28

[473] In der ersten Frühe weckte Friedrich Christinen und las ihr das Heu aus den Kleidern und aus den Haaren, wohin es da und dort unter dem Kopftuche eingedrungen war. Nachdem er mit ihrer Hilfe sein Äußeres gleichfalls etwas in Ordnung gebracht hatte, ermunterte er sie zum Fortgehen, ehe die Hausbewohner erwachten; denn, sagte er, wenn man den Leuten nachts in die Scheuer einbricht, und wär's auch nur, um ein wenig Nachtruh zu erbeuten, so hat man gleich den Kredit bei ihnen eingebüßt. Sie verließen den kleinen Weiler, der aus einigen ärmlichen Häuschen bestand, und schlugen einen schmalen Waldsteig ein. Der taufeuchte, frische Herbstmorgen machte Christinen vor Kälte zittern. Friedrich suchte einen freien Platz im Walde und hatte bald aus Reisern und dürrem Holze, das er hin und wieder abbrach, ein behagliches Feuer angemacht, neben welchem er das Weib seines Herzens auf seine Knie zog und so ihr ein bequemes Lager bereitete. »Das Frühstück«, sagte[473] er, »müssen wir uns freilich hinzudenken; ich hab vor lauter Eifer und Heimweh nach dir vergessen, für Mundvorrat zu sorgen.« Sie versicherte, sie sei nicht hungrig, und auch er meinte, er habe sich in Sachsenhausen hinlänglich herausgegessen, um jetzt ein wenig fasten zu können.

»Laß dich einmal besehen«, sagte sie, aufschauend und munter werdend. »Siehst ja ganz proper aus, man sollt dich für 'n zünftigen Meister in irgendeinem Handwerk halten, das sein' goldenen Boden hat. Mußt die schönen Kleider schonen und nicht in Scheuern übernachten.«

»Das kommt anders«, versetzte er, »wenn wir einmal zum Land draußen sind.«

»Und recht mannhaft bist worden«, fuhr sie fort. »Hast ein gut's Gestell, so postiert und voll und dabei doch nicht zu breit. Dem Gesicht freilich sieht man an, daß manches drüberhin gangen ist wie ein schwerer Pflug. Man sollt dich für viel älter halten, als du bist. Wenn ich nicht wüßt, daß du kaum über siebenundzwanzig sein kannst, ich tät dich mindestens auf sechsunddreißig schätzen. Schad ist's, daß du oft auf einmal ein bißle wild und bös aussehen kannst, so daß man sich schier fürchten könnt. Aber ich darf freilich gar nichts sagen. Sieh mich an, was ich alt worden bin. Ach, ich muß oft denken, du könnest an meinen Runzeln keinen großen Gefallen mehr haben.«

Er hatte sie bereits betrachtet und in der Stille die Veränderungen wahrgenommen, die Zeit und Schicksal an ihr hervorgebracht hatten. Nicht eben Runzeln,[474] aber hart eingegrabene Furchen zogen sich unter dem nicht mehr so weichen und hellgelben Scheitel quer über die Stirne, und eine senkte sich wie ein tiefer Einschnitt zwischen den Augen hinab. Doch lag in diesen Spuren nicht die eigentliche Verwüstung, die in dem einst so freundlichen Gesichte vorgegangen war. Auch sah es an sich selbst nicht auffallend gealtert aus, und in den treugebliebenen Zügen hatte keine häßliche Entstellung, wie sie oft mit den Jahren kommt, ihren Wohnsitz aufgeschlagen; aber die jugendliche Frische, die lieblich malende Zuversicht und Lebenslust war aus ihnen verschwunden und hatte sie verwandelt hinterlassen, wie das Morgenlicht, wenn es von einer Landschaft Abschied nimmt, dieselbe Gegend zwar in unveränderter Gestalt, aber arm, nüchtern und verkümmert hinterläßt.

»Du bist die Mutter meiner Kinder«, sagte er, »kannst nicht ewig jung bleiben. Diese Furchen sind mein Werk, denn du hast viel um mich leiden müssen; aber du siehst nicht so alt aus, wie du meinst, und wenn du einmal eine glückliche Hausmutter bist, so wirst du wieder jünger werden.«

»Gott geb's«, erwiderte sie, »denn so wie ich jetzt bin, bin ich doch zu alt für dich. – Ach, wenn ich dran denk, wie der Friederle auf die Welt kommen ist, 's sind jetzt bald sechs Jahr, wie bin ich damals in einem Umsehen so elend und wieder so reich gewesen! Wie ich gemerkt hab, daß mein Stündle kommen will, hab ich meinem Jammer kein End gewußt, bin allein auf der Bühne gelegen, mein[475] Mutter hat gesagt, sie könn vom kranken Vater nicht weg, und mein Jerg hat sich verdingt gehabt nach Faurndau zum Dreschen. Über einmal hör ich auf'm Stiegle 'n Mannstritt, so gibt's bloß ein' auf der Welt, und wer kommt mir vors Bett und nimmt mich in Arm, während ich ihn im Zuchthaus gemeint hab? Und wie du mir die Hebamm hast geholt und die eine Kraftbrüh für mich verlangt hat, weil's hart gehen werd und ich so von Kräften sei, weißt noch? da hat mein arm's Lämmle dran glauben müssen, mit dem unsere Bekanntschaft angefangen hat. Ich hab nicht einmal um das Tierle weinen können, und du hast recht prophezeit gehabt, es werd eine Zeit kommen, wo mir etwas anders mehr am Herzen lieg. Und hart ist's auch gangen, ich will's nicht vergessen, aber wie's geheißen hat: ›Vater, hier ist dein Sohn!‹ ach Frieder, was ist das eine Seligkeit gewesen! Und nachher ist die Kathrine kommen und hat gesagt, sie sei jetzt mit einem wackeren Mann versprochen und mach sich nichts mehr aus der Amtmännin ihrem Zorn, und hat mich treulich gepflegt –«

»Ja«, sagte er, »darum hab ich auch ruhig wieder in mein Ludwigsburger Heimwesen zurückkehren können. Aber heut noch reut's mich, daß ich mich in Göppingen gestellt hab! Berichtet der Vogt nach Ludwigsburg, er habe den mittels Ausbruchs echappierten Gefangenen wiederum gefänglich zur Hand gebracht und schicke ihn hier wieder ein. Ausgebrochen war ich allerdings, das ist wahr, denn man hat mir keine Brücke gebaut; aber daß ich mich[476] freiwillig bei ihm gestellt hab, davon hat er kein Wort geschrieben, sondern hat die Ehr allein haben wollen. So ein Vogt! was bild't sich der ein! es gibt auch Bettelvögte. Deswegen hab ich mich nach meinem zweiten Ausflug nicht mehr bei ihm, sondern unmittelbar in Ludwigsburg beim Kammerrat selbst gestellt. Der ist zwar rauhbauzig, wie man's von einem Zuchthausverwalter nicht anders erwarten kann, aber er hat doch gelacht und hat mir nun auch für meine frühere Versicherung Glauben geschenkt, so daß mir weiter nichts geschehen ist, als daß ich eben die paar Tag länger hab sitzen müssen.«

»Dein zweiter Besuch«, versetzte sie, »ach, der ist traurig gewesen.«

»Ja«, sagte er, »schon wie ich das Tal heraufkommen bin, bei Reichenbach, ich weiß nicht, ob du's einmal bemerkt hast, da ist in den Anhöhen eine Lücke, durch die der Staufen hereinschaut, und der hat damals so grau und trüb ausgesehen, daß ich gedenkt hab: ›Alter, bist auch traurig und hast mir eine Trauermär zu verkünden?‹ Wie ich aber nach Ebersbach kommen bin, hab ich deinen Vater wenigstens noch am Leben gefunden, und das wird mir wohltun, so lang ich leb. Christine! Respekt vor dem Mann! Der ist gestorben wie ein Patriarch! Er ist sein Leben lang in Armut und Demut und im Staub dahergegangen und hat selber nicht gewußt, was in ihm steckt, aber in der Todesstunde ist ihm der Geist mächtig auf die Zunge getreten.«

»Weißt noch, wie er uns gesegnet hat«, rief sie,[477] »und dich absonderlich, weil dein Will vor Gott gut sei und dein Herz aufrichtig, und wie er dir alles vergeben hat, was ihm Leids durch dich geschehen ist?«

»Und dann seine letzten Worte!« rief er. »Wo hat man vom alten Pfarrer, der zu gleicher Zeit mit ihm gestorben ist, je etwas Ähnliches gehört! Und vollends vom jetzigen? Ja, wenn er nur ein einzigmal aus seinem Mund einen Hauch hätte gehen lassen von jenem Geist, ich hätte ihn und seinen Kelch und seine Hostien ungekränkt gelassen!«

»›Nicht bloß im Sonnenwirtshaus‹« – so versuchte Christine aus der Erinnerung nachzusprechen – »›auch unter der großen Weltsonn ist nicht alles, wie es sein sollt, und Gottes unerforschlicher Ratschluß läßt es zu, daß sein Will auf Erden nicht geschieht. Neid und Stolz regiert die Welt, und das Gericht wird hereinbrechen –‹«

»›Sie nennen sich seine Kinder‹« – unterbrach er sie, um die Erinnerung voller wiederzugeben – »›und sind doch nicht Brüder und Schwestern untereinander. Neid und Gewalt, Stolz und Habsucht regiert die Welt, und Gottes Ebenbild wird in der Armut unterdrückt. Die Welt liegt im argen, und ihr Maß steigt auf bis zum Rand, und unversehens wird ein Gericht hereinbrechen, das den Unschuldigen samt dem Schuldigen trifft, wie zur Zeit der großen Flut, wo der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar‹.«

»›Ich aber‹« – fiel Christine mit den Schlußworten[478] ihres Vaters ein – »›ich fahr in meiner Arch, die mir der Schreiner zimmert, nach meinem Berg Ararat zu meinem Vater und zu eurem Vater und will schauen, was jetzt dunkel und verborgen ist, und will ihm sagen: Vater, segne, die hie nach mir bleiben, und führ sie endlich einmal sänfter, wenn dir's möglich ist, und laß sie deinen Frieden schmecken.‹ – Er hat das Wort nicht mehr ganz ausgesagt, fügte sie hinzu, ist zurückgesunken und entschlafen.«

Eine übermächtige Rührung überkam das so vieler Verwilderung preisgegebene Gemüt des Mannes, der sich nicht gescheut hatte, heilig gehaltene Geräte des Gottes, zu dem er betete, anzutasten. Er ließ sein Weib zur Erde gleiten, erhob sich in die Knie und rief, die Arme gegen den blauer werdenden Morgenhimmel ausgebreitet, unter strömenden Tränen: »Himmlischer Vater, gib uns deinen Segen um jenes Gerechten willen! Du bist ja mit den unvernünftigen Geschöpfen, die unter deiner Sonne wimmeln, und gibst ihnen Nahrung und Kleidung auf ihre Zeit. Trag und erhalt auch uns, die wir deine Kinder sind, und gib uns unser Brot, uns und unsern armen Kleinen. Führ uns aus diesem Land, wo Vater und Mutter hart sind, in ein milderes, das du uns verheißen mögest, laß uns vor dir wandeln und behüte uns, daß wir nicht mehr in Anfechtung fallen.«

Christine kniete neben ihm und schluchzte laut. Nachdem er geendet hatte, blieben beide noch lange auf den Knien liegen. Das Feuer sank allmählich in[479] Kohlen und Asche zusammen, und durch die Gipfel der Bäume lächelte das Gestirn des Tages, das Wärme und Leben bringend über den Bergen aufgegangen war.

»Jetzt komm, Christine, wollen aufbrechen, die Sonne ist herauf, und die Kälte läßt nach«, sagte Friedrich, ihr Bündel ergreifend. Sie zogen schweigend und voll Gedanken durch die Wälder hin, die vom Fuße der Alb zwischen dem Neckar- und Filstal in das Land hineinlaufen. Hie und da führte der Pfad an einem einsamen Hofe vorüber, schlängelte sich aber gleich wieder dem Walde zu. In einem dieser abgelegenen Gehöfte wagten sie sich mit gestandener (saurer) Milch und etwas Schwarzbrot zu erquicken, hielten sich aber, da sie von den Leuten mißtrauisch angesehen wurden, nicht lange auf. Als sie wieder auf der Wanderschaft waren, sagte er endlich: »Jetzt ist das Erzählen an dir, Christine.«

»Das ist kurz beieinander«, versetzte sie, »mir ist nicht so viel vorkommen wie dir. Nach deiner Gefangennehmung, wo du nach Hohentwiel kommen bist, hat man mich auch ein wenig eintürmt.«

»Aber nichts auf dich bringen können, das weiß ich schon von deiner Mutter.«

»Nachher ist's eben wieder das alt Lied gewesen. Sie haben mich vor Kirchenkonvent zitiert und haben mich gefragt, wer der Vater zu dem Kind sei, mit dem ich geh.«

»Dann hast du gesagt, dein Mann?«

»Durch solche Reden hätt ich sie nur noch mehr[480] wider mich in Harnisch bracht, und 's ist mir so schon schlecht g'nug gangen. Mein Jerg, das muß ich ihm nachsagen, hat wie ein Vater an mir gehandelt; er hat immer gegen mein Mutter gesagt, wenn du da wärst, so wär's dein Sach, für mich zu sorgen, aber wenn einer lebendig begraben sei, so könn man ihm nichts mehr zumuten. Das Wasser ist ihm aber selber oft bis an Hals gangen, und dann ist er oft fort gewesen, um sein Brot auswärts zu suchen. Ich hab vor Kirchenkonvent kaum stehen können, so schwach ist mir's gewesen. Der Schütz hat mich nachher mitgenommen, und er und sein Weib haben mir ein bißle zu essen geben; ich hab's auch angenommen, denn ich hab vielmals denkt, ich werd das Kind nicht lebig zur Welt bringen.«

»Er ist ein versoffener Lump«, sagte Friedrich, »aber er ist doch besser als mancher, der in der Tugend und in der Wolle sitzt. Wie's dem Armen zumut ist, das begreift doch nur wieder der Arme, aber eben darum können sie einander nicht viel helfen. Ich glaub, der Schlucker hat ein paar unerzogene Kinder.«

»Viere!« sagte Christine. »Er hat aber gesagt, du habest ihm hie und da einen Schoppen eingeschenkt, und das werd er dir gedenken. Die Herren haben mir nichts geben als böse Wort. Sie haben mir bedeutet, ich dürf mich nicht aus dem Flecken entfernen, weil die Sach ans löbliche Oberamt berichtet werden müss', von wegen deines bösen Lebens. Dort sind sie auch bald mit mir fertig gewesen. Ich hab mein Kind vor dürfen zur Welt bringen und ein[481] paar Wochen pflegen, und dann hab ich eben ins Zuchthaus wandern müssen.«

»Auf zwei Jahr!«

»Nein, denk nur, auf unbestimmte Zeit, bis die Aufseherin mir das Zeugnis geben hat, ich sei jetzt so, daß man mich entlassen könn, und das ist bloß daher kommen, daß ich gehört hab, du seiest von Hohentwiel ausgeflogen, denn unartig bin ich zwar nie gegen sie gewesen, aber immer still, bis die Freud über mich reinbrochen ist, und dann hab ich ihr alles getan, was ich ihr an den Augen abgesehen hab, und zuletzt ist sie für mich gut gestanden, daß man mich hat springen lassen, weil ich jetzt ganz bessert sei.«

»Die Art gefällt mir erst noch«, bemerkte er. »Würd im Zuchthaus immer väterlich und mütterlich regiert, so daß das Haus seinen Namen verdiente und die Leute darin zur Zucht gebracht würden, so wär's das beste, sie auf unbestimmte Zeit hineinzutun, bis der Zuchtvater oder die Zuchtmutter sie wieder freisprechen würden, und bekäm das vielleicht manchem gut, der jetzt andere zum Zuchthaus verdammt. Und dann möcht man einen, der nicht gut tut, meinetwegen auf lebenslänglich drin lassen; nur weiß ich keinen Menschen, dem ich ein solches Urteil anvertrauen möchte, als höchstens meinem seligen Waisenpfarrer. Aber die gewöhnliche Art von Zuchthausstrafen – für das und das Vergehen soundsoviel Wochen oder Monate oder Jahre – das kommt mir immer vor wie ein Schneider, der einem soundsoviel Ellen zu seiner leiblichen[482] Länge anmißt, oder auch, weil ich grad vom Wirtschaften herkomm, wie ein Speiszettel: Kalbsbraten tut soundsoviel, Hammelsbraten soundsoviel, Schweinsbraten soundsoviel, Wein, Nachtlager, Mittag-, Abendessen und Frühstück, alles zusammen einen Gulden und dreißig Kreuzer. Dann gibt's auch wieder gelindere Richter, die machen's wie ein sanftmütiger Wirt, der den Gast nicht mit einer runden Summe erschrecken will und statt des Guldens bloß neunundfünfzig Kreuzerle sagt. Bei einem Wirt ist das schon recht, und er mag zusehen, wie er eins ins andere rechnet und fertig wird, aber die Rechnung in Jahren, Monaten und Wochen nicht am Beutel, sondern an der lebendigen Seele eines Menschen ausgemessen – das ist eine Vermessenheit, und kann ich weder Sinn noch Verstand drin finden.«

»Wie ich wieder aus'm Zuchthaus kommen bin«, fuhr Christine fort, »hab ich gehört, du seiest dagewesen, aber seiest wieder fort in die weit Welt. In der ›Sonn‹ hat man nicht davon geschnauft, wo du bist Ich hab selber einmal angefragt, da hat mir die Sonnenwirtin ein Stückle Brot hingelegt und hat gesagt, du seiest ganz verschollen, und 's tät für mich und alle das best sein, du bliebest's auch. Ich hab das Brot liegen lassen und bin fort. Mein Jerg ist grad dazumal nicht zu Haus gewesen, und mein Mutter hat mich nicht behalten wollen, weil ich ihr eine unnütze Brotesserin sei, wiewohl sie eigentlich uns ihr Brot verdankt, denn sie ißt's eben mit unseren Kindern, die man ihr in Verpflegung geben hat.«[483]

»Aus dem Heiligen?«

»Nein, so spendabel ist der Heilig nicht. Da hat's geheißen: ›Herr Sonnenwirt, Er ist ein reicher Mann, und die Kommun kann da nicht eintreten, also zahlt Er das Kostgeld für Seine Enkel‹.«

»Ist wahr, er hat mir einmal geklagt, die Kinder kosten ihn so viel Geld, und deswegen könne er das Geld zur Auswanderung nicht so geschwind aufbringen.«

»Solang mein Jerg dagewesen ist, hat's den Kindern an nichts gefehlt, seit der aber mehr und mehr fort ist, hat man anders für sie sorgen müssen. Wie nun mein Mutter mir hat zu verstehen geben, daß ich ihr überlästig sei, hab ich meine Kinder mit tausend Schmerzen küßt und hab das Herz in beide Händ genommen und bin nach Denzlingen gangen zur Schulmeisterin. Die ist zum Glück grad in der größten Verlegenheit gewesen und hat gesagt, ich hätt ihr nicht geschickter kommen können, sie hab eben eine Magd aus'm Dienst gejagt, die ihr gestohlen hab. Drauf hat sie zu ihrem Mann gesagt: ›Sieh, mit der äußerlichen Frömmigkeit sind wir angeführt gewesen, jetzt folg mir und hilf mir's auch einmal mit dem Weltkind da probieren; die ist kein Heilige und hat viel durchgemacht, aber vielleicht wird ihr auch viel verziehen, und ehrlich ist sie auf alle Fäll.‹ Er ist's dann zufrieden gewesen. Ob sie ihm alles von mir gesagt hat, weiß ich nicht, es ist nie zwischen uns die Red davon gewesen, aber ich hab in dem Haus gelebt wie im Paradies. Die Leut sind fromm, nicht bloß mit Morgen- und[484] Abendsegenlesen, sondern reden auch den ganzen Tag von frommen Sachen, wie's eben das Geschäft erlaubt, denn darin versäumen sie nichts; aber – ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll – in ihrem Christentum ist so etwas Gegenwärtig's, das nicht bloß hoch im Himmel droben oder weit fort im jüdischen Land, sondern mitten in Denzlingen drin ist und immer dem heutigen Tag und der jetzigen Stund gilt, ganz anders als man's sonst in der Kirch und im Leben trifft. Und grad so sind des Pfarrers auch, drum halten sie auch zusammen, wie man's selten bei Pfarrer und Schulmeister find't. Dabei sind sie allweil guter Ding und oft sogar recht lustig und zum Lachen aufgelegt, besonders der Pfarrer macht gern allerlei Späßle, und der Schulmeister antwortet ihm drauf, lassen sich auch nichts abgehen, wiewohl sie gar nicht dick tun und ihr Sach reichlich mit der Armut teilen. Aber freilich, sie haben's auch, und wer bei ihnen ist, wird alle Tage satt. Ich hab oft nachts vorm Einschlafen dran denken müssen, wie mir's so gut geht, und wo du jetzt auch umirren werdest, und ob meine arme Kinderle satt ins Bett gangen seien, denn ich sag dir's ungern, aber 's ist hohe Zeit, daß wir nach ihnen sehen: meiner Mutter ist das Tischtuch lieber als das Hungertuch, sie hat zwar nie viel gehabt, aber je ärmer sie wird, desto schleckiger ist sie, sie verschleckt alles, was sie kann.«

»Das muß aufhören«, sagte er. »Heut abend sind die Kinder da, wo sie hingehören: bei uns. Jetzt ist[485] nur noch die Frage, wie ich mich mit meinem Vater auseinandersetzen soll. Seine Antwort hat mich wenig kümmert, ich hab vorher mit dir einig sein wollen. Hättest du jetzt eher Lust, aus deinem Paradies heraus mit mir nach Pennsylvanien zu gehen?«

»In den Mond, wenn's nicht anders sein kann«, erwiderte sie. »Die Hauptsach ist, daß wir beieinander sind, wir und die Kinder, drum hat's mir auch kein' Augenblick zweifelt, was ich tun soll. Aber hör, wenn's dein Vetter so gut mit dir meint, wie du sagst, könnten wir denn nicht bei dem ein Plätzle finden, oder tät er uns nicht zu einem verhelfen, daß wir nicht so weit fliegen müssen und unterwegs vielleicht die Flügel verstauchen?«

»Ja sieh«, antwortete er, »der Vetter hat's freilich gut mit mir vor, aber Welt ist überall Welt, er sieht auch aufs Greifbare und fragt nicht danach, ob's Motten und Rost fressen. Darum hätt ich ihm nicht meine ganze Absicht anvertrauen mögen, weil er mir mit einem einzigen Wort dazwischen hätt fahren können. Wenn ich aber mit dir und den Kindern da bin, so kann er auf keinen Fall verlangen, daß ich euch wieder heimschicken soll; und wenn alle Sträng brechen, nun, dann ziehen wir eben weiter, bringen uns im Krieg mit Marketendern fort oder gehen übers Meer.«

Sie sah ihn zweifelhaft an und schwieg, aber der heitere Schimmer von Hoffnung, der ihr Antlitz neu zu beleben begonnen hatte, wich allmählich wieder aus ihm, und jener Zug leidender Geduld und[486] Entsagung, der den Frauen aus dem Volke einen so mitleiderregenden Gesichtsausdruck geben kann, nahm seine alte Stelle ein.

Der Wald öffnete sich, und vor den beiden Wanderern lag die Alb, an deren Fuße sich eine schmale Straße hinzog. »Wollen uns dem Bergsträßle da anvertrauen«, sagte er. Sie taten es, indem sie die Ortschaften, die ihnen in den Weg kamen, auf den durch die Felder führenden Fußpfaden umgingen. Die Sonne begann für einen Herbsttag ungewöhnlich heiß zu brennen, und ihre scheitelrechte Stellung zeigte den Mittag an. »Ich wollt, ich hätt was zu trinken«, seufzte Friedrich, »und wär's auch nur ein Schoppen Most oder Äppelwein, wie sie am Main drunten sagen.«

»Und mir tät ein Löffele Warm's noch nöter«, seufzte Christine ebenfalls.

»Gelt, arm's Weible«, sagte er, »dir ist's ungewohnt, mit langem kalten Magen zu wandern? Da hast Geld, geh du in das Ort da hinein und laß dir eine Suppe geben, kannst mir dann etwas zu trinken und ein Brot dazu herausbringen, das genügt für mich. Das Geld, das ich mir in dem halben Jahr zu Sachsenhausen erspart hab, muß für uns und die Kinder reichen. Ich will mich derweil unter den Baum in Schatten legen.«

»Meinst, es hab kein Gefahr«, fragte sie.

»Ich kenn mich so weit in der Gegend aus«, erwiderte er, »daß der Berg da über uns die Teck ist. Da herum sind wir ja ganz unbekannt. Du siehst aus, wie wenn du aus der Nachbarschaft wärst, und[487] wenn ich in meiner städtischen Tracht zurückbleibe, so fällst du niemand auf.«

Er gab ihr Geld und seine leere Feldflasche und streckte sich bequem unter dem Baum aus, indem er sein dreieckiges Hütchen neben sich legte. In diesem Augenblicke kam ein Mann vorüber, der den gleichen Weg mit ihnen zu haben schien. Er blickte das fremde Paar mißtrauisch an und mäßigte seinen Gang, so daß er Christinen, die jetzt auf das Dorf vor ihnen zuschritt, immer auf dem Fuße folgte. Friedrich sah nach, und die Begegnung wollte ihm nicht recht gefallen; doch schien sie auch keine ernste Besorgnis einflößen zu können. Seine Augen begleiteten Christinen, bis sie in dem Dorfe verschwunden war: auch ihren Nachfolger verdeckten jetzt die Häuser. Er legte sich auf den Rücken zurück, sah in das falbe Laub und durch dieses zum blauen Himmel empor. Dabei vergegenwärtigte er sich, wie Christine auf ihre Suppe wartete, wie sie dann dieselbe empfing und wie sie sich endlich mit der gefüllten Flasche auf den Weg machte. Jetzt mußte sie wieder an den äußersten Häusern erscheinen: er sah hin, aber er hatte die Zeit zu kurz gemessen und sich verrechnet. Er legte sich wieder zurück und wartete geduldig; er hatte ja das Warten gelernt; aber endlich deuchte es ihm doch ziemlich lang. Er sah wieder hin: sie kam noch nicht. Nun zählte er bis auf eine bestimmte Zahl, die er sich vornahm, und da er zu schnell gezählt zu haben glaubte, so wiederholte er dieses Geduldspiel ein paarmal, jedoch umsonst. Endlich zählte er ununterbrochen[488] und langsam, wie er meinte, bis auf hundert fort: Christine kam nicht. Jetzt begann es ihm unheimlich zu werden. Er stand auf und ging sachte auf das Dorf zu. Schon war er in die Nähe desselben gelangt, als er eine beträchtliche Menge bewaffneter Mannschaft, welche bei der Unsicherheit der Zeit in jeder Gemeinde schnell auf den Beinen war, herausdringen sah. Die einen waren mit Flinten, die anderen mit Spießen oder Prügeln versehen, und ihre Blicke ließen ihn nicht im Zweifel, wem dieser Ausfall gelte. Während sie sich rasch gegen ihn in Bewegung setzten, entsprang er in das Feld. Sie verteilten sich und suchten ihn einzukreisen, aber seine Schnellfüßigkeit hatte ihn bald in dem Dickicht des Waldes am Teckberge ihrer Verfolgung entzogen. Er schlug sich die Kreuz und Quere durch das Holz, bis er von einer sicheren Stelle auf den Boden, den er hatte räumen müssen, hinunterspähen konnte. Nicht lange, so sah er jenseits des Dorfes Bewaffnete, die ein Weib in der von ihm und Christinen beabsichtigten Richtung in ihrer Mitte führten. Er konnte nicht zweifeln, daß sie es sei, und konnte sich's ausmalen, wie der Mann, dem sie begegnet, die Anzeige gemacht hatte, sie gehöre zu einem verdächtigen Kerl, der sich nicht ins Dorf hereintraue. Seinen Namen hatte sie gewiß nicht angegeben, aber ohne Zweifel ihre Heimat, und wurde jetzt bis nach Göppingen von einer Streifmannschaft der anderen übergeben.

Er knirschte, biß sich in die Finger, daß seine Zähne blutige Spuren hinterließen, und blickte anklagend[489] gen Himmel. »Also keine Ruh, keinen Frieden!« rief er, »wiederum hast du mich in die Wüste geworfen!« Dann machte er in Gedanken auch Christinen Vorwürfe, daß sie so ungeschickt gewesen sei, sich fangen zu lassen. Endlich schüttelte er sich unmutig, als ob er alle Gemütsbewegungen, mit welchen er sich vergebens peinigte, zu Boden werfen wollte. Mit einer gewaltsamen Kraft arbeitete er sich durch die Gebirgswälder hindurch, und das Gestrüpp krachte unter seinen Händen und Füßen, bis er endlich, halb erschöpft, abgelegene Pfade einzuschlagen wagte, die ihn in weiten Krümmungen seinem Ziele näher führten.

Der Tag hatte sich tief geneigt, als er auf diesen verborgenen Umwegen, todmüde vor Hunger und Anstrengung, auf einer vorspringenden Höhe herauskam und unter sich in der Breite des Tales die Stadt liegen sah, von wo aus er so oft in die Gefangenschaft gesendet worden war und wo nun auch Christine abermals ihr Schicksal erwarten sollte. Ihr freundlicher Anblick stimmte schlecht zu der Unglücksbedeutung, die sie für ihn und die Genossin seines irren Lebens angenommen hatte. Seine Blicke, von Erschöpfung verschleiert, schweiften unstät in die dämmernde Landschaft hinaus. Plötzlich taumelte er zurück, von einem Schreck ergriffen, der ihm das Blut in den Adern stocken machte. Was war es, das ihm vor die Augen getreten war? Es sah aus wie der Schatten eines aufgehobenen Riesenfingers. Mit einer wilden Aufraffung kämpfte er den Schrecken nieder, rieb sich die Augen aus und[490] sagte laut und zornig, während ihm doch die Stimme bebte, vor sich hin: »Dummes Zeug, es ist ja nichts als der Staufen.«

Der wunderschlanke Berg war ihm einen Augenblick zum Schreckgespenst geworden. Auch mit ihm glaubte er in seinem anklägerischen Wahne rechten zu dürfen. »Was willst du mich warnen?« fragte er; »bin ich denn auf bösen Wegen? Ich will ja nur bei meinem Weib und meinen Kindern sein!«

Er lachte verächtlich. »Ist just die rechte Zeit zum Gespenstersehen«, sagte er. »Gespenster hätten jetzt gute Gelegenheit, mir Gesellschaft zu leisten. Nur herzu, wenn's beliebt.«

Er warf sich zu Boden und rang mit der Empörung seiner Pulse und seiner Gedanken, bis endlich ein später Schlaf sich des gehetzten Wildes erbarmte.

Quelle:
Hermann Kurz: Der Sonnenwirt. Kirchheim / Teck 1980, S. 473-491.
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