Fünfter Auftritt


[50] Der Unbekannte – Franz.


FRANZ. Nun, Herr?

UNBEKANNTER. Was willst du?

FRANZ. Sie hatten unrecht.

UNBEKANNTER. Hm!

FRANZ. Sie können noch zweifeln?

UNBEKANNTER. Ich will nichts mehr hören. Diese Madam Müller; wer ist sie? warum find ich sie immer auf meinem Wege? Wo ich hinkomme, da ist sie schon gewesen.

FRANZ. Sie sollten sich dessen freuen.

UNBEKANNTER. Freuen?

FRANZ. Daß es der guten wohltätigen Seelen noch mehrere in der Welt gibt.

UNBEKANNTER. O ja.

FRANZ. Sie sollten ihre Bekanntschaft suchen.

UNBEKANNTER spöttisch. Warum nicht lieber sie heuraten?

FRANZ. Auch das, wenn Sie Lust dazu haben. Ich sah sie einigemal im Garten; sie ist eine schöne Frau.

UNBEKANNTER. Desto schlimmer! Schönheit ist Larve.

FRANZ. Bei ihr scheint sie Spiegel der Seele. Ihre Wohltaten –

UNBEKANNTER. Ach, rede mir nicht von ihren Wohltaten! Glänzen und schimmern wollen sie alle; eine Frau in der Stadt durch ihren Witz, eine Frau auf dem Lande durch ihr Herz. Oder sie ist eine Betschwester, und dann ist es eitel Gleißnerei.

FRANZ. Gleichviel wie das Gute gestiftet wird.

UNBEKANNTER. Nicht gleichviel.

FRANZ. Für den armen Alten wenigstens.

UNBEKANNTER. Desto besser. So kann er meine Hülfe entbehren.[50]

FRANZ. Das fragt sich noch.

UNBEKANNTER. Wieso?

FRANZ. Seinen dringendsten Bedürfnissen hat Madam Müller abgeholfen; ob sie ihm aber so viel gab, oder geben konnte, um sich auch die Stütze seines Alters zurückzuerkaufen –

UNBEKANNTER. Schweig! ich will ihm nichts geben. Hämisch. Du intressierst dich ja recht warm für ihn? Willst du vielleicht mit ihm teilen?

FRANZ. Pfui! Das kam nicht aus Ihrem Herzen.

UNBEKANNTER sich besinnend, reicht ihm die Hand. Vergib mir!

FRANZ küßt sie. Armer Herr! wie muß Ihnen mitgespielt worden sein, ehe es der Welt gelang, diesen fürchterlichen Menschenhaß, diese schauerlichen Zweifel an Tugend und Redlichkeit in Ihr Herz zu pflanzen.

UNBEKANNTER. Du hast's erraten. Laß mich zufrieden.


Er wirft sich auf eine Bank, zieht einen Teil von Zimmermanns Buche über die Einsamkeit aus der Tasche und liest.


FRANZ Für sich, ihn betrachtend. Nun wieder gelesen. So geht es den ganzen Tag. Für ihn hat die schöne Natur keine Freude und das Leben keinen Reiz. Ich hab ihn in drei Jahren nicht ein einziges Mal lachen sehen. Was soll daraus werden? ein Selbstmörder! – Wenn er sich doch nur an irgendein lebendes Wesen in der Welt kettete, und wär' es auch nur ein Hund, ein Kanarienvogel! Denn etwas muß der Mensch doch lieben. Oder wenn er Blumen zöge, oder Schmetterlinge sammelte! – Nein, er tut nichts, als lesen. Und wenn er einmal den Mund öffnet, so sprudelt ein Fluch über das ganze Menschengeschlecht heraus.

UNBEKANNTER liest. »Da vergißt man nichts. Da blutet jede alte Wunde, da rostet kein Dolch. Alles was einst die Nerven spannte und mit tiefen Spuren sich einprägte in die Imagination, ist ein Gespenst, das dich mit unermüdeter Wut in deiner Einsamkeit verfolgt.« Der Greis tritt hervor.

FRANZ. Ja, ja, der ehrliche Mann hat recht. Aber eben deswegen fort! fort aus der Einsamkeit! fort in einen Wirbel von Zerstreuungen und Geschäften!


Unbekannter hört ihn nicht.
[51]


Quelle:
August von Kotzebue: Schauspiele. Frankfurt a.M. 1972, S. 50-52.
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