9. Der starke Hans.

Deilinghofen.

[232] Da war einmal ein arme Witwe, die hatte einen Sohn von ganz außerordentlicher Körperstärke, Haus[232] geheißen. Der Junge aber aß so viel, daß ihn die Mutter nicht mehr sättigen konnte. »Geh«, sagte sie eines Tags zu ihm, »such dir einen Dienst und iß dein eigenes Brot!« Hans machte sich auf, und bald gelang es ihm, einen Bauer zu finden, der einen Knecht nöthig hatte. Sie wurden einig, Hans solle für die Kost dienen, und wer zuerst die Miethe aufsage, der solle verbunden sein, von dem andern Part drei Ohrfeigen hinzunehmen. Der Bauer bereute bald den eingegangenen Vertrag; denn Hans war nur ein guter Arbeiter, wenn er eben wollte, und seine Beköstigung war keine Kleinigkeit. Wenn der Brotherr am Morgen rief: »Hans, wir wollen dreschen!« stand er oft nicht auf. Aber, wenn gerufen wurde: »Hans, wir wollen eßen!« dann war er gleich bei der Hecke und fragte: »Wo ist denn mein großer Löffel?« Hatte er einmal den Ranzen voll, dann arbeitete er auch wol für zehn andere. Er ließ sich bisweilen einen gewaltigen Haufen Garben auf die Dehle werfen und drasch sie aus. Sein Flegel war allezeit eine Welle, wie sie der Bauer auf dem Acker brauchte; als Handhabe daran diente der größte Wiesbaum. Hatte er abgedroschen, dann ließ er das unreine Korn auf den Boden tragen und langsam durch die Luke nach der Dehle schütten. Unten stand er und blies (wie!) gegen das Niederfallende, dann flog Spreu und Staub hinweg. – Eines Tags sollte er mit den andern Knechten Holz aus dem Walde holen. Seine Mitgesellen standen zeitig auf und beeilten sich, daß sie fortkamen; er dagegen ließ sich in seinem Morgenschlafe nicht stören. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, da schirrte er die beiden Kracken, welche seine Mitknechte ihm zurückgelaßen hatten, an den Wagen und zog zum Walde. In einem Hohlwege angekommen, durch den auch die andern zurückmußten, versperrte er den Eingang mit[233] einem solchen Haufen (wie!), daß er ihres Wartens gewiß sein konnte. Da seine Thiere, ganz erschöpft, nicht mehr fortwollten, lud er sie mit auf den Holzwagen und zog die ganze Ladung selbst bis an den Hohlweg, wo er zuerst seine Last hinüberschob, dann auch seinen Kameraden half und nun eher auf dem Hofe ankam als sie. – Einmal hatte der Bauer funfzehn Brote gebacken, und Hans sollte sie auf den Speicher tragen. Das frische Gebäck mundete ihm. Er fraß ein Brot nach dem andern, bis sie alle verzehrt waren. Als der Bauer nach einiger Zeit eins anschneiden wollte und keine Brote mehr fand, rief er den Hans und fragte: »Wo sind meine Brote?« – »Ach Herr!« sagte der Knecht, »ich war so hungerig, da hab' ich die paar Krümchen aufgegeßen.« Das war dem Bauer doch zu arg; er suchte ihn los zu werden, wäre es auch durch hinterlistigen Mord. So gab er ihm eines Tags auf, einen Brunnen zu reinigen. Als Hans unten ist, wird ihm ein großer Mühlstein auf den Kopf geworfen. Das macht ihm nichts. Er steckt Kopf und Schultern durch das Loch, streift ihn um den Leib und sagt lachend: »Ein hübscher Gürtel der!« Bald darauf kommt die Glocke aus einer alten Kapelle herunter. Die läßt er auf dem Kopfe und ruft: »Eine schöne Kaputze! Nun ist der Pater fertig.« In diesem Aufzuge steigt er dann wohlbehalten aus dem Brunnen. – Nach einiger Zeit schickt ihn der Bauer in eine Mühle, wo der Teufel haust. Der Böse erscheint und erklärt ihm: »Wenn du nicht einen Stein so hoch in die Luft wirfst wie ich, drehe ich dir den Hals um.« Der Teufel wirft nun zuerst ein großes Felsstück gewaltig hoch. Da zieht Hans seinen Stein aus der Tasche, – es war aber ein lebendiger Vogel –, der ging in die Höhe, bis daß man ihn nicht mehr sehen konnte. So muß der Teufel mit[234] Schimpf und Schande abziehen. Hans mahlt sein Korn und kehrt auf den Hof zurück. Dem Bauer geht nun die Geduld aus: er kündigt. Da gibt ihm Hans eine Ohrfeige, daß er durch die Wand fährt, und zieht ab.

Quelle:
Adalbert Kuhn: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen und einigen andern, besonders den angrenzenden Gegenden Norddeutschlands 1–2. Band 2, Leipzig 1859, S. 232-235.
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