333b.

Schriftliche Mittheilung von Th. Colshorn zu Hannover.

[287] In der Nähe von Wesendorf ist ein See, wo früher ein Schloß gestanden hat; dieses Schloß ist vor langer Zeit einst plötzlich untergegangen. Die letzte Bewohnerin desselben hat ihren Kindern, so sie sich verunreinigt, den Steiß mit Brot gereinigt, deshalb ist sie sammt dem Schloße versunken.

Ich erzähle aber die Wahrheit: noch heute stehen in[287] jenem See große viereckige Pfähle, welche in der Sommerzeit, wenn das Waßer einen niedrigen Stand hat, sichtbar werden. Woher diese Pfähle, die doch offenbar durch menschlichen Fleiß dahingekommen sein müßen, und zwar mitten im Morast, wo auch bei der anhaltendsten Dürre kein Mensch gehen kann? – Uebrigens haben auf den Pfählen die Nebengebäude des Schloßes gestanden; dieses selbst ist verschwunden; wo es gestanden hat, ist der See unergründlich.

In dem See hält sich ein Stier auf, »Seebulle« genannt. Er ist sehr oft gesehen worden, besonders häufig soll er mit dem Vollmeier Sander verkehrt haben, auf dessen Hofe er zu verschiedenen malen gewesen ist. Eines Abends, als die Magd draußen auf dem Hofe die Kühe melkt, kommt der Seebulle und springt die Kuh, unter welcher die Magd sitzt, hierauf geht er wieder langsam und ruhig seines Wegs.

Auch ist von Sander einmal in dem See ein großer einäugiger Hecht gefangen worden; wie er den nach Hause bringt, kommt der Stier wüthend und fragt: »Wo ist meine Kuh? wo ist meine Frau?« Da geben ihm Sanders den Hecht heraus, und der Stier entfernt sich mit demselben. – Ein andermal hat ein Taucher, der nach dem Schloße hat tauchen wollen, den Hecht gesehen, denn als er sich eine kurze Strecke vom Ufer entfernt hat, sieht er das Unthier mit aufgesperrtem Rachen auf sich zukommen, als wolle es ihn verschlingen, doch soll er noch einigermaßen glücklich entkommen sein.

Zn der Zeit, als das Schloß noch gestanden hat und auch noch eine Zeit lang nachher, haben auch Zwerge hier gehaust. Ihre Wohnung haben sie in dem Berge gehabt, der nahe am See liegt und der Seeberg genannt wird. Sie haben vorzüglich gut schmieden können,[288] sind aber sehr gefürchtet worden, da sie verschiedene Diebeskünste getrieben haben; besonders haben sie die neugeborenen Kinder gestohlen oder dieselben vertauscht. Dies zu verhüten, hat sich zu Wesendorf bis in die neueste Zeit hinein der Gebrauch erhalten, daß bei neugeborenen Kindern bis zur Taufe nicht nur ein Licht brennt, sondern auch beständig Wache dabei gehalten wird.


Ueber die Ursache zum Untergange vgl. Märkische Sagen, Nr. 80; Lyncker, Nr. 206; ähnlich Schambach u. Müller, Nr. 71, 1.; Pröhle, Oberharzsagen, S. 182; vgl. auch zu Nr. 174 a. Die Einwohner der im Balksee untergegangenen Stadt streuten in den Häusern Weizenmehl statt Sand; Zeitschrift des Histor. Vereins für Niedersachsen (1851).

Quelle:
Adalbert Kuhn: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen und einigen andern, besonders den angrenzenden Gegenden Norddeutschlands 1–2. Band 1, Leipzig 1859, S. 287-289.
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