriet, weil ihre Delikatesse ihr nicht erlaubte, daran zu erinnern.[247]

Ich würde dieses Umstandes gar nicht erwähnen, wenn er mir nicht eine günstige Gelegenheit darböte, den feinen Edelmut meines Freundes Graumann in ein neues Licht zu setzen. Als er nämlich gewahr wurde, daß der Aufwand im Gasthofe für eine zahlreiche Familie die jetzigen Kräfte meiner Frau überstieg, mietete er ganz im stillen eine Wohnung, die er auf zwei Monate vorausbezahlte, und richtete sie eilig ein. Erst als alles nach seinem Sinne war, ersuchte er meine Frau, ihm dahin zu folgen. Sie betrat mit angenehmem Erstaunen eine freundliche, geräumige Wohnung von fünf elegant möblierten Zimmern und fand das Schlafzimmer mit Betten, die Küche mit Küchengerät vom kleinsten bis zum größten, die Tafel mit Tischzeug, den Déjeuner-Tisch mit einem Porzellanservice versehen, die Schränke mit Tee, Kaffee, Zucker, Wachslichtern und dgl. in großen Quantitäten angefüllt. Sogar das notwendigste Silberzeug war nicht vergessen; und meine geliebte Frau befand sich also auf einmal in einer völlig eingerichteten Wirtschaft, ohne daß sie von dem edlen Manne, der dies alles hingezaubert hatte, auch nur erfahren konnte, wie groß der Aufwand sei, den der Genius der Freundschaft seinem Herzen entlockt hatte. O, der bitterste Leidenskelch ist der Tränen wert, wenn man bei dem letzten Zuge auf seinem Grunde das seltene Schaustück echter Freundschaft erblickt.

Unter solchen wechselnden Erzählungen tanzten die Hören um mich und meine mir neu geschenkte Gattin. Die Wände, die uns einschlossen, eben die Wände, an denen so mancher Seufzer der Unglücklichen verhallt sein mochte, ertönten jetzt von dem sanften Entzücken der zärtlichsten Liebe, der dankbarsten Freundschaft.[248]

Nur noch eins fehlte, um dieses Jubelfest des Glücklichen vollkommen zu machen – meine Kinder! Die Mutter fuhr hin, sie zu holen – sie hatten schon lange mit stürmischer Ungeduld darauf gewartet. Sie kamen – ich sah sie aus dem Wagen hüpfen – sie stolperten zu mir herauf – klammerten sich um meinen Hals und ich – o, wer selbst Vater ist, wird mich verstehen!

Es wurde Mittag und Nachmittag, ohne daß wir es bemerkten. Die Stafette aus Gatschina kam noch immer nicht zurück; ich achtete es aber nicht. Hatte ich doch in meinem kleinen Zimmer – mochte es immerhin Gefängnis heißen – alles, was mein Herz begehrte.

Eine Begebenheit, die sich gegen Abend zutrug, erneuerte und vermehrte unsere wehmütige Freude. Der russische Kaufmann, mein Reisegefährte, hatte – wie ich zu erwähnen vergessen habe – schon in Moskau Nachricht von seiner Frau und Tochter zu erhalten gehofft. Er war ausgegangen, um einen Verwandten aufzusuchen und kehrte mit dem tiefsten Gram in seinem Gesichte zurück. »Ich habe mich so gefreut,« drückte er sich einfach und naiv aus, »aber nun hat mir Gott viel Betrübnis gegeben. Meine Frau und meine Tochter sind tot!« Er sprach dann nicht mehr davon – sprach nachher überhaupt sehr wenig, und oft sah ich ihn auf seinem Fuhrwerk still in den grauen Bart weinen. Bei unserer Ankunft in Petersburg blieb auch er mit mir in demselben Zimmer. Als meine Frau zu mir kam, saß er in einer Ecke und war ein stiller, seufzender Zeuge unseres Glückes. Den ganzen Tag unterbrach er unsere Freude mit keiner Silbe, sondern saß still und schaute vor sich nieder.

Jetzt, als es schon dämmerig geworden war, stürzte[249] plötzlich sein Kurier herein: »Jwan Semenowitsch! Deine Frau und Tochter sind hier!« Er fuhr wie aus einem schweren Traume in die Höhe – taumelte nach der Tür – und siehe, Weib und Kind lagen in seinen Armen! Es war eine Wiederholung meiner eigenen stummen Jubelszene. Sie wurde noch rührender durch die Länge der Zeit, die er von seiner Familie getrennt gewesen war. Seine Frau sah er zuletzt als ein schlankes, rasches Weib; als ein ziemlich dickes Mütterchen fand er sie wieder. Seine Tochter verließ er als ein Kind von acht Jahren; als ein schönes, blühendes Mädchen von sechzehn stand sie jetzt vor ihm. Lange konnte er sich nicht in sein Glück finden. Er nahm alle Augenblick das Licht und beleuchtete seine Tochter von allen Seiten. Bei dem freundlichsten Gesichte flossen ihm die Tränen immer in den langen Bart, und er konnte nichts weiter hervorbringen als ein oft wiederholtes staunendes Ach – Ach – Ach!

Unter so köstlichen Empfindungen war der Tag verschwunden und die Nacht schon hereingebrochen. Da ich der Ruhe sehr bedurfte und hier mir jede Bequemlichkeit mangelte, so äußerte ich den Wunsch, wenigstens für diese Nacht nach meiner eigenen Wohnung fahren zu dürfen, wobei ich versprach, daß ich mich am folgenden Morgen zu rechter Zeit wieder einfinden wollte. Der Herr Etatsrat Fuchs war so gütig, es mir auf seine eigene Gefahr zu erlauben. Mit unaussprechlich frohem Herzen betrat ich meine durch Liebe und Freundschaft herrlich geschmückte Wohnung und wurde von meinen treuen Leuten mit ungeheuchelter Freude empfangen.

Kaum war ich eine Stunde zu Hause, als ein Billett von[250] dem Herrn Etatsrat Fuchs mir meldete, daß er soeben den Befehl erhalten habe, mich in völlige Freiheit zu setzen. So schlief ich also diese Nacht seit vier Monaten zum ersten Male wieder als ein freier Mann, in den Armen meiner Gattin, von meinen Kindern umgeben. Seliges Erwachen!

Am folgenden Morgen meldete ich mich meiner Pflicht gemäß bei dem Militärgouverneur Herrn Grafen von der Pahlen. Doch nicht Pflicht allein, auch Dankbarkeit führte mich zu ihm. Denn ungeachtet seiner so sehr überhäuften Geschäfte hatte er dennoch Zeit gefunden, nicht allein meiner Frau, sondern auch meiner um mich besorgten alten Mutter meine Freiheit auf die teilnehmendste Weise anzukündigen. Die große Cour, die ihn umgab – denn alles versammelte sich damals unter dem Schatten eines Baumes, der selbst nicht selten vom Sturm geschüttelt wurde – verhinderte mich, mehr als gewöhnliche Redensarten ihm zu sagen oder von ihm zu hören.

Am 13ten August erhielt ich die Abschrift eines Ukas, durch welchen der Kaiser mir das in Livland gelegene Krongut Worroküll, von 61/8 Haken, ohne alle Abgaben schenkte. Dieses Gut, welches nahe an 400 männliche Seelen zählt, mit einem bequemen Hause und allen nur wünschenswerten Erfordernissen reichlich versehen ist und mir daher jährlich eine Pacht von 4000 Rubeln abwirft, war ein wahrhaft kaiserliches Geschenk und enthielt zu gleicher Zeit die sprechendste Erklärung meiner Unschuld.

Gern hätte ich nun, um den Traum meiner Leiden ganz zu vergessen, die Rückreise nach Deutschland angetreten. Aber meine Freunde widerrieten mir aus guten[251] Gründen, um die Erlaubnis dazu zu bitten. Ich folgte ihrem Rate, weil sie den Monarchen besser kannten als ich damals, und schränkte mich darauf ein, in meinem Danksagungsschreiben, welches ich an den Kaiser nach Gatschina schickte, zu erwähnen, daß ich im Begriff sei, auf das Land zu gehen, um dort seiner Wohltaten im stillen zu genießen.

Dieser Brief brachte eine mir unerwartete Wirkung hervor. Schon am folgenden Morgen erhielt ich durch den Herrn Geheimrat Briskorn, den Sekretär des Kaisers, ein Kabinettsschreiben folgenden Inhalts:


Indem ich Sr. Kaiserlichen Majestät Ihr Danksagungsschreiben vorzulesen das Glück hatte, bekam ich den Allerhöchsten Auftrag, einen Ukas zu Ihrer Bestallung als Direktor der Deutschen Hoftruppe, mit dem Charakter eines Hofrats und mit tausendzweihundert Rubel Gehalt, auszufertigen; als ich aber an die Stelle gekommen war, wo Ew. etc. in Ihrem Briefe den Entschluß anzeigen, den Sie gefaßt haben, aufs Land zu reisen, geruhten Se. Majestät, mir zu befehlen, von Ihnen Ihre Einwilligung zu der oberwähnten Bestallung einzufordern. Ich entledige mich hiermit dieser Pflicht und bitte Ew. etc. mir so bald als möglich anzuzeigen, ob Sie das gnädige Anerbieten unsers huldreichen Monarchen anzunehmen gesonnen sind; übrigens aber von der besondern Hochachtung sich zu versichern usw.

Briskorn


Nachschrift. Als Direktor würden Sie unter dem unmittelbaren Befehl des Herrn Oberhofmarschalls Naryschkin stehen.
[252]

Meine Verlegenheit bei dem Empfange dieses Briefes war so groß als mein Schrecken. Ich sollte wieder eine Theaterdirektion übernehmen, ich, der ich in Wien ungeachtet der freundschaftlichsten Verhältnisse mit dem biedern Baron Braun nichts mehr damit zu tun haben mochte; der ich so oft mir und meiner Gattin geschworen hatte, mich durch die sparsamen Rosen nie wieder auf diesen Dornenpfad locken zu lassen; der ich aus so mancher Erfahrung wußte, daß die verdienstvollsten Künstler leider oft die schlechtesten Menschen sind; daß ein einziges tadelndes Wörtchen den leise Getadelten – hättest du ihn auch vorher mit Strömen von Lob überschüttet – zu deinem bittersten Feinde macht, wenn gleich er selbst dich oft mit allen Symptomen der Aufrichtigkeit und Bescheidenheit um dein Urteil gebeten hatte; daß die meisten Schauspieler, selbst die bessern unter ihnen, nicht die Kunst, sondern nur den Künstler in sich lieben; daß sie ein großes Gemälde von lauter verzerrten Figuren mit Vergnügen sehen, wenn nur ihre eigene geliebte Figur mit schmeichelnden Farben unverzeichnet aus dem Hintergrunde hervortritt! Doch zu welcher Abschweifung verleitet mich eine zwanzigjährige, oft bittere Erfahrung! Genug. Ich sage, den Shakespeare parodierend: Eitelkeit, dein Name ist Schauspieler!

Und mit dieser Überzeugung sollte ich an die Spitze einer Bühne treten, die ein Unternehmer namens Miré aus den Trümmern herumziehender Banden geformt und durch einige aus Deutschland verschriebene Mitglieder zwar verbessert, aber wahrlich auf keine Stufe der Vollkommenheit erhoben hatte. Sie war bisher von einer Gesellschaft Kaufleute durch Aktien unterstützt[253] worden, jetzt aber ihrem Untergange nahe. Auf Vorstellung des Grafen von der Pahlen hatte der Kaiser sich entschlossen, sie in seine Dienste zu nehmen. Unglücklicherweise mußte nun meine Zurückkunft gerade in diese Periode fallen, und es war daher ganz natürlich, daß der Kaiser auf den Gedanken geriet, mir die Leitung seines neuen Hoftheaters anzuvertrauen. Offenbar hatten Wohlwollen und das Verlangen, mir etwas Angenehmes zu erzeigen, ihn dazu bestimmt; um so schwerer war es, die vermeintliche Wohltat abzulehnen.

Ich versuchte es dennoch, mit den feinsten Wendungen, die ich auszustudieren vermochte, mich herauszuwickeln und sowohl meinen Dank als meinen Widerwillen mit gleich starken Farben zu schildern. Alles vergebens. Ich bekam anstatt der Antwort die Abschriften von drei Ukasen, deren einer an den Oberhofmarschall mich zum Direktor und der andre an den Senat mich zum Hofrat ernannte; der dritte wies mir mein Gehalt auf das Kabinett des Kaisers an. Zu diesem gering scheinenden Gehalte wurden aus der Hoftheaterkasse noch 1800 Rubel für Equipage hinzugefügt und mir außer Holz und Licht auch eine sehr schöne, geräumige Wohnung freigegeben. In ökonomischer Hinsicht war nun, wie ich dankbar bekennen mußte, kaiserlich für mich gesorgt, da ich, die Pacht meines Gutes mitgerechnet, plötzlich eine Einnahme wenigstens von 9000 Rubeln jährlich genoß und mir noch überdies die Einnahme von der zweiten Vorstellung aller meiner neuen Stücke zugestanden wurde, was meine Einkünfte abermals um einige tausend Rubel vermehrte.

Aber – bedurfte ich alles dessen? Sind Ruhe, Zufriedenheit,[254] Gesundheit um Gold feil? Hatte ich nicht in Jena und Weimar eine wohl minder prächtige, aber fröhlichere Wohnung, ein minder glänzendes, aber hinreichendes Auskommen? Lebte ich dort nicht zwar unter einem minder mächtigen Fürsten, aber auch von jeder Gefahr entfernt? Und endlich – was mehr als alles ist – hatte ich dort nicht eine Mutter, deren Liebe ich meine ganze Bildung verdanke und die mich mit großer Sehnsucht zurück erwartete, daß ich ihr kränkliches Alter erheitern sollte?

Doch alle meine Wünsche und Betrachtungen mußten der eisernen Notwendigkeit weichen. Ich ergab mich in mein Schicksal und trat meinen Posten an.

Kurz vorher wurden mir von Seiten der Geheimen Expedition alle meine auf der Grenze mir weggenommenen Papiere zurückgegeben. Es fehlte kein Blättchen; und ich muß hierbei noch eines äußerst merkwürdigen Umstandes dankbar erwähnen.

So gewiß ich nämlich in meinem fernen Exil überzeugt war, daß unter allen meinen Papieren auch nicht eine Zeile sei, welche das gegen mich beobachtete Verfahren rechtfertigen könne, so war dennoch wirklich gerade eine Zeile darunter, die, wenn sie dem Kaiser zu Gesicht gekommen wäre, vielleicht mein Unglück noch vergrößert oder doch gewiß verlängert haben würde. Diese eine Zeile stand in meinem zu Wien geführten Tagebuche. Auch dort hegte man, ehe man mich näher kennen lernte, den Verdacht des Jakobinismus gegen mich. Ich äußerte bald nach meiner Ankunft in Wien meine Besorgnis darüber gegen den Baron Braun. Dieser beruhigte mich aber durch die Versicherung, der Kaiser Franz sei ein sehr gerechter Mann, der nie ohne die[255] strengste Untersuchung einen Angeklagten verurteile. In Beziehung auf diese Worte hatte ich nun in mein Tagebuch geschrieben: ich bin also ruhig und habe viel gewonnen. Freilich K – P – findet es selten der Mühe wert, eine Untersuchung anzustellen.

Diese unglücklichen, allerdings harten Worte waren meinem Gedächtnis gänzlich entfallen. Man denke sich meinen Schrecken, als sie mir beim Durchblättern meiner Papiere wieder in die Augen fielen! Aber man denke sich auch meine gerührte Freude, als ich zugleich bemerkte, daß eine edle wohlwollende Hand diese Zeile so dick mit Tinte ausgestrichen hatte, daß kaum ich selbst wieder erraten konnte, was da gestanden habe! Ein Beweis, daß, so fürchterlich auch jene Geheime Expedition oder Inquisition war, doch die Mitglieder derselben nur strengen Befehlen gehorchten und gern milder handelten, wo sie konnten. Besonders hat der Etatsrat Makarow sich allgemein diesen Ruhm erworben. Oft mischten sich seine eigenen Tränen in die Tränen der Unglücklichen, die er mit blutendem Herzen Henkershänden überliefern mußte. Ob ihm oder dem Etatsrat Fuchs oder irgendeinem Dritten die Durchsicht meiner Papiere anvertraut worden war, weiß ich nicht und habe es, aller angewendeten Mühe ungeachtet, nicht erfahren können. Ich muß mich also begnügen, meinen Dank laut vor der Welt und still vor Gott auszusprechen. Wohl mir, daß ich diesem edlen Unbekannten in die Hände fiel! Denn wahrlich, die Angabe dieser einzigen Zeile wäre mein Verderben gewesen.

Übrigens fand ich hin und wieder mehrere unbedeutende Stellen in meinen Papieren mit Bleistift angestrichen. Doch war es nie etwas, das mir schaden konnte,[256] sondern nur allerlei hin und wieder gemachte statistische Bemerkungen, Anekdoten und dergleichen, lauter Dinge, die ich nur für das Gedächtnis aufbewahren wollte und wobei ich mir nie ein eigenes Räsonnement erlaubt hatte.

Das Schauspiel Gustav Wasa gab man mir, besonders eingewickelt, zurück, mit dem Bedeuten, ja keinen Gebrauch davon zu machen. Eine einzige Stelle hatte dem Stücke dieses Verdammungsurteil zugezogen:


Ein König darf ein Bubenstück begehren,

Und tausend Arme sind bereit, es zu vollbringen.


Der Leser wird wahrscheinlich so wie ich selbst neugierig sein, zu erfahren, welchem günstigen Umstände ich denn nun eigentlich meine Befreiung zu verdanken hatte. Daß sie keine Folge meines aus Tobolsk an den Kaiser geschickten Mémoire war, wissen wir bereits, da der Überbringer dieses Mémoire schon in der Gegend von Kasan dem Kurier begegnete, der mich zurückholen mußte. Was ich darüber von authentischen Nachrichten gesammelt habe, will ich hier mitteilen.

Vier Wochen lang – so versichert man – ließ der unbarmherzige Generalprokureur meine Papiere in einem Winkel liegen, ohne sich des Unglücklichen zu erinnern, der kraft dieser ununtersuchten Papiere bereits in der Verbannung schmachtete. Endlich fragte der Kaiser nach ihrem Inhalt. Nun mußte er vorgelegt werden, und die Unschuld desselben war vermutlich der erste Grund zu den veränderten Gesinnungen des Monarchen. Doch ist es noch sehr zweifelhaft, ob meine Unschuld allein meine Rettung bewirkt haben würde. Denn man weiß, daß es in der Regel (von welcher aber Kaiser Paul eine ehrenvolle[257] Ausnahme machte) für einen Mächtigen weit leichter ist, eine begangene Ungerechtigkeit zu verlängern, als sie zu gestehen und wieder gut zu machen. Aber mein guter Genius fügte einen andern Umstand hinzu, der sich in keinem für mich glücklicheren Zeitpunkt hätte ereignen können.

Das kleine Drama nämlich, Der alte Leibkutscher Peters des Dritten, das ich vier Jahre vorher aus reiner Freude über eine edelmütige Handlung des Kaisers entworfen hatte und bei dessen Verfertigung ich wahrhaftig nicht daran dachte, welchen wichtigen Einfluß es einst auf mein Schicksal haben würde, dieses kleine Drama war gerade jetzt erst von einem wackern jungen Manne namens Krasnopolski ins Russische übersetzt worden. Er wollte es gern dem Kaiser zueignen und wandte sich deshalb an verschiedene Männer von Einfluß. Man widerriet es ihm aber; wenigstens sollte er, äußerte man, meinen Namen vom Titel weglassen, da dieser verhaßte Name alles verderben könne. (Schon längst wagten es weder Russen noch Deutsche, wenn sie eins meiner Stücke auf ihren Bühnen spielten, den Verfasser auf dem Anschlagzettel zu nennen.)

Der biedere Jüngling kehrte sich an nichts. »Das Stück,« sagte er, »sei nun einmal von mir; er dürfe sich nicht mit fremden Federn schmücken, und folglich müsse mein Name stehen bleiben.« Da er nun bei der Überreichung Schwierigkeiten fand, so schickte er es mutig durch die Post an den Kaiser.

Auf diesen machte es einen seltnen Eindruck. Er las, war gerührt und zufrieden, befahl, dem Übersetzer sogleich einen kostbaren Ring zu schicken, meinte jedoch, das Manuskript solle ungedruckt bleiben. Einige Stunden[258] nachher forderte er es zum zweiten Male, ging es wieder durch und erlaubte nun auch den Druck, doch mit Weglassung einiger Stellen, unter denen – was mir unbegreiflich ist – auch die war, wo der alte Leibkutscher sagt: »Mein Kaiser hat mich gegrüßt! Er grüßt alle ehrliche Leute!« An demselben Tage verlangte er das Stück zum dritten Male, blätterte es noch einmal durch und erlaubte nun den Druck ohne alle Einschränkung. Mir, erklärte er, mir habe er Unrecht getan; er sei mir Genugtuung schuldig und müsse mir wenigstens ebenso viel schenken, als er dem alten Leibkutscher geschenkt habe (nämlich zwanzigtausend Rubel). Der Kurier an mich wurde abgefertigt.

Bald nachher langte mein Mémoire aus Tobolsk an. Der Kaiser las es seiner Länge ungeachtet zweimal von einem Ende bis zum andern, und es bewirkte nun den auf feines Gefühl gegründeten Befehl an den Gouverneur von Estland, »ein schönes Krongut für mich auszusuchen, welches in der Nachbarschaft von meinem Friedenthal liege«. Er wollte also nicht bloß schenken, er wollte auf die mir angenehmste Art schenken. Es ist gewiß nicht zu leugnen, daß dieser Zug nur aus einem sehr feinfühlenden Herzen kommen konnte. – Nahe bei Friedenthal fand sich indes kein solches Krongut.

Das ist alles, was ich über die Ursachen meiner Befreiung mit Gewißheit habe in Erfahrung bringen können. Möchte ich nur ebenso viel von den Ursachen meiner Gefangennehmung wissen! Aber ich zweifle, ob selbst die Hand der Zeit diesen Schleier jemals aufheben werde.

Trotz den unverkennbaren Zeichen des kaiserlichen Wohlwollens hatte sich doch der Schrecken meinem Gemüte[259] so tief eingeprägt, daß mir das Herz klopfte, so oft ich einen Senatskurier oder Feldjäger sah, und daß ich nie nach Gatschina fuhr, ohne mich reichlich mit Gelde zu versehen und gleichsam zu einem neuen Exil vorzubereiten.

Es war am 9ten Oktober, als ich zum ersten Mal (sehr früh; der Tag war noch nicht angebrochen) eilig nach Gatschina berufen wurde und nicht ohne Zittern die Reise antrat. Nach der dringenden Hastigkeit zu urteilen, mit welcher die Order abgefaßt war, mußte ich große Dinge erwarten. Es betraf aber am Ende weiter nichts als die nochmalige Anempfehlung einer sehr strengen Zensur, von deren Wichtigkeit der Kaiser am vorigen Tage gesprochen hatte. Mir selbst war diese Zensur überlassen, und ich sah wohl ein, daß über kurz oder lang das abermals eine Klippe werden könne, an der mein kaum geborgenes Schifflein zu scheitern Gefahr laufe. Daher bat ich um Anstellung eines Zensors und bediente mich besonders des triftigen Grundes, daß ich unmöglich Zensor meiner eigenen Stücke sein könne, da die väterliche Vorliebe mich verleiten werde, dieses und jenes zu übersehen und also ganz unwillkürlich dem Allerhöchsten Befehle zuwiderzuhandeln.

Es währte lange, ehe ich durchdrang; endlich aber erreichte ich meinen Wunsch. Dem Kaiser gefiel noch obendrein meine Ängstlichkeit, und er ernannte mir einen Zensor in dem damaligen Rat Adelung, einem gelehrten und zugleich geschmackvollen Manne, der uns Deutschen durch die Monumente altdeutscher Dichtkunst, die er einst mit vielem Fleiß und vieler Mühe auf der vatikanischen Bibliothek in Rom sammelte, rühmlich bekannt ist.[260]

Welche unglaubliche Strenge dieser wackere Mann und auch ich selbst zu beobachten genötigt waren und wie oft dadurch bei mir Überdruß und gänzlicher Ekel an meinem Geschäft erweckt werden mußte, mögen einige Beispiele beweisen.

Das Wort Republik durfte in meinem Trauerspiel Octavia nicht genannt werden. »Stirb als ein freier Römer!« durfte Antonius nicht sagen.

Im Abbé de l'Épée durfte in Toulouse kein Bürger wohnen. Franval durfte nicht sagen: »Wehe meinem Vaterlande!« sondern nur: »Wehe meinem Lande!« Denn es war den Russen wirklich durch einen Ukas untersagt worden, sich des Wortes Vaterland zu bedienen. Der Abbé de l'Épée, der bekanntlich von Paris kommt, durfte nicht von Paris kommen. Das berühmte Lyceum mußte er ungenannt lassen und ebenso Frankreich.

Buffons Naturkunde, d'Alemberts Gelehrsamkeit, Rousseaus Empfindung und Voltairens Witz wurden sämtlich durch einen Federstrich vertilgt.

Ich habe, um nicht weitläuftig zu werden, nur Kleinigkeiten angeführt. Sie geben aber einen Begriff von der Strenge, mit welcher der Zensor ganz wider seinen Willen verfahren mußte. Wie oft hatte ich vormals über den dickköpfigen Zensor in Riga gelacht, der zum Beispiel in meiner Versöhnung die Worte des Schusters: »Ich will nach Rußland; dort soll es brav kalt sein!« wegstrich und statt derselben schrieb: »Ich will nach Rußland; dort wohnen lauter ehrliche Leute!« Ich glaubte nicht, daß gerechte Furcht einst auch in Petersburg veranlassen würde, was die Dummheit in Riga bewirkte.

Aus diesen wenigen Beispielen erhellt zur Genüge, wie gefährlich das Amt eines Zensors für den, der es verwaltete,[261] und wie drückend es für mich war. Der Herr Rat Adelung konnte mir aber mit dem besten Willen diese Last nicht erleichtern.

Doch es gab noch andre Unannehmlichkeiten, die mir meinen Posten sehr bald verleideten. Ich will nicht von den ewigen Trakasserien der Schauspieler, von ihrer Widersetzlichkeit und ihrem unbegrenzten Eigendünkel reden: c'est partout comme chez nous. Ein weit stärkeres Hindernis, das dem Gedeihen der Deutschen Bühne im Wege stand, war die Eifersucht der Französischen oder vielmehr der Madame Chevalier, ihres ersten Mitgliedes und – ihrer Regentin. Nicht als ob sie befürchtet hätte, daß die deutsche Kunst die französische verdunkeln werde: das wäre bei der anerkannten Mittelmäßigkeit des Deutschen Theaters und bei der Vorliebe der Russen für das Französische eine lächerliche Furcht gewesen. Aber sie wollte nicht, daß irgend jemand außer ihr den Kaiser, gut oder schlecht, amüsieren solle. Die Italiener und die Russen waren bereits von dem Theater des Lustschlosses und der Eremitage verbannt; selbst die französische tragische Muse durfte in der Person der Madame Valville so selten als möglich erscheinen. Nun war es aber doch wohl möglich, daß die deutschen Schauspieler wenigstens durch den Reiz der Neuheit den Monarchen lockten, daß er die Deutschen öfter vor sich spielen ließ, sich wohl gar an sie gewöhnte und daß Madame Chevalier dann wöchentlich einmal weniger vor ihm erscheinen durfte. Dem mußte vorgebeugt werden.

Viermal verlangte der Kaiser Deutsches Schauspiel, viermal erhielt ich vom Herrn Oberhofmarschall den Befehl, mich bereit zu halten, und viermal wußte Madame Chevalier es zu hintertreiben.[262]

Da ich den Geschmack des Kaisers so ziemlich kannte und da mir ausdrücklich befohlen war, eins der zu gebenden Stücke unter den meinigen zu wählen, so hatte ich zu der ersten Vorstellung Die Versöhnung von mir und zur zweiten Ifflands Hagestolzen bestimmt. Kein Stück, das der Kaiser sehen sollte, durfte länger spielen als anderthalb Stunden, höchstens eindreiviertel Stunden. Ich hatte mir daher die undankbare Mühe gegeben, beide Stücke so abzukürzen, daß sie die vorgeschriebene Zeit um keine Minute überschritten. Doch alles vergebens! Madame Chevalier zeigte auch hier, daß die Familie der hübschen stumpfnasigen Sultaninnen (in Marmontels bekannter Erzählung) noch nicht ausgestorben ist.

Was war zu tun? Freilich konnte ich mich allenfalls an den Monarchen selbst wenden und vielleicht sehr bald einen Befehl auswirken, gegen den kein Widerspruch stattfand. Aber – ich kannte die Verhältnisse des Hofes und duldete, was ich ohne Gefahr nicht ändern konnte. Madame Chevalier suchte übrigens mir persönlich die Kränkung zu vergüten. Sie betrug sich sehr artig gegen mich. Ich genoß der seltenen Gunst, Zutritt in ihrem Hause und an ihrer Tafel zu haben. Sie erzeigte mir auch die Ehre, die Gurli in meinem Stücke Die Indianer in England zu spielen, welches ein gewisser Marquis Castelnau auf eine etwas unbarmherzige Weise zu einer Oper hatte verschneiden müssen, die der alte Sarti vortrefflich komponierte. Endlich setzte sie sogar das Vertrauen in mich, eine französisch geschriebene Oper von mir zu verlangen; und die Umstände nötigten mich in der Tat, ganz ernstlich an diese Idee zu denken.[263]

Doch diese Artigkeiten konnten mich höchstens nur wegen meiner persönlichen Sicherheit beruhigen, meine Lage aber nicht angenehmer machen; und ich war daher fest entschlossen, bei der ersten günstigen Gelegenheit um meinen Abschied zu bitten.

Quelle:
Kotzebue, August: Das merkwürdigste Jahr meines Lebens. München 1965, S. 232-264.
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