Zweite Szene


[370] Zimmer der Gräfin.

Gräfin – Ernestine.


GRÄFIN Amaliens unerbrochenes Billett in der Hand haltend. Wer brachte das Billett?

ERNESTINE. Ein Knabe.

GRÄFIN. Sonderbar! Liest die Adresse. »An die Frau Gräfin von Klingsberg.« – Ich bin ja keine Gräfin Klingsberg mehr.

ERNESTINE. Ihro Gnaden waren es doch, und da in der ganzen Stadt keine Gräfin Klingsberg existiert –

GRÄFIN. So meinst du, könnte ich das Billett mit gutem Gewissen öffnen?

ERNESTINE. Allerdings!

GRÄFIN. Ein Mißverstand muß freilich hier zum Grunde liegen.

ERNESTINE. Und wie läßt sich der anders aufklären?

GRÄFIN. Du hast recht! Erbricht und liest. »Eine unglückliche Fremde, die von Ihrem Gemahle und Ihrem Sohne verfolgt wird, bittet um Schutz. – Amalie, Baronin von Stein, geborne Gräfin von Wildberg.« – Nun beim Himmel! Das ist lustig! Ich bin schon seit zwei Jahren Witwe, habe in mei nem Leben keinen Sohn gehabt, und soll vor seinen Nachstellungen schützen! Mein Gemahl war freilich so ein Patron, aber er wird doch nicht als Gespenst –

ERNESTINE. Ich vermute fast –

GRÄFIN. Rede!

ERNESTINE. Da die Frau Gräfin hier im Hause wohnen, so könnte es leicht sein, daß die Fremde Sie für die Gemahlin Ihres Herrn Bruders gehalten –[370]

GRÄFIN. Du hast recht. Aber was folgt denn daraus? Doch wohl nicht, daß mein Bruder –

ERNESTINE schalkhaft. Warum nicht?

GRÄFIN. In seinem Alter –

ERNESTINE. Wenn Ihro Gnaden es mir nicht ungnädig nehmen wollen: jung gewohnt, alt getan.

GRÄFIN. Hast du Beweise?

ERNESTINE. Ich hätte wohl –

GRÄFIN. Heraus damit!

ERNESTINE. Den Schawl, den Ihro Gnaden da umhaben –

GRÄFIN. Nun?

ERNESTINE. Er war eigentlich mir bestimmt.

GRÄFIN. Dir?

ERNESTINE. Er war der Preis eines Kusses.

GRÄFIN. Den mein Bruder verlangte?

ERNESTINE. Er geht mir überall nach, und sucht mich immer hinüberzulocken.

GRÄFIN. Wie kommt denn aber der Schawl an mich?

ERNESTINE. Ja, das weiß ich nicht.

GRÄFIN. Wart, alter Korydon! die Torheit sollst du büßen.

ERNESTINE. Und der junge Herr Graf ist auch so ein lustiger Herr.

GRÄFIN. Ja, ja, es werden wohl meine saubern Verwandten sein, von welchen hier die Rede ist. – Höre Ernestine, den Schawl mußt du mir heute noch lassen. – Morgen ist er dein!

ERNESTINE küßt ihr die Hand. Ich danke!

GRÄFIN. Jetzt müssen wir auf einen Streich denken, diese Dame – Baronin von Stein nannte sie sich? eine Unglückliche? – Sie kann auch wohl eine Betrügerin sein. Ist der Knabe noch draußen?

ERNESTINE. Er wartet auf Antwort.

GRÄFIN. Geh! Ich lasse der Unbekannten sagen, sie möchte zu mir kommen; jetzt gleich. Ernestine geht. Warte! Denkt nach. Wenn ich sie hieher kommen lasse, so könnte mein Bruder ihr begegnen, oder mein Neffe. – Besser ich fahre zu ihr. Zwar – schickt sich das? – Wenn sie nun eine gemeine Betrügerin wäre? – Gleichviel! Sie nennt sich unglücklich. Durch Menschenliebe sich täuschen lassen, ist keine Schande. Geh, frage nach ihrer Wohnung. Ich will selbst kommen. Ernestine ab.[371]


Quelle:
August von Kotzebue: Schauspiele. Frankfurt a.M. 1972, S. 370-372.
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