160.

[55] Schichten heißt Künftiges vorhersehen; Hunde können schichten, sie geben durch ein entsetzliches Geheul kund, daß unter den Lebenden einer ausscheiden soll; auch Eulen geben durch ihr Geheul den nahen Tod eines Menschen kund. Wer einem Menschen, der eine Vorgeschichte sieht, oder einem Hunde, der schichtet, über die linke Schulter sieht, der nimmt dasselbe wahr, was[55] der Mensch oder der Hund bemerkt und behält die Gabe von der Zeit an. Wer die Gabe hat, Vorgeschichten zu sehen, der muß nothgedrungen aus dem Bette aufstehen und sich an den Ort begeben, wo er die Erscheinung wahrnehmen soll. Man sieht, hört und fühlt Vorgeschichten; man sieht z.B. einen Leichenzug; bemerkt der Seher sich selbst nicht in dem Gefolge, so kann er es sein, der bald sterben muß; schon mancher hat sich selbst im Sarge liegen sehen. Honcamp.


Grimm, Mythologie, S. 1061, 1089. Zu dem Sehen über die linke Schulter vgl. oben I, Sagen, Nr. 206 mit der Anm.; über das Wort »schichtern« vgl. noch Woeste, Volksüberlieferungen, S. 56. Wenn ein Kind zwei Freitage ohne Taufe liegt, wird es geistersichtig (kann schich tern). Schichtern ist eigentlich klug sein; vgl. schichtig soviel als schlau, englisch shifty. – Im Hildesheimischen heißt die Vorgeschichte »Vorgelate«. Seifart, S. 187.

Quelle:
Adalbert Kuhn: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen und einigen andern, besonders den angrenzenden Gegenden Norddeutschlands 1–2. Band 2, Leipzig 1859, S. 55-56.
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