183. Das Nachzehren.

Von demselben.

Der alte zweiundneunzigjährige Lehrer zu Saßenhausen erzählte:

[173] In früherer Zeit nahm man sich beim Bekleiden der Leiche, beim Einlegen in den Sarg, sowie beim Zunageln desselben sehr in Acht, daß dem Todten kein Kleidungsstück auf den Mund oder ins Gesicht kam, denn sonst entstand die Nachzehrung unter seinen hinterlaßenen Verwandten, bis die Familie ganz ausgestorben war.

Ein adelicher Herr wohnte bei einer reichen Tante, welche wünschte, daß er eine ihrer Verwandten heirathen möchte, wozu er jedoch keine Lust hatte. Aber sie plagte ihn stets mit ihrem Verlangen, und als er gerade einmal durch Unpäßlichkeit ans Zimmer gefeßelt war und ihm der Arzt eine Ader am Fuße geschlagen hatte, drang sie wieder so heftig in ihn, daß er unwillig wurde und mit dem Fuße auf die Erde stampfte, sodaß sich der Verband löste und das Blut auf die Erde spritzte; der schnell gerufene Arzt legte einen neuen Verband um und er war bald wieder gesund. Die Tante aber hatte den blutigen Pantoffel in Verwahrung genommen und beschieden oder veranstaltet, daß er ohne jemandes Wißen von ihrer Familie, wenn sie stürbe, zu ihr in den Sarg gelegt würde. So geschah's auch, und ihr Vetter wurde nun von Tage zu Tage elender, und kein Arzt konnte helfen; da kam endlich einer auf den Gedanken, die Tante ausgraben zu lassen; es geschah, und man fand den einst vermißten Pantoffel auf ihrem Munde, und er war schon ganz mit Schleim bedeckt; diesen beizte und ätzte der Arzt hinweg und der junge Mann wurde bald wieder frisch und gesund.


[174] Vgl. Märkische Sagen, Nr. 30; Norddeusche Sagen, Nr. 136; Lyncker, Nr. 192, Bechstein, Thüring. Sagen, IV, 86; Temme, Pommersche Sagen, Nr. 258; Preußische Sagen, S. 275. Bekommt ein Todter im Sarge das Leintuch in den Mund, so müssen die Angehörigen desselben ebenfalls bald sterben; Meier, Gebräuche, 296. Wenn man dem Todten den Mund aufläßt, daß die Zunge aus Leichentuch kommt, so leckt sie die ganze Familie nach. Aus der Wetterau bei Wolf, Beiträge, I, 215, Nr. 150. Wenn dem Todten das Gesicht weich bleibt oder er gar die Augen aufbehält, so holt er binnen Jahresfrist einen aus dem Hause oder aus der Nachbarschaft zum Tode ab; Leoprechting, S. 250. Ueber das Nachzehren, das meist für slawisch gehalten wird, ist noch Simrock, Mythologie, S. 491, zu vergleichen, der ebenfalls die Möglichkeit des Eindringens aus der Fremde annimmt, doch haben wir schon ein älteres Zeugniß bei Saxo Gramm., ed. Steph., S. 13, wo es vom gestorbenen Mithothin heißt: »Cuius extincti quoque flagitia patuere: siquidem busto suo propinquantes, repentino mortis gene re consumebat, tantasque post fata pestes edidit, ut paene tetriora mortis quam vitae monumenta dedisse videretur, perinde ac necis suae poenas a noxiis exacturus. Quo malo obfusi incolae, egestum tumulo corpus capite spoliant, acuto pectus stipite transfigentes: id genti remedio fuit«, wozu man die auch bereits von Simrock (Mythologie, S. 491) angeführten Stellen aus Burchard von Worms (Grimm, Mythol., erste Ausg., Anh. S. XXXIX, XL) vergleiche: »Fecisti quod quaedam mulieres instinctu diaboli facere solent. Cum aliquis infans sine baptismo mortuus fuerit, tollunt cadaver parvuli, et ponunt in aliquo secreto loco, et palo corpusculum eius transfigunt. Dicentes si sic non fecissent, quod infantulus surgeret et multos laedere posset. – Cum aliqua femina parere debet et non potest, in ipso dolore si morte obierit in ipso sepulero matrem cum infante palo in terram transfigunt.«

Quelle:
Adalbert Kuhn: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen und einigen andern, besonders den angrenzenden Gegenden Norddeutschlands 1–2. Band 1, Leipzig 1859, S. 173-175.
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