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[274] Bald genug sollte Friedrichs Ahnung, daß der natürliche Gang der Dinge von selbst zwischen zwei widerstreitenden Versprechen entscheiden werde, in Erfüllung gehen.

In der Stellung des dienenden Sohnes, in die er zurückgetreten, waren ihm ein paar Monate leer und trüb dahingegangen, ohne daß seine Herzensangelegenheit einen weiteren Zusammenstoß zwischen ihm und seinem Vater verursachte. Diesem genügte[274] es, seinen Sohn der herrschenden Sitte gemäß ehrlich und christlich, wie die stehende Redeweise der Zeit sich ausdrückte, erzogen zu haben, und er meinte seine ganze Verantwortlichkeit abgetan, wenn er einem Irrweg desselben die einfache Schranke des väterlichen Verbotes entgegensetzte. Er glaubte ihm weder die Gründe, durch welche ein älterer Freund die unerfahrene Jugend manchmal von einem Fehlgriff abzuhalten vermag, noch die Achtung vor der Freiheit des menschlichen Willens schuldig zu sein, der über sich selbst zu verfügen berechtigt ist, und wenn er auch den Einsatz mit dem Preise der ganzen Zukunft bezahlen müßte. Was Wunder, wenn der Sohn für dieses starre Nein, das er von Anfang an vorausgesehen, ein ebenso starres Ja in Bereitschaft hatte, dessen zeitweilige Hintanhaltung eben jenen Waffenstillständen glich, die man im Kriege nur deshalb schließt, um bei einer vorteilhaften Gelegenheit wieder losschlagen zu können. Er hielt buchstäblich Wort und vermied in dieser ganzen Zeit jedes Zusammentreffen mit Christinen. Auch besuchte er keinen Tanz, denn er wußte wohl, daß er sie nicht daselbst finden würde. »Ich will sie lieber so lang gar nicht sehen«, sagte er zu Jerg, »denn einander sehen und nichts voneinander haben, das tut viel weher; sag ihr nur, sie soll derweil fleißig an mich denken, ich werd das im Arm oder noch besser im Herzen spüren.« Er traf häufig mit ihm im Bäckerhause zusammen; das eine Mal sprach er lustig mit ihm dem Grillengifte zu und bekannte, daß er erst jetzt einsehe, wie[275] richtig er es getauft habe; das andere Mal sah man die beiden lange Zeit miteinander flüstern, wobei Christinens Bruder Nachrichten von bedenklicher Art zu bringen schien, welche Friedrich gelassen aufnahm und, nach seiner Miene zu schließen, mit ermutigenden Zusicherungen beantwortete. Die Bäckerin, die kränkelnd im Sorgenstuhle saß, beobachtete solche Unterredungen mit Kopfschütteln und sprach gegen ihren Mann die nämliche Vermutung, die der Chirurg in einem lateinischen Zitat angedeutet hatte, mit deutschen Worten aus.

Allmählich begann auch im Flecken ein neues Gemurmel umzulaufen, das zuerst von den jungen Mädchen aufgebracht und bald auch durch die Pfarrmagd vom Brunnen in den Pfarrhof überliefert wurde. Man stichelte und spottete, daß Christine nicht mehr aus dem Hause zu gehen wage, woran sie doch sehr klug tat, denn sie hatte, als sie sich zuletzt auf der Straße blicken ließ, bemerkt, daß man mit Fingern hinter ihr herdeutete. Der Fischer aber hatte niemals ein so reiches Geschenk aus der Sonne heimgetragen, als an dem Tage, wo er der Sonnenwirtin berichtete, was über die Tochter des Hirschbauers gezischelt und gemunkelt wurde.

Eines Abends kam der Bäckerjunge zu Friedrich in die ›Sonne‹ und hinterbrachte ihm heimlich, der Jerg sei im Bäckerhause und lasse ihm sagen, daß er doch gleich hinkommen möchte, denn er habe etwas Dringendes mit ihm zu reden.

»Du, 's ist Feuer im Dach«, – mit diesen Worten empfing ihn sein Geselle, als Friedrich sich zu ihm[276] setzte – »meine Schwester ist auf morgen vor Kirchenkonvent geladen.«

»Gottlob!« rief Friedrich, »jetzt kommt's doch endlich zum Treffen! Sag ihr nur, ich werd noch heut bei ihr sein.«

Er trank schnell aus und eilte nach Hause zurück. Da er seinen Vater mit Essen beschäftigt fand, so setzte er sich in eine dunkle Ecke, wo er wartete, bis derselbe fertig sein würde.

»Was hast? Was guckst? Hast Hunger?« fragte dieser, den seines Sohnes auf ihn gerichteter Blick beunruhigte.

»Nein, Vater, ich muß Euch etwas sagen und will Euch nicht überm Essen stören, weil ich weiß, daß Ihr das nicht leiden könnt.«

Der Alte, der etwas neugierig war, beschleunigte seine Mahlzeit. »Nun, was ist's?« fragte er dann vom Tische aufstehend.

Friedrich stand gleichfalls auf. »Vater«, sagte er, »ich hab Euch versprochen, mit der Christine keinen Verkehr mehr zu haben, weder schriftlich noch mündlich, und hab das auch streng gehalten bis daher. Jetzt aber ist an der Sach ein anders Trumm aufgangen, die Christine ist vor Kirchenkonvent zitiert –«

»Liederlicher Hund!« schrie der Alte und hob die Hand auf, ließ sie aber alsbald wieder sinken, da er gewahrte, daß sein Sohn, ohne einen Schritt vor dem Schlage rückwärts zu weichen, in drohender, entschlossener Haltung vor ihm stand. Es kam ihm erst jetzt klar zum Bewußtsein, daß er eigentlich[277] immer eine geheime Furcht vor ihm gehabt habe.

»Inkommodiert Euch nicht, Vater«, sagte Friedrich, »über das bin ich hinausgewachsen, und was das Schimpfen anbetrifft, so weiß ich, daß Ihr auch jung gewesen seid – Ihr werdet mich verstehen.«

»Sprichst du so mit deinem Vater?« schrie der Sonnenwirt, der wütend und zugleich in einiger Verwirrung durch die Stube hin und her lief. Seine Frau hatte ihm von ihrer ausgekundschafteten Neuigkeit nichts mitgeteilt, sei es, daß sie eine für den Stiefsohn besonders ungünstige Gelegenheit abwarten oder daß sie ihren Mann von dem amtlichen Verlauf der Sache überraschen lassen wollte.

»Mein Sprechen«, sagte Friedrich, »hat keine weitere Absicht, als daß mein Vater ein billig's Einsehen haben soll, und wenn auch nur in dem Punkt, daß ich notwendig mit dem Mädle reden muß, eh sie vor die Herren kommt, denn sonst weiß ich ja gar nicht, was sie dort aussagt.«

Der Alte hielt in seinem Toben inne. »Wenn du das Mensch dahin bringen kannst, daß sie nicht auf dich aussagt«, versetzte er, »so kannst mit ihr reden, so viel du willst. Aber das wiederhol ich dir und will dich erinnert haben, daß ich dir's schon einmal gesagt hab, glaub nur nicht, ich hätt einen Kreuzer übrig, um dir aus solchen Streichen herauszuhelfen. Find du sie ab, wie du kannst, und friß aus, was du mit ihr eingebrockt hast, – ich helf dir nicht dabei.«

»Fürs Abfinden wär ja noch mein Mütterlich's da«,[278] erwiderte Friedrich, »und so braucht ich Euch nicht zur Last zu fallen.«

»Da wird viel übrig sein«, höhnte der Alte, »wirst weit damit springen nach solchen Sprüngen, die du schon gemacht hast.«

»Ich will jetzt nicht darüber streiten«, sagte Friedrich, »ich bin zufrieden, daß Ihr mir mein Wort zurückgegeben habt und daß ich mit dem Mädle reden kann, ohne wortbrüchig zu werden.«

Er brach schnell ab, um weitere Erörterungen zu vermeiden. Als er sich entfernt hatte, erzählte der Sonnenwirt seiner Frau, die aus der Küche kam, was zwischen ihm und seinem Sohn verhandelt worden war.

»Du hast den Gaul am Schwanz aufgezäumt«, sagte sie, »daß du ihm sein Wort zurückgibst. Jetzt geht das alt Luderleben wieder an. Und dazu den Schimpf und die Schand!« – Sie wußte so gut zu lamentieren, wie er vorhin zu toben gewußt hatte.

»Er hat versprochen, das Mädle rumzubringen, daß sie nicht auf ihn aussagt«, erwiderte der Sonnenwirt.

Seine Frau trat voll Verwunderung einen Schritt zurück. Sie hatte besser von ihrem Sohne gedacht und fühlte sich durch diese Mitteilung sonderbar überrascht. »Wär's möglich?« sagte sie. »Aber sieh zu, das sind am End faule Fisch.«

»Gelogen hab ich nicht«, murmelte Friedrich bei sich, während er den lange nicht betretenen Weg zu Christinen einschlug. »Was kann ich dafür, daß mein Vater mit so schlechten Gedanken umgeht.«[279]

Es war, als ob er in ein Trauerhaus käme, als er in die Stube des Hirschbauers trat. Die Alte heulte bei seinem Anblick laut auf und fuhr sich in die Haare, als ob sie sie ausraufen wollte, und der kleine weißköpfige Bube, der sich an ihrem Rocke hielt, heulte vor Angst mit, ohne von dem Vorgang etwas zu verstehen. Der Bauer, ohnehin von Alter und Mangel erschöpft, saß ganz gebeugt und gebrochen auf einem schadhaften Stuhl am Ofen; seine beiden älteren Söhne lehnten ernsthaft, doch ohne sichtbare Betrübnis neben ihm an der Wand. Christine aber flog, gleichfalls laut weinend, dem Ankömmling entgegen. »Mein Frieder, mein Frieder!« schrie sie an seinem Halse. »Bist endlich da? Sieh, ich kann mein Elend auf keinem Berg übersehen!«

»So bleib im Tal«, erwiderte er.

»Jetzt treibt er noch sein Gespött mit uns«, sagte der Alte mit dumpfer, sinkender Stimme.

»Nein, alter Vater«, erwiderte Friedrich, indem er, Christinen um den Leib haltend, zu ihm trat und seine Hand mit Gewalt faßte, »'s ist mir jetzt eben nicht spöttisch zumut, aber ich seh nur nicht ein, was es für ein Jammer sein soll, daß ich jetzt endlich vor den Herren und vor der ganzen Gemeinde erklären kann, daß ich mich mit der Christine in allen Treuen versprochen hab und sie heiraten will. Und das sagst du morgen vor Kirchenkonvent, Christine, und gibst alles an, wie's wahr ist, und sagst unverhohlen, ich sei der Vater zu dem Kind, das du unterm Herzen trägst. Heulet doch nicht so«, wandte er sich zu der Alten, die bei diesen Worten[280] wieder in ein lautes Geschrei ausbrach, »das ist eine natürliche Sach, wer A gesagt hat, muß auch B sagen, und mich wundert's nur, daß die Leut noch so ein Zetermordio drüber verführen können, da es doch so oft und allerorten vorkommt. Es ist nur, bis das Kränzle verschmerzt ist. Sehet einmal die Kinder an, die das Kyrie nicht abgewartet haben, und vergleichet sie mit den andern, die rechtmäßig kommen sind. Ist ein Unterschied zwischen ihnen? Und macht man noch einen Unterschied zwischen einer Frau, die vor zehn, zwanzig Jahren am Mittwoch hat vor dem Altar stehen müssen, und einer, die ihr Kränzlein in Ehren, wie sie's heißen, vor den Menschen, aber vielleicht nicht vor Gott getragen hat? Wenn einmal Gras drüber gewachsen ist, so verzollt jedermann die ein für so gut wie die ander, und denkt keine mehr dran; ja, es ist schon oft genug vorkommen, daß eine, statt an ihre Vergangenheit zurückzudenken, ihre jüngeren Leidensschwestern aufs bitterste verfolgt hat, und ist noch liebloser mit ihnen umgangen, als eine, der man nichts hat vorwerfen können. So darfst du's einmal nicht machen, Christine, sonst halt ich dir einen Spiegel vor, in dem du etwas schauen kannst, was dir solch ein unchristlich's Betragen verbieten soll.«

»Er ist doch ein sündhafter Mensch«, sagte der Hirschbauer, den übrigens Friedrichs Reden sichtlich aufgerichtet hatten. Die Alte aber verharrte in ihrer Trostlosigkeit und schalt ihn heftig, daß er es mit einer so wichtigen Sache, wie das Ehrenkränzlein, so leichtfertig nehme.[281]

»Von wem hab ich das gelernt?« entgegnete er. »Bei armen Leuten freilich, die das Strafgeld nicht aufbringen können, ist's etwas Wichtig's, weil sie dann einen Schimpf auf sich nehmen müssen, der nicht so bald wieder von ihnen abgeht. Von den Vermöglicheren aber steckt die Herrschaft das Geld dafür ein, und was ich mit Geld bezahlen kann, das kann ich doch nicht so schwer nehmen. Jetzt saget selber, wer handelt und redet leichtfertig, die Herren oder ich?«

»Ja, wenn mein Kind schellenwerken müßt«, sagte der Bauer, »das tat mich vollends unter den Boden bringen.«

»Dafür bin ich noch da«, versetzte Friedrich. »Ihr werdet doch nicht glauben, solang ich noch einen Kreuzer hab, werd ich's zulassen, daß mein künftig's Weib die Straf mit dem Karren abverdienen muß.«

»Wenn Er nur auch auf Seinem Sinn bleibt!« seufzte die Alte, die sich nach und nach gleichfalls ein wenig zufrieden gab.

Er tat seine reiche Schatzkammer von Schwüren und Beteuerungen auf und spendete nicht karg daraus. Sein zuversichtliches Wesen beruhigte die Familie allmählich, wie seine Erscheinung Christinen schon längst beruhigt hatte. Ungescheut zog er sie zu sich nieder und saß am Tische, als ob er nach längerer Abwesenheit sich mit seinem Weibe auf Besuch bei den Schwiegereltern befände. Er ließ Wein kommen und steckte mit Hilfe desselben alle durch seine muntere Laune an. Der alte Hirschbauer, wenn er auch noch von Zeit zu Zeit den[282] Kopf schüttelte, ließ sich doch durch seine unbefangene Art, die Dinge anzusehen und anzufassen, einmal übers andere zum Lächeln bringen; die beiden Söhne aber, durch Friedrichs herzhaftes Auftreten ganz und gar gewonnen, erfüllten die Stube mit Gelächter über die lustigen Einfälle, die er zum besten gab. Die Bäuerin, nachdem sie den peinlichen Teil des Gesprächs einmal überstanden und hinter sich liegen hatte, suchte ihre Neugier zu befriedigen und ließ sich von seiner weiten Reise erzählen, wobei der kleine Wollkopf an seinen Lippen hing und mit aufgerissenem Munde in die zunehmende Heiterkeit einstimmte, die er so wenig begriff, als er zuvor den Jammer begriffen hatte. Christine aber lehnte sich selig, und durch kein elterliches Verbot gestört, an ihren Liebsten an; es war ihr wie ein Traum, daß er ihrer Unglücksahnung zum Trotze so bald wieder zurückgekommen und dennoch so lange für sie nicht auf der Welt gewesen war. Jetzt aber war er ihr auf einmal wie ein Stern gerade in der schwärzesten Nacht aufgegangen, und sie vergaß das Elend, das ihr vorhin so unübersehbar gedeucht hatte, vergaß, daß sie morgen vor dem geistlichen Gericht erscheinen sollte, um sich zu verantworten wegen der Missetat, die sie aus Liebe zu ihm begangen hatte.

Quelle:
Hermann Kurz: Der Sonnenwirt. Kirchheim / Teck 1980, S. 274-283.
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