15

[250] Christinens Brief war immer noch nicht fertig, und ihr Vater hatte den Weg zum Pfarrer und Chirurgus gleichfalls noch nicht gefunden, da verbreitete sich eines Tages im Flecken das Geschrei, des Sonnenwirts Frieder sei wieder da oder wenigstens im Anzuge begriffen. Die Nachricht drang mit großer Schnelligkeit selbst zu dem entlegenen Hause des Hirschbauers, und einer von Christinens Brüdern machte sich sogleich auf, um Kundschaft einzuziehen. Es verhielt sich wirklich so, wie das Gerücht sagte. Ein Fuhrmann, der in der ›Sonne‹ einkehrte, hatte den Erben derselben unterwegs, und zwar in ziemlich abgerissenem Zustande, angetroffen; zur Bestätigung, daß er die Wahrheit sage, zeigte er ein Schreiben vor, das ihm der Wanderer mitgegeben hatte, um es an denjenigen seiner beiden Schwäger, zu welchem er noch das meiste Vertrauen hatte, zu bestellen. Es ging soeben sehr lebhaft in der ›Sonne‹ zu, weshalb die Neuigkeit wie ein Lauffeuer sich verbreitete. Der Fuhrmann erzählte noch, er habe den Frieder aufsitzen heißen; derselbe habe sich aber geweigert, da er nicht nach Hause kommen wolle, bis er wisse, wie er aufgenommen werde. Er gab den Brief einem Knechte, der ihn zum Chirurgus hinübertrug. Dieser ließ nach einer Weile dem Sonnenwirt sagen, es sei endlich Nachricht von seinem[250] Sohne da; wenn der Herr Vater aufgelegt sei, sie zu hören, so wolle er mit dem Briefe herüberkommen. Der Sonnenwirt antwortete, er habe im Augenblick alle Hände voll zu tun, und auf den Abend wolle er Ruhe haben; morgen sei auch ein Tag, um von verdrießlichen Dingen zu reden.

Auf den andern Tag wurde in der ›Sonne‹ ein Familienrat zusammenberufen, welchem der Chirurgus den Brief seines jungen Schwagers vorlas. Derselbe lautete gleich eingangs so über alle Maßen niedergeschlagen und unterwürfig, daß die Sonnenwirtin einmal über das andere in ein triumphierendes Gelächter ausbrach. »Geliebter Schwager«, las der Chirurg, »ich weiß mir nicht mehr zu helfen, so will ich Ihn um Gottes Willen gebeten haben, mir einen Rath zu ertheilen, denn ich laufe in der Irr, als wie ein verlornes Schaf; so rufe ich zu Gott, er möchte mir einen Hirten senden, der mich wieder auf den rechten Weg bringen sollte. Meine Reise ist nicht bestanden, wie ich geglaubt hab: mein Herr Vetter hat des Gerichtsschreibers Sohn von Boll zum Knecht, und hat ihn nicht fortschicken können, weil er auch ein Freund von ihm sei. So bin ich diesesmal in mich selber gangen und mußt erst erkennen, was ich bei meinem Vater vor gute Tag gehabt hab und ihm nicht gefolgt, so bitt ich nur noch diesesmal zu helfen und mich nicht zu verlassen. Meine Eine Bitt an die Meinen ist, mir nur noch so viel zu helfen, daß ich nur einer von seinen Taglöhnern sein möchte. Ich werde gewiß meinem Vater in allen Stücken gehorsam sein; wann ich es nicht tue[251] und ihm im Geringsten was anstelle, so sprich ich das Urteil wider mich und schreibe meine eignige Hand unter, daß ich auf den ewigen Arrest soll gesetzt werden. Ich weiß wohl, ich hab es gegen den Herrn Schwager nicht verdient, weil ich Ihn schon in vielen Stücken erzürnt und beleidiget hab, es ist mir aber herzlich leid, es wird inskünftige nicht mehr geschehen. So mein ich nun, ob der Schwager nicht eine Bitte vor mich bei dem Herrn Amtmann tun möchte. Man redt wider mich in Eberspbach, es sollte einen Heiden erbarmen über solche Reden: ich soll gesagt haben, ich wolle alle Häuser in Brand stecken und den und jenen todt stechen. Mein Hertze hat noch niemal daran gedacht. Geliebter Herr Schwager, ich gedenke auch noch an Gott, und gedenke bei mir selbst, ich möcht hinkommen wo ich wollt, und Gott möchte mich auf das Krankenbette legen, ich gewiß mein Vaterland durch solche Streich nicht verschertzen will. So bitte ich den Schwager mich auf diesesmal nicht zu verlassen und mir einen Rad zu geben und zu helfen« –

»›Rad‹ schreibt er«, unterbrach sich der Chirurg im Lesen: »er kann doch sonst besser schreiben und hat das Wort weiter oben auch richtig geschrieben.«

»Seine Hand weiß mehr als er und hat das Rechte troffen«, bemerkte die Sonnenwirtin, »der Weg, den er geht, führt wohl noch zu Galgen und Rad.«

»Ist der Brief aus?« fragte der Sonnenwirt.

»Ich hab das Vertrauen zu Ihm«, fuhr der Vorleser fort, »und glaub in meinem Hertzen, daß Er des Herrn Amtmanns sein Hertze am besten erweichen[252] kann. Mein Vater schickt einen Knecht fort auf Fastnacht; er erbarmet sich meiner gewiß und nimmt mich wieder an, wann ich befreit bin von dem Herrn Amtmann. Ich hab nicht längere Weil gehabt; wann ich mich sehen darf lassen, so will ich mündlich mit Ihm reden. Er ist von mir viel tausendmal gegrüßt und schließe ihn in die Vorsorg Gottes. Sein getreuer Schwager bis in den Tod.«

»Es muß ein wenig konfus in seinem Kopf hergehen«, fügte der Chirurg hinzu, »denn er lebt mit dem Datum noch im vorigen Jahr.«

»Er kann eben in gar nichts ordentlich sein«, bemerkte die Sonnenwirtin.

»Jetzt, was ist zu tun?« fragte der Chirurg.

Der Krämer, der nicht wieder die Mißgriffe von neulich begehen wollte, half sich mit Achselzucken, Händereiben und Lächeln nach allen Seiten hin.

Die Sonnenwirtin sagte: »Entweder ist er der Landstreicherei obgelegen, hat sein Geld vertan und ist gar nicht bei dem Vetter gewesen, oder hat er drunten gleich zum Einstand schlechte Streich gemacht und ist wieder fortgejagt worden. Wenn sein Gewissen gut wär, tät er nicht so erbärmlich und so untertänig schreiben. Das ist sonst sein Sach nicht.«

»Soviel ist richtig«, sagte der Sonnenwirt nach einigem Nachdenken, »daß der Gerichtsschreiber in Boll drüben einen Sohn in die Fremde geschickt hat, und das erst ganz kürzlich, denn ich hab's erst vor ein paar Tagen gehört, nur hab ich nicht sagen hören, wohin. Weil er aber allerdings zu unsrer Gefreundschaft gehört, und mein Bruder in Sachsenhausen[253] also auch ein Vetter von ihm ist, so ist's wohl möglich, daß er ihn dorthin getan hat; denn seine Buben sind dickköpfig und haben wenig Beruf für die Schreiberei.«

»Es kommt natürlich alles darauf an, ob die Angabe wahr ist«, bemerkte der Chirurg.

»Wenn's wahr ist«, sagte der Sonnenwirt, »so müssen die beiden schier miteinander bei meinem Bruder drunten angekommen sein.«

»Man muß eben hinunterschreiben«, meinte Magdalene.

»Ja, aber was fangt man derweil mit dem Buben an, bis Antwort kommt?« fragte die Krämerin. »In Plochingen, von wo er schreibt, kann man ihn doch nicht liegenlassen, daß er dort eine rechte Zech hinmacht.«

»Und wenn man ihn ohne weiters wieder ins Haus nimmt«, sagte die Sonnenwirtin, »so setzt er sich fest und fangt das alt Lied wieder an und ist dann nicht mehr fortzubringen, wenn's auch zehnmal von Sachsenhausen kommt, daß all sein Vorgeben verlogen sei.«

In diesem Augenblicke hörte man ein Posthorn und gleich darauf den Knall einer Peitsche. »Der Postreiter hält vorm Haus, der Hausknecht soll ihm das Pferd halten«, sagte der Sonnenwirt, der ans Fenster getreten war. Es freute ihn jedesmal, wenn Briefe für den Flecken in der ›Sonne‹ abgegeben wurden oder wenn Postpferde zur Einkehr genötigt waren, weil er den Beweis darauf zu gründen hoffte, daß eine Zwischenpost hier errichtet werden sollte.[254] Nach einer Weile kam der Postknecht herein und überreichte ihm einen Brief: »An Herrn Hans Jerg Schwan zur löblichen Sonne in Eberspbach«. Der Sonnenwirt befahl einen Schoppen und las den Brief bedächtig, während jener den Wein stehend trank; denn in seinen hohen, steifen Stiefeln würde ihm das Sitzen eine Arbeit gekostet haben, die sich für einen kurzen Aufenthalt nicht verlohnte.

Der Sonnenwirt hatte den Brief erst zu Ende gelesen, als der Postknecht schon wieder zu Pferde saß und blasend gen Göppingen weiter ritt. »Der Bub hat nicht gelogen«, sagte er, »es verhält sich vielmehr alles so, wie er behauptet. Mein Bruder schreibt mir da, er hätt ihn gern behalten, aber er habe dem Gerichtsschreiber in Boll für dessen Sohn bereits zugesagt gehabt. Als Gast wär er ihm willkommen gewesen, solang er hätte bleiben mögen, auch habe alles im Haus den Vetter gern gehabt; der aber habe sich nicht halten lassen, sondern sei nach etlichen Tagen wieder fort.«

»Und hat sich, Gott weiß wie lang, in der Welt herumgetrieben«, sagte die Sonnenwirtin.

»Nicht gar lang, dem Datum nach«, entgegnete der Chirurg, dem der Sonnenwirt den Brief hingereicht hatte.

»Es ist zwar dumm von dem Buben«, versetzte der Sonnenwirt, »daß er auf die Einladung nicht länger blieben ist; man hätt sich unterdessen für ihn umsehen und ihn anderswo unterbringen können. Aber verdenken kann ich's ihm doch grad auch nicht, daß er seinen Verwandten nicht als unnützer Brotesser[255] hat hinliegen wollen, nachdem man ihn nicht zum Schaffen angenommen hat.«

»Ja«, bemerkte Magdalene, »das Sprichwort sagt: Zwei Tag ein Gast, den dritten ein Überlast.«

»Von seiner Liebschaft schreibt er gar nichts«, sagte die Sonnenwirtin. »Soviel gute Wörtlein er sonst gibt, so spricht er doch nicht mit einer Silbe davon, daß er in dem Stück nachgeben wolle.«

»Er schreibt aber, er wolle in allen Stücken gehorsam sein und nicht das geringste mehr anstellen«, entgegnete der Chirurgus. »Man kann ihn also beim Wort nehmen und ihm beweisen, daß er auch das versprochen habe.«

»Recht degenmäßig schreibt er, das muß man sagen«, bemerkte die Krämerin. »Ich hätt gar nicht glaubt, daß der Strobelkopf, der störrig, so mürb werden könnt.«

»Der hat sich in der Fremde die Hörner verstoßen«, sagte der Sonnenwirt behaglich lachend; »das sieht man jedem Wort an, das er schreibt. Jetzt weiß er nimmer, wo aus und wo ein. Ja, ja, es ist eben ein ganz anders Leben da drunten als bei uns. Die Leut sind dort viel alerter und aufgeweckter, und wenn auch bei manchem nicht viel dahinter ist, so ist's eben doch unsereinem, wie wenn er der Garnichts dagegen wär.«

»Das glaub ich«, sagte der Chirurg, »das kann solch einem trutzigen, stutzigen Schwabenkopf spanisch vorkommen.«

»Ich bin ja selbst auch schon drunten gewesen«, fuhr der Sonnenwirt fort. »Ja was! Bis unsereiner[256] sich nur besinnt, was er sagen soll, haben die dem Teufel ein Ohr weggeschwätzt. Es mag sein, daß wir im Schreiben und sonst in mancherlei Solidität mehr sind als sie, wenigstens gibt man sich bei uns in der Schul mehr Müh, aber nachher müssen wir ihnen weit nachstehen, sie sind viel zu geschwind für uns. Mein Sohn ist gewiß keiner von den Langsamen im Geist, aber ich steh dafür und kann ganz ins Feuer sehen, daß sie ihm gleich über den Kopf gewachsen sind. Und dann machen sie gar keine Umständ, wie man's bei uns macht. Sie sind eigentlich doch auch wieder fadengrad wie wir, und noch mehr als wir. Bei uns, da tut man einen Besuch jeden Tag, den er da ist, gleichsam mit dem Seilstumpen anbinden, damit er ja sieht, daß man ihn nicht fortlassen will. Mein Bruder aber, der gar kein Schwab mehr ist und in dem Klima ganz die Art angenommen hat, wie die andern auch sind, der hat wahrscheinlich ein einzigs Mal gesagt: Du bist willkommen, Vetter, und bleib, solang du magst; und dann hat der Bub natürlich bald gemeint, man sei seiner überdrüssig, weil man's ihm nicht zehn- und zwanzigmal gesagt hat. Es hätt aber nichts zu sagen gehabt, denn wenn sie einen loswerden wollen, so wissen sie schon den Schnabel aufzutun. Nun, jetzt hat er auf einmal einsehen gelernt, daß die Welt größer ist als sein Kopf, und kommt aus der Fremde wie der Schneck, wenn er die Hörner einzieht und wieder in sein Haus zurückgeht.«

»Der Herr Vater ist also der Meinung, ihn wieder anzunehmen?« fragte der Chirurg.[257]

»Was bleibt sonst übrig?« antwortete der Sonnenwirt. »Ich wüßt nicht, wo ich ihn in der Geschwindigkeit hinschicken sollt.«

»Dann kann er gleich den alten Tanz wieder anfangen«, sagte die Sonnenwirtin.

»Dafür kann man ihm tun«, entgegnete er. »Eh er nicht ausdrücklich versprochen hat, daß er sich mit der Person weder mündlich noch schriftlich mehr einlassen will, kommt er mir nicht ins Haus.«

»Ich will ihm das nach Plochingen schreiben«, erbot sich der Chirurg.

»Braucht nichts zu schreiben«, versetzte der Sonnenwirt. »Zuerst muß man ja doch mit dem Amtmann reden, daß der seiner Heimkunft keine Schwierigkeit in den Weg legt, nachdem er nun einmal die Hand in der Sach hat. Dann ist's überhaupt besser, man gibt dem Buben gar keine Antwort und läßt ihn zappeln, er wird dadurch nur um so mürber.«

»Wart, du wirst eine schöne Rechnung vom Plochinger Bärenwirt kriegen«, lachte die Sonnenwirtin.

»Ich hab ihn nicht heißen in den Plochinger Bären hinliegen.«

»Irgendwo muß er aber doch sein«, bemerkte die Frau des Chirurgen schüchtern.

»Warum ist er nicht gleich hierhergekommen?« entgegnete der Sonnenwirt. »Wenn ich ihn auch nicht ohne weiters angenommen hätt, so hätt man doch dafür sorgen können, daß er eine Weile wo unterkommen wär.«

»Mir scheint's auch das nötigste, daß man sich zuerst mit dem Amt verständigt«, sagte der Chirurg.[258]

»Das übrige wird sich finden. Er hat Verwandte hier und in der Gegend und wird nicht im Bären bleiben, denn er weiß, daß das den Herrn Vater verdrießen muß.«

»Wenn nur auch der Herr Amtmann seinen Konsens gibt«, bemerkte der Krämer, der die Notwendigkeit fühlte, im Familienrat endlich etwas, das einer eigenen Meinung glich, zu äußern.

»Es liegt ja nichts Sonderliches wider ihn vor«, versetzte der Sonnenwirt.

»Wenn's dem Herrn Vater geliebt«, sagte der Chirurg, »so bin ich erbötig, ins Amthaus mitzugehen. Ich muß nur erst einen andern Kittel anziehen, damit ich ein wenig amtsmäßiger aussehe.«

»Ja, wir wollen die Sach lieber gleich abmachen«, erwiderte der Sonnenwirt.

Als der Chirurg mit seiner Frau nach Hause ging, um sich »amtsmäßig« anzuziehen, sagte diese zu ihm: »Wenn du nichts dagegen hast, so will ich meinem Bruder nach Plochingen schreiben, will ihm auch etwas Geld schicken, daß er seine Rechnung dort zahlen kann, und will ihn nach Hattenhofen hinüber zum Vetter gehen heißen; der behält ihn schon etliche Zeit, und dort ist er auch mehr abseits, daß ihn nicht so viele Menschen sehen.«

»Tu das meinetwegen«, sagte ihr Mann.

Die beiden Männer gingen ins Amthaus und trugen dem Amtmann ihr Anliegen vor. Derselbe machte ein bedenkliches Gesicht und sagte: »Ich hätte rebus sic stantibus nichts Erhebliches dagegen einzuwenden, daß der halb und halb exilierte junge Mensch,[259] selbstverständlich unter der Bedingung künftigen Wohlverhaltens und radikal gebesserter Aufführung wie auch völliger Vermeidung aller Turbulenzen und Extravaganzen, aus dem Quasiexil in sein elterliches Haus zurückkehre; allein da ich nun einmal über seine Entlassung an das Oberamt berichtet habe, so habe ich auch über seine Wiederannahme die amtliche Entscheidung nicht mehr in der Hand. Ich will jedoch an den Herrn Vogt in Göppingen schreiben und wohldemselben vorstellen, daß der junge Mensch gleichsam als verlorner Sohn und reuiger Sünder unter die ihm von Gott verordnete Autorität sich wieder zurückfügen wolle. Vielleicht dürfen wir uns eines günstigen Bescheides versehen. Sobald solcher an mich herabgelangt, werde nicht ermangeln, davon Meldung zu erlassen.«

Nach einigen Tagen kam der Amtsknecht, um den Sonnenwirt zum Amtmann zu berufen. Der Sonnenwirt schickte nach seinem Beistand. »Der Schwager hat schon wieder geschrieben«, sagte dieser, als sie miteinander nach dem Amthause gingen. »Diesmal schreibt er aus Hattenhofen, wohin er von Plochingen gegangen ist.«

»Ich hab mir's wohl gedacht, daß er sich's nicht getrauen wird, zu Plochingen im Wirtshaus liegenzubleiben«, versetzte der Sonnenwirt lächelnd. »Was schreibt er denn?«

»Er schreibt beinahe noch lamentabler als das letztemal. Übrigens scheinen ihm unterm Warten kuriose Gedanken aufgestiegen zu sein, und er traut dem Landfrieden nicht recht; denn er schreibt im Verlauf[260] des Briefes: ›Ich glaube, der Herr Schwager wird mich nicht nur herzulocken, damit ich möchte in Arrest gesetzt werden, sondern der Herr Schwager hat's noch jederzeit redlich und getreu mit mir gemeint.‹«

Der Sonnenwirt lachte äußerst behaglich. »Er hat Angst«, sagte er, »und da wird, hoff ich, auch die Zucht Eingang bei ihm finden.«

»Gott geb's«, erwiderte der Chirurg. »Diesmal hat er auch das Datum richtig geschrieben; vielleicht ist das ein Omen, daß er auch sonst wieder in die Ordnung kommen wird.«

»Gott geb's«, sagte der Sonnenwirt.

»Nun, Sein Gutedel ist ja wieder da, Herr Sonnenwirt«, begann die Amtmännin, welche diesmal zugegen war, mit saurem Gesicht. »Der hat nicht lang gut getan.«

»Es ist bei meinem Bruder kein Platz für ihn gewesen, mit Ihrem Wohlnehmen, Frau Amtmännin. Der hat einen halbstudierten Hausknecht angenommen. Will auch sehen, was da noch draus wird. Aber was will ich jetzt machen? Es ist doch mein eigen Fleisch und Blut, das ich nicht in der Irre laufen lassen kann. Ich nehm ihn aber nicht eher an, als bis er versprochen hat, daß er die unverständige Liebschaft aufgeben will.«

»Meinetwegen«, sagte die Amtmännin. »Aber mir soll der Grobian nicht wieder ins Haus kommen, ich will mir keine Unverschämtheiten mehr von ihm machen lassen, und wenn ich nicht eine Wäsche gehabt hätte an dem Tag, wo mein Mann nach Göppingen[261] schrieb, so wäre die Sache vielleicht nicht so schnell gegangen.«

Der Sonnenwirt verlor einen guten Teil seiner Behaglichkeit beim Anblick dieser fortdauernden Ungnade der Amtmännin gegen seinen Sohn, obgleich er die Ursache dieses Grolls in seinem Herzen gebilligt hatte.

»Die Antwort vom Herrn Vogt ist angekommen«, sagte der Amtmann, der dieselbe als eine Art Schutzwaffe gegen seine Frau betrachten mochte. Er nahm den Brief zur Hand, entfaltete ihn langsam, räusperte sich mit Wichtigkeit und las, während der Sonnenwirt und sein Schwiegersohn eine ehrerbietige Haltung annahmen, mit nachdrücklicher Betonung wie folgt: »Wohledler, insonders vielgeehrter Herr Amtmann! Weilen mit einem jungen Menschen ich jedesmal viel lieber überflüssige Geduld haben als mit der äußersten Strenge fürgehen will, solang noch Hoffnung vorhanden sein kann, es werde einer in sich gehen, mithin in bessere Wege und so obrigkeitlichen als väterlichen Gehorsam zurücktreten: so will ich nicht darwider sein, daß den jungen Schwahnen sein Vater wieder auf- und annehme. Es ist aber jenem mit allem Ernst zu bedeuten, daß, so der geringste neue Fehltritt wider ihn werde herauskommen, man solchenfalls Altes und Neues zusammennehmen und wider ihn mit aller Schärfe verfahren werde. Ich verharre damit unter göttlichen Schutzes Erlassung des Herrn Amtmanns dienstwilligster« etcetera. »Also wonach sich zu achten!« fügte der Amtmann der Vorlesung bei. »Da nun meine Frau[262] Seinen Sohn nicht gerne im Hause sieht, so will ich's unterlassen, solchen zu zitieren, muß aber dem Herrn Sonnenwirt die Verpflichtung aufgeben, selbigem aufs ernstlichste einzuschärfen, unter welcher Bedingung einzig und allein ihn wieder zu admittieren beschlossen worden ist, und daß ich bei dem geringfügigsten neuen Vorfall unverweilt gegen ihn einzuschreiten mich bemüßigt sehen würde.«

Der Sonnenwirt versprach, seinem Sohn das Nötige zu sagen, sowie auch dafür zu sorgen, daß er das Amthaus meide, es wäre denn, daß er besonders vom Herrn Amtmann vorgeladen würde. Der Amtmann pries die Milde und Menschenfreundlichkeit des Vogts, wobei die Amtmännin einfließen ließ, die gutmütigsten Menschen seien gemeiniglich diejenigen, die sich nicht gern viel zu schaffen machen. Hierauf hielt der Chirurg in rednerischer Unterstützung des Sonnenwirts eine lange und wohlgesetzte Danksagung für die große Mühewaltung, welche der Herr Amtmann auf sich zu nehmen die Güte gehabt. Die Amtmännin ermahnte den Sonnenwirt, künftig den Stab Wehe zu gebrauchen, damit man von seinem Früchtlein nicht noch mehr Mühe habe. Der Sonnenwirt versprach das beste, und die beiden Männer empfahlen sich in Unterwürfigkeit.

»So, schon alles im reinen?« sagte die Sonnenwirtin, als sie Bericht über ihren Gang erstatteten. »Nun ja, da kann man jetzt gleich den Verspruch mit der Jungfer Hirschbäuerin folgen lassen.«

»Das hat gute Weg«, entgegnete der Sonnenwirt. »Wie ich gesagt hab, dabei bleibt's. Wenn der Bub[263] wieder mein Haus betreten will, so muß er zuerst heilig versprechen, daß er weder mündlich noch schriftlich mehr etwas mit ihr zu schaffen haben will.«

»Soll ich nach Hattenhofen schreiben?« fragte der Chirurg.

»Wie wär's denn?« sagte die Sonnenwirtin, die ihm zum Schabernack wenigstens eine kleine Ungemächlichkeit aufladen wollte. »Der Herr Sohn hat ja heut seinen Schabes nicht. Wie wär's, wenn Er des Schuhmachers Rappen vorspannen tät und tät sich selber nach Hattenhofen auf den Weg machen? Er kann's ja doch nicht erwarten, bis Er Sein räudig's Schaf wieder in der Kur hat. Übrigens denket an mich, ihr beide: solang man singt, ist die Kirch nicht aus. Ihr werdet's noch erleben, das ich recht behalt.«

»Ich hab ohnehin ein Geschäft draußen«, erwiderte der Chirurg, der ihr die Befriedigung nicht gönnte, daß er bloß auf ihre Veranlassung einen Weg von ein paar Stunden machen sollte. »Ich muß eine Weibsperson dort schneiden, die ein Geschwür im Munde hat. Für böse Mäuler gibt's kein probateres Mittel als unsre Instrumente.«

Der Sonnenwirt lachte und nahm sein Erbieten an, persönlich mit dem Flüchtling zu reden, ihm förmlich das von dem Vater ausbedungene Versprechen abzunehmen und ihn dann gleich aus seinem Zufluchtsorte mitzubringen.

»Du bist doch recht brav«, sagte seine Frau zu ihm, als er sich zu Hause anschickte, über Feld zu gehen.[264] »Sieh, es freut mich von ganzem Herzen, wie gut du gegen meinen Bruder bist.«

»Quod medicamenta non sanant –«, murmelte der Chirurg vor sich hin und hielt wieder inne. Dann wandte er sich zu seiner Frau: »Solang man singt, ist die Kirche nicht aus«, hat deine Mutter gesagt, »und mir hat ein Vögelein gepfiffen, sie werde wohl recht haben. Zwar, wenn dein Bruder jetzt Vernunft annimmt, so will ich ihm alles Gute gönnen und will gerne dazu geholfen haben. Aber die Kugel, die bergab geht, rollt gemeiniglich so fort ohne Aufenthalt. Ohnehin, wenn dein Vater heut stirbt, so nimmt er morgen sein Bauernmensch. Meinst du, du würdest nicht besser zu einer Sonnenwirtin taugen? Und sollt ich zum Wirtschaften nicht so gut Geschick haben als zum Rasieren? Deine Mutter ist so giftig und höhnisch, daß sie meinen Rasiertag meinen Schabes heißt. Ei, mir stände es gar wohl an, einen Ruhetag aus ihm zu machen, wenigstens was das Bartschaben betrifft.«

Er ging, und Magdalene sah ihm seufzend nach. Dieser Seufzer mochte wohl mancherlei zu bedeuten haben.

Quelle:
Hermann Kurz: Der Sonnenwirt. Kirchheim / Teck 1980, S. 250-265.
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