118. Der fliegende Chorschüler.
Mündlich.

[123] In vielen Städten der Mark und namentlich in Berlin erzählt man sich folgende Sage:[123]

Eines Tages verabredeten mehrere Chorschüler miteinander, daß sie auf den Kirchthurm (in Berlin soll es der der Marienkirche gewesen sein) steigen und dort aus den Krähennestern, deren sich eine große Anzahl oben befand, die Eier ausnehmen wollten. Diesen Vorsatz führten sie auch aus und stiegen zum Thurm hinauf; als sie dort ankamen, ward zu einem der Schalllöcher hinauf ein Brett gelegt, welches zwei Schüler hielten, der dritte aber kroch auf diesem Brett hinaus, um in den Ritzen und Spalten des Thurmes Nester zu suchen. Er fand auch bald eine große Zahl derselben, gab jedoch seinen Gefährten kein einziges der Eier, welche er dort fand, und als sie ihn nun fragten, ob sie ihr Theil nicht erhalten würden, schlug er es ihnen rund ab, weil er sagte, er habe sich allein der Gefahr unterzogen und so wolle er auch allein die Frucht derselben genießen. Da wurden die andern böse und drohten ihm, daß sie das Brett loslassen würden, wenn er ihnen nicht augenblicklich einen Theil seiner Beute abgäbe; er jedoch, der vor der Ausführung ihrer Drohung sicher zu sein wähnte, sagte, das sollten sie nur thun, dann würden sie gewiß nichts bekommen. Aber kaum hatte er das nur gesagt, so ließen jene das Brett los und der arme Chorschüler stürzte von der höchsten Höhe des Thurmes herab. Nun hatte er aber seinen weiten Mantel um, der bis unten hinab zugeknöpft war, so daß sich sogleich der Wind darunter fing, den Fall hemmte und ihn wohlbehalten und unversehrt mitten auf den Markt hinabtrug, wo er zur größten Verwunderung der[124] Käufer und Verkäufer ankam. Ob er jetzt seinen Gefährten ihren Antheil am Gewinn gegeben, weiß ich nicht, sie mögen aber auch wohl nicht mehr danach verlangt haben.

Quelle:
Adalbert Kuhn: Märkische Sagen und Märchen nebst einem Anhange von Gebräuchen und Aberglauben. Berlin 1843, S. 123-125.
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