Hundert und zweyter Brief

Rosalia an Mariane S**.

[115] O meine Liebe! wie viel verborgenes Weh, und was für gehäßige, einem wohlwollenden Herzen unglaubliche Art Menschen wohnen mit und neben uns auf der guten Erde; Gott sey Dank! daß es gewiß eben o viel unbekannte Freuden und Tugenden giebt, die den Himmel wieder aussöhnen, und uns vor einer neuen allgemeinen Verwüstung bewahren; dieser Anfang meines Briefs muß ihnen sonderbar scheinen; aber, wenn Sie nun das Uebrige von Herrn Lattens Schreiben werden gelesen haben, und Da Sie mich kennen, so wird es[115] Sie ganz natürlich dünken, daß ich in diesen Ton gerathen bin. Herr Latten fährt fort:

»Nachdem ich etwas über fünf Monate da gewesen, wurde ich krank und mußte mein Zimmer hüten; konnte aber dabey herumgehen und schreiben; ich ging manchmal an mein Fenster, um mich des Morgens an der schönen Aussicht zu erquicken, da sah ich den zweyten Tag einen Hügel herunter, eine liebenswürdige Gestalt langsam gegen die zerfallene Schloßtreppe gehen, an einem Stocke heruntersteigen und auf dem Kirchhof, zwischen den Gräbern hin, an den abgesonderten Platz schleichen, wo die sogenannten armen Sünder verscharrt werden. Sie setzte sich auf den Absatz der Mauer, (ich hatte mich gleich Anfangs zurückgezogen, um sie, von ihr ungesehen, zu beobachten) lehnte ihren Stock neben sich, faltete ihre Hände, streckte sie mit einer Art von ringender Bewegung auf einem ihrer Kniee aus, senkte mit kummervoller Anmuth ihren Oberleib und Kopf gegen diese Seite, und schien den Platz eines elenden Grabhügels zu betrachten; sah von Zeit zu Zeit gen Himmel und mit sanfter Wendung des Hauptes auf dem Kirchhof umher; weinte, betete, brach Blumen von dem[116] Grabe und ging endlich matt und schwankend den Weg zurück, den sie gekommen war. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, weil mein Zimmer zu hoch von dem Kirchhof abstund; aber, sie däuchte mich jung, schön und nach Kleidung und Gang von der besten Erziehung zu seyn. Für mich hatte sie etwas so Anziehendes in ihrem ganzen Wesen, daß ich lange nicht von meinem Fenster und von der Betrachtung des Platzes kommen konnte, wo ich sie gesehen hatte. Ich vertiefte mich mit in den Kummer, der sie zu den Gräbern geführt hatte. Aber der Platz, den sie gewählt, und wo sie Blumen gepflückt hatte, war das, was mich beynahe am meisten staunen machte. Ich hielt mich nun öfter an meinem Fenster auf, und sah in den folgenden Tagen wohl tausendmal nach dem Wege, den ich sie von der Anhöhe her hatte kommen gesehen. Es verflossen wohl acht Tage, ehe ich sie wieder erblickte. Da saß sie auf einer der obersten Stufen der Treppe mit einer Bauerfrau, die ein Kind von einem Jahr auf dem Schooße hatte, welches die junge Person streichelte und küßte; aber auch dazwischen weinte; der Bauerfrau die Hände drückte; ihre eine Achsel mit ihren Händen[117] faßte und dann eine Zeitlang ihren Kopf auf sie lehnte. Die Bauerfrau weinte mit, suchte sie aber zu trösten und wie mich däuchte, so versicherte sie sie mit dem redlichen Herzen, das in ihrer einfachen Bildung lag, daß sie sie und ihr Kind treulich liebe, und fort lieben wolle. Sie nahm darauf das Kind selbst und drückte es mit beyden Armen an ihre Brust; während ihre Augen starr und sehnend gen Himmel erhoben waren. Ich hatte sie durch mein Fernglas betrachtet. Ihre Gesichtszüge waren fein, ausdrucksvoll, äusserst weiß große blaue Augen, schöne Haare, schönen Mund, abgezehrte Arme und auf den Wangen war die carmoisin Röthe, die bey jungen abzehrenden Leuten sich immer einfindet. Ich vermuthete nun, daß sie auf eine unglückliche Weise Mutter geworden, von ihrer Familie gestraft, von dem Verführer verlassen, und durch Reue und Elend ihrem frühen Tode entgegen geführt werde. Ihre Kleidung war reinlich, passend aber armselig, so wie auch des Kindes seine umhängende Läpchen zu seyn schienen. Aber seine ganze Gestalt war Schönheit des Kindes der Liebe, und sehr munter in allen seinen Bewegungen.[118]

Dieses unschuldige Geschöpf, so voller Leben und Anlage zur Freude aus dem Schooße der Natur in den hinfälligen Armen seiner jungen und seines Daseyns willen kraftlosen Mutter, sein Schicksal nicht ahnend, nichts von dem zerreissenden Jammer des Herzens fühlend, unter dem es Geist und Kräfte eingesogen hatte, die ringsum reich tragende Gegend, und die zerfallenen Schloßmauren, der Kirchhof, alles, vielleicht die damalige Schwäche meines eigenen Körpers brachte mich zu wehmüthigen Gedanken, über das menschliche Elend, und die so nah dabey liegenden Freuden, daß ich herzliche Thränen vergoß, und mir dabey vornahm mich nach der Person zu erkundigen, die mir arm schien, und auch Sorge für das Kind zu tragen.

Ich fragte den jungen Beamten, der mich alle Abend besuchte, nach der Person, die mit auf dem Kirchhofe, und der alten Schloßtreppe erschienen war? Sie ist die Wittwe eines jungen Strassenräubers, der bey einem Angriffe im benachbarten Walde geblieben, und auf den Armen-Sünderplatz begraben wurde. Gott! was für ein Schauer durchlief mich! Das mich so anziehende, weibliche Geschöpf,[119] Wittwe eines Räubers! Mit alle dem moralischen Gefühlen, die ich in ihr zu sehen glaubte, hatte sie einen Strassenräuber geliebt, sich ihm ergeben! Das Kind, das ich erziehen wollte, aus Räuber vielleicht auch Mörder-Blute entsprossen! Sein Vater, seine Mutter jung, und dieses Leben!

Ich war stumm und starr bey dem innern Gewühle dieser Gedanken. Ich fragte meinen Freund noch den folgenden Tag, um die Geschichte, die mir fürchterlich war, die ich nicht glauben konnte, nicht glauben wollte und eben so elend darüber wurde, als ob sie meiner Schwester begegnet wäre. Friedmann brachte mir das Gerichts-Protokoll, in welchem der ganze Vorgang beschrieben, und von dem Schwager der Wittwe ein Eid abgelegt war, daß ihr Mann mit den Räubern einverstanden gewesen, zu ihnen aus der Schaise gesprungen, seiner Frau, die er herausgezogen, was zugeredt, und sie darauf weggelaufen sey, Er und seine kranke Frau darauf angefallen, geplündert und seine Frau so mißhandelt worden, daß sie kurz darauf gestorben wäre. Das Protokoll sagte auch, daß die Wittwe des Erschossenen mit Aechzen und Flehen von der Unschuld[120] ihres Mannes gesprochen und versichert, daß er sie alle hätte retten wollen und deswegen den Räubern sein Geld und Uhr zugetragen habe. Aber, setzte Friedmann hinzu der Eid ihres Schwagers und die Aussage des Kutschers waren gegen sie und sie erhielt nur zu Ertach die Freyheit, im Hirtenhause zu wohnen, weil der benachbarte Pfarrer gut für sie sagte, und sie von Jugend auf gekannt hatte. In dem Hirtenhause wäre sie mit dem Knaben niedergekommen, und seit ihren Wochen immer kränklend. Der alte Pfarrer sey vor einigen Tagen gestorben, deswegen würde sie um so trauriger seyn, weil ihr dieser so viel Gutes that. Ich war immer still, und laß nur die Stelle des Protokolls, wo von ihrem Hinknien und dem Betheuren der Unschuld ihres Mannes die Rede war. Ich bedauerte den Tod des alten Pfarrers, der mir so viel Licht hätte geben können, doch seine Frau lebte und zu dieser ging ich, so bald ich wohl war, aber das dauerte noch sechs Tage. Von der Pfarrerin hörte ich, dem Himmel sey Dank! Gutes von der Redlichkeit des armen Todten und seiner Wittwe, die nirgend keine Verwandte mehr hätte. Ihr seeliger Mann habe sich der Ehre[121] des Entleibten und der Frau angenommen; aber man glaubt bey uns, (sagte sie) einen Geistlichen nicht so viel, wie bey den andern Religionen, und die Wittwe ist arm und ohne Freund, wer wird ihr Recht schaffen? Es wäre ihr Glück gewesen, daß vor zweyhundert Jahren eine Edelfrau bey dem Hirtenhause mit Geburtsichmerzen befallen worden, daß sie nicht weiter gebracht werden konnte, und froh seyn mußte, in der Hütte zu genesen; diese habe dann eine ewige Stiftung gemacht, daß man alle atme Schwangere dort aufnehmen und ein Bierteljahr verpflegen solle. Der Herr von Ehrtach hatte nachdem erlaubt, daß die arme traurige, so kang sie lebe, da seyn dürfe, und ihr Kind ins Waisenhaus sollte, wenn es drey Jahr seyn würde. Aber dieß hätte man ihr bisher nicht sagen dürfen, weil sie das Kind gar zu lieb hätte und ihr seeliger Mann ihr auch versprochen hätte, es mir seinen Enkeln zu erziehen. Wir wollten sie mit Kleidung und Wäsche unterhalten. Denn die Stiftung giebt nur ein Stübchen, Bett, Holz, Habermehl, Salz Brod und etwas Schmelzbutter, wenig und klein, doch so, daß ihre Wohnung nicht übel ist. Sie läßt der Hirtin[122] alles, was sie von der Stiftung kriegt, und ißt Brey und Suppe mit ihrem Kinde. Denn Brodt kann sie nicht mehr geniessen, und weisses haben wir im Dorfe nicht alle Tage.« Von der Niederkunft, von den Wohlthaten, die sie und ihr Mann der Unglücklichen erzeigt, konnte die Frau Pfarrerin sehr lang und ordentlich erzählen; aber die Geschichte wurde mir nicht klar. Sie mengte Vorwürfe darunter: Man sollte nicht höher fliegen wollen, als einem die Federn gewachsen wären; und dann von einem liederlichen Bruder, der gemeiner Soldat geworden, und mit einer Marodeur Bande herum gezogen, und seinen jüngern Bruder selbst erschossen habe! Nun machte ich Bekanntschaft mit dem Hirten auf dem Felde, dessen einfache Reden und Bemerkungen meine Ideen und Entschlüsse festsetzten. Ich fand ihn bey seinen Kühen an einem Baum gelehnt, die Hirtenflöte recht gut und mit anständigen Geberden blasend; ein starker hübscher Mann, handbest, aber freundlich in seiner Miene. Ich sah, daß er meine Freymüthigkeit verdiente, und fragte ihn gleich nach der Frau und dem Kinde die bey ihm wohnten. Er betrachtete mich schweigend und[123] genau; endlich sagt er: Warum fragen Sie nach ihnen, mein Herr? Weil mich beyde dauren, und ich der Mutter und dem Kinde Gutes thun möchte. Er sah mir noch forschender ins Gesicht und fiel ein: Ey, sie sind; wie mich däucht, der Herr Amtschreiber von Grünburg, Ja, mein Freund! kennt ihr mich? Nun reichte er mir seine Hand ja Herr! ich kenne sie! Gott lohne ihnen, was sie dem armen Söldner Jacob vor acht Tagen Gutes thaten! Er ist mein ältester Bruder: Es ist ein redlicher Mann und ich hab ihn gerne. Ich bin auch redlich. Sagt mir doch was von der Frau und ihrem Kinde; es wird euch nicht gereuen. Er sagte lebhaft: Gewiß nicht, Herr! denn ich kann nichts sagen, das ihr Schaden thäte, und das wär', was mich reute! Warum gebt ihr nur eine so stutzige Antwort? Ach, Herr Amtschreiber! Ich weiß wohl, daß sie recht gut mit den Bauerleuten sind; aber, ich muß es nur sagen, es verdroß mich, daß sie von der Redlichkeit meines Bruders sagten, und von der ihrigen, und dann von mir dachten das Versprechen: es wird euch nicht reuen! werd mich gleich alles her erzählen machen, was ich von der armen Frau wisse![124] Hirt! gebt mir eure Hand! Ihr seyd ein eben so braver Mann als euer Bruder! Die Anliegenheiten eurer Freunde sind euch also nicht um Geld feil; aber, ich meinte es nicht so, sondern ich wollte euch die Sorge nehmen, als ob der Frau Leid geschehen könnte, wenn ihr was von ihr sagtet; denn, sehr! ich möcht ihr helfen; aber, ich muß doch wissen wie? Die Mutter, Herr Amtschreiber, wird keinen Menschen mehr viel kosten! der hilft Gott, denn sie ist ausgezehrt, wie ein Marterbild und geht dem Himmel zu. Aber dem Kinde! nun das wird dem gewiß vergolten, der es thut. Ich hab den Gottes Lohn verdienen wollen aber, der arme Bube ist mir so lieb, daß ichs ihm gern gönne, wenn es ihm besser geht.

Guter Mann! Ihr sogt mir alles, nur das nicht, was ich wissen möchte. Lieber Herr Amtschreiber! ich glaub, sie wissen schon Alles, was man ins Protokoll gesetzt hat, und was kann da ein armer gemeiner Mann gegen ein Amtsurtel sagen, wo noch dazu ein Reicher einen Eid geschworen hast Hirt! Soll ich jezt auch böse werden, weil ihr über die Amtsurtel so verdächtig redt?[125] Er schien etwas betreten, faßte sich aber gleich: Verzeihen sie mir Herr- Amtschreiber, aber, der Eid von einem reichen Manne und ein Amtsurtel sind Schuld daß ich Hirt bin; und sind Schuld, daß die Frau im Spital stirbt, da ist eins zum andern gekommen, und hat mir warm gemacht! Ich erkannte in allem was er sprach und an seiner Miene einen vernünftigen und entschlossenen Mann, und verlangte von ihm die Geschichte seines Lebens und die, von der armen Frau; er möchte mich dagegen auch fragen was er wollte, ich würde ihm nach der Wahrheit antworten. Herr! Sie sind ein neuer Schlag von Amtschreibern, Wenn es vor sechs und zwanzig Jahren so einen gegeben hätte, aber was nutzts daran zu denken! Gott hat es so haben wollen, daß mein Vater und Osan Schultheiß und ich Hirt seyn soll; es ist gut, recht gut, wenn alles im Gewissen ruhig ist. Ein redlicher Hirt in unserm Dorfe und dem kleinen Spital, der den armen Kranken ein Wort von Gott und Christo den Herrn zu reden und vorlesen kann, ist auch was werth, und den Bauern ist an ihren Kühen eben so viel gelegen, als dem Fürsten an seinem Mahrstall, und den lieben[126] Vieh thuts auch gut, wenns einen treuen freundlichen Hirten hat! Dies sagte er Alles vor sich hinsehend mit halb nachdenkendem, halb vergnügtem Gesicht, als ob er mit einem Dritten redete. Ich klopfte ihn auf die Achsel: Mann Gottes! ihr seyd doch nicht gar zu wohl zufrieden, Hirt zu seyn!

Manchmal kommts; aber, wenn ich denk, daß vor Gott alles gleich ist, so ist mir alles recht; ich wär' doch nichts, als Bauer oder Schulmeister worden, aber das hätt' mich am meisten gefreut, und de alte Pfarr hatte mich auch abgericht. Gott vergelt ihm noch seine Bücher. Was habt Ihr denn für Bücher von ihm? Predigten, Gebeter und Auslegung vom Catechismus, zwey Bücher von der Viehzucht, vom Futter, Kräutern, Vieharzney; und eins, zu was der Ehrenpreis, die Salbey- die Camillen und Schaafgarben für Menschen gut sind; das hat mir viel geholfen. Dadurch könnt ihr ja der beste Hirt im ganzen Land werden! Seyd es gern. Ein ehrlicher und geschickter Mann ziert einen jeden Stand, ihr könnt dem gemeinen Wesen mehr nützen, als ihr glaubt, und ich bin sicher, daß die ganze Gemeinde was auf euch hält![127] Herr! das ist wahr und ich darf auch zwey eigene Küh halten, Wind und Wetter thut mir nichts; Gott laß es mich zur guten Stunde sagen, ich bin Jahr aus, Jahr ein so gesund und frisch, wie ein Bogel. Es freute mich, eine Bewegung von Stolz in ihm zu sehen, als er mir seine Gesundheit rühmte, und auch das gefiel mir, daß er immer während dem Reden einen kleinen Pfiff durch die Finger that, worauf der Junge abgericht war, und gleich die Heerde zusammen hielt. Ich erzählte ihm dann, daß ich das Dienen nicht nöthig hätte, und warum ich es gethan. Das wunderte ihn sehr, und ich mußte ihm meine Ursachen recht deutlich sagen. Er rührte mich innig, als er mit seinem Hute in der Hand mir sagte: Nun, Herr, wenn sie das Gott und den armen Bauren zu Liebe gethan haben, so verdienen sie einen schönen Platz im Himmel. Er schwieg etwas und dann fuhr er fort: Jetzt ist es mir recht, daß sie mir zugeredt haben, ich soll ein guter Hirt seyn, denn im Anfang dacht ich, der hat gut reden. Aber, so, Herr! das ist viel. Gott vergelts ihnen in ihrer letzten Stunde mit vielem Trost! aber, er[128] aber, er hielt inne und sah mich fragend an. Nun, was aber? was wollt Ihr wissen? Ey Herr! ob es Sie nie gereut hat. Nein, bey Gott! nicht einen Augenblick und ich bin auch um eurer Bekanntschaft willen froh, daß ich diesen Dienst angenommen habe. Lächlend sagte er: Es ist doch wahr, was man sagt, die Freywilligen dienen am besten, und wagen am meisten. Er mußte mir Verschwiegenheit versprechen, und ich erzählte ihm nun, was ich von der Frau im Hirten-Spital gesehen und gehört hatte, und bat ihn um seine Nachrichten von ihr. Herr! das erste, was ich hörte, war, daß im Walde von Alt-Grünburg eine Kutsche angegriffen worden, und daß einer von den Spitzbuben am vorletzten Ort mit seiner Frau um einen Platz in der Kutsche gebeten hatte, daß sie des Handels sicherer wären, den hätte man aber erschossen und seiner Frau sitze zu Grünburg. Nun bey dem Protodoll und beym Eid des einen Herrn hat man sie losgesprochen, und sie kam krank ins Hirtenhaus. Die Kindeswehen dauerten viele Tage mit Gicht und Krämpfen bis sie endlich den armen Jungen zur Welt bringen sonnte. Mein Weib und ich, hatten[129] noch mit niemand mehr Mitleiden. So jung, so gut und so eine saubere Frauensperson war sie; der alte Pfarrer stund gut für sie und ihn. Er hatte sie zusammen gegeben. Aber der Eid und das Protokoll war da, und der Mensch todt. Die andere fort. Sie schrie oft: gottloser, gottloser Bruder! O du armer Wilhelm! Du unschuldiger Märtyrer! u s. w. Aber das hätt' mir nicht viel gegolten, wenn ihr Gebet nicht geweßt wär. Sie betete als Kind mit Vertrauen, nicht mit Furcht als Magd, und das war mir das Zeichen der Wahrheit und Unschuld. Da sorgte ich doppelt für sie. Der Pfarrer seliger starb jähling. sonst wär es ihr noch gut gegangen. Sein Zuspruch und christliche Betrachtungen über den Willen Gottes haben sie getröstet; aber sie zehrt doch aus, sie hat ihrem Schwager wegen dem Kinde geschrieben, aber er hat keine Antwort gegeben. Ich wett' mein Leben, daß sie und wie sie sagt, ihr Mann unschuldig sind. Es hilft aber oft nichts als im Himmel, mein Vater ist auch unschuldig geweßt, und ist doch ausgepfändt worden, und aufm Stroh gestorben, und ich im zehnten Jahr ein Bettelbub geworden, und war der Beste in der[130] Schul, nun alles in Gottes Namen! Amen-Hier hatte er seinen Hut zwischen seinen gefaltenen Händen, und der redliche Ausdruck seines Gesichts bey den letzten Worten, und seine Bemerkung, daß die Frau als Kind nicht als Magd gebetet, sein gutes Weib, seine zwey Kinder, die Reinlichkeit, die Genügsamkeit und der Fleiß, das Buch in dem er die Kranken aufschrieb, die im Hirtenhause allzeit zwey Nächte bleiben dürfen, und dann mit Frohnfuhren auf das nächste Dorf geliefert werden; seine wahren und einfachen Gedanken über die Leute und ihr Schicksal, auch die Aufzeichnung dessen, was er für sie gethan, so, als ob er mit sich selbst geredt hätte; kurz abgebrochen, das war mir lieb. Ich bat ihn, der Frau nur im Anfang von meiner Redlichkeit zu sagen, und daß er im Sinn habe, mich zu bitten, in das Amtsbuch ein Zeugnis von der Unschuld ihres Mannes zu setzen, das einmal ihrem Kinde gut seyn könne. Dann wollte ich einmal selbst mit ihr reden. Ich gab ihm Geld, um sie zu laben und bat ihn, zu einem Arzt zu gehen. Aber der gute Mann hatte es schon gethan und keinen Trost erhalten. Sie sollte nichts thun, als halb Milch, halb Wasser[131] mit etwas Honig trinken und Brey essen. Ich ging halb traurig, halb vergnügt nach Hause. Ich setzte auch wirklich eine Ehrenrettung für den Verstorbenen auf, so weit ich von der Sache Kenntniß hatte. Der Hirt kam den zweyten Tag zu mir und bat mich, bald nach Ertach zu kommen, weil die arme Person täglich schwächer würde, und sie möchte so gern mit mir von ihrem Mann sprechen und ihr Kind empfehlen. Ich ging hin, stieg die schmale Treppe in ein enges Kämmerchen. Ein schlechtes aber doch reinliches Bett, zwey hölzerne Stühle und ein an der Wand festgemachtes Tischgen war alles was darinn Platz hatte. Die arme Verlassene stund, so bald der Hirt mich genannt hatte mit ihrem Kinde auf, kniete, legte das schlafende Kind vor meine Füsse: Ach Herr! um des armen Wurms willen retten sie die Ehre seines unschuldigen Vaters. Mit was für Sehnsucht sie mich anblickte, ihre bittende Hände erhob und halb ohnmächtig sich gegen das Kind beugte, das ich mit Thränen in einem Arm faßte und mit dem andern sie aufzuheben bemüht war. Die Hirtenfrau half ihr auch; aber sie wandte sich noch da knieend gegen mich. Wollen sie meinen[132] Wilhelm retten. Ja, ich verspreche es ihnen bey dem allmächtigen Gott und um des unschuldigen Lammes willen, wobey ich ihr das Kind zeigte. Sie faltete ihre Hände, und dieser allmächtige Gott wird sie ewig lohnen, aber thun sie es bald. Bald! geben sie mir nur alles an Hand, ich hab hier schon einen Aufsatz gemacht Sie war aufgestanden, und sah mich mit gerungenen Händen an. Als ich nach dem Papier in meine Tasche langte, zitterten ihre Lippen und Hände, sie sank auf das Bett. Die Hirtin hatte das Kind genommen ich nahm der armen Amalia (so hieß sie) zitternde Hand, die sie auf die Lehne des hölzernen Stuhls gelegt hatte. Fassen sie sich, gute liebe Seele. Ich will ihnen lesen, was ich angefangen habe. Sie nickte mir, trocknete ihre Thränen, und ich las ihr den Aufsatz, bis auf das, was sie noch zu sagen hatte, und sagte, daß ich es von der Kanzel würde ablesen und in die Zeitung setzen lassen. Sie hob die Hände auf: lieber, lieber Wilhelm nun sterb ich gern und ruhig! O, lieber Hirt! und Thränen erstickten ihre Stimme; aber sie hatte beyde unaussprechlich angeblickt, dann faßte sie ihr Kind: Mein Kind![133] o wenn du leben bleibst, liege tausendmal zu den Füssen unsers Wohlthäters. Sie wollte es wieder auf die Erde legen, aber ich hinderte sie daran und sagte: Schonen sie ihr Leben, und lassen sie mir die Freude ganz ihnen und dem lieben Kinde Gutes zu thun. Leben? ich! O nein, nein! und du! (ihr Kind an sich schliessend) ach stirb mit mir. Werthe schätzbare Frau, fassen sie sich um wenigstens alles zu sagen, was zu der Ehrenrettung nöthig ist.

Hastig sagte sie: Ach Gott! ja! hören sie mich nur: Nun weinte sie wieder stark und ich war selbst so sehr erschüttert, daß ich den Vorschlag that, sie sollte sich zu beruhigen suchen, ich wollte unterdessen ein wenig in das Baumgärtgen gehen. Es war mir auch bey der starken Gemüthsbewegung in dem engen niedern Stübchen bange. Ich ließ sie mit der Hirtin und ging allein durch den kleinen Gemüßgarten dem Baumstück zu und setzte mich auf einen am Ende liegenden Klotz. Es dauerte beynah eine halbe Stunde eh sie zu mir kam. Die Hirtin führte sie. Bebend und erröthend setzte sie sich neben mich, schwieg lang und fing dann mit gesetztem Ton an: Ich werde ihnen eine kurze Geschichte von Unschuld[134] und Unglück erzählen; aber sie ist wahr, wie die Abnahme meines Lebens wahr! wie die Gnade des Himmels über uns. Mitleiden und Eitelkeit sind der eigentliche Grund meines Elends. Ich verlohr meine Eltern früh, und wurde von meiner Mutter Schwester, der Frau eines Universitäts-Raths in F** erzogen. Sie hatte keine Kinder und nur ein kleines Vermögen, vermiethete Zimmer und gab auch angesehenen Studirenden die Kost. Mein Onkel gab mir manche Stunde guten Unterricht, den ich auch benützte und mir bald viel auf meinen Verstand einbildete. Meine Tante las gern Romane und ich bekam auch Geschmack daran. Sticken, tanzen und etwas wichtig und jugendliches Aufsehen machte ihre Liebe für mich und meine Eigenliebe blind, so, daß wir auf eine vornehme Heyrath rechneten. Zwey Brüder einer angesehenen Familie kamen in unser Haus zu wohnen. Der ältere voll Boßheit und List, stark, garstig und tückisch; der arme jüngere schön, sanft, still und lernend, litte viel von dem ältern, der ihm alles Spielgeld nahm, seine Kleider und Bücher verkaufte, durchbrachte und ihn, wenn er klagte, oder ihm Vorstellungen that, noch schlug und zankte.[135] Ach, wer sollte den guten Herrn Wilhelm nicht geliebt haben. Meine Tante half diesem heimlich, und ich tröstete ihn. Er freute sich darüber liebte mich und studirte doppelt fleissig. Meine Tante dachte, da der ältere Soldat werden wollte und immer liederlicher ward, so müßte einst der jüngere den Vorzug in Vermögen und Gütern erhalten, und da sie so viel für den Jüngern gethan und er mich liebte, so würde ich durch seine Dankbarkeit einmal eine glückliche vornehme Frau werden. Der gute Wilhelm kam auch durch ihr Zureden und seine jugendliche Liebe, zu einer heimlichen Heyrath mit mir. Der alte Herr Pfarrer von Ertach traute uns, und wir lebten ruhig fort, als meine Tante krank wurde und auf ihrem Todbett ihrem Mann von der Heyrath redte, der aber darüber so entrüstet wurde, daß ich des andern Tages aus dem Hause mußte und zu meiner Stiefschwester ging, die mich aber meine Kindbettzeit über nicht behalten wollte. Meine Tante hatte mir in Eil noch ein Demant-Kreuzchen und Ohrringe gegeben. Die letztern hatte schon mein Schwager für meine Kost genommen, das Kreuzgen, (sie zog es aus ihrer Tasche) ist alles, was ich für mein[136] armes Kind und mich von der Welt übrig habe. Denn, da mein guter unglücklicher Mann mich abholte und zu dem Herrn Pfarrer führen wollte, wurden wir angegriffen und beraubt. Ach Gott, ewiger Gott! mein Schwager war bey den Marodeurs, die uns anfielen. Mein Mann erkannte ihn, und lief ihm deswegen mit seinem Geld und Uhr zu, und bat mich, weil ich hochschwanger war, auf die freye Strasse zu laufen. Meine Stiefschwester erkannte ihn auch und schimpfte ihn da gab er ihr Schläge; darauf entstund, alles, alles das Elend, der Tod und der Schimpf meines armen Mannes und von mir. Niemand hörte mich, als Gott und sie; o retten sie, retten sie die Ehre meines Mannes, so, wie er seinen Bruder retten wollte. Sie schwieg einige Augenblicke, rang dann ihre Hände und setzte mit einer unaussprechlichen Wehmuth und Stärke hinzu: Göttliche Vorsicht! du wußtest, daß der Beste nichts wollte, als Brudertreue, Bruderliebe üben, und du liessest dadurch sein Leben, seinen guten Namen und mich zu Grunde gehen! Ach! wie sollen Menschen an eine Unschuld glauben, die deine allmächtige Hand nicht retten wollte.[137]

Niemals, mein Freund! wird dies Bild des Schmerzens, der Würde und Liebe aus meinem Gedächtnis verschwinden. Ich faßte ihre Hand, schwur bey der, Gott sey Dank! eigenen Unschuld meines Lebens, daß ich die Unschuld und das Unglück ihres Mannes glaube, und den nemlichen Abend noch einen Aufsatz in das Protokoll und die Anzeige an die Gemeinde machen wolle. Sie hielt, während ich ihr das sagte, eine meiner Hände zwischen ihren beyden, und ihre sterbenden aber sehr schönen Augen waren voll Sehnsucht, Hoffnung, Dank, und sanfter Freude auf mich geheftet. Endlich drückte sie meine Hände an ihr Herz: Gott, Gott lohne sie! Ich kann nicht reden, in der Ewigkeit will ichs thun, mit meinem Kinde will ich sie vor Gottes Thron begleiten und himmlischen, ewigen Lohn erbitten. Ich sagte ihr, daß ich so leben wollte, daß ihre fromme Seele und ihr unschuldiger Mann mich mit Freuden in der Ewigkeit erblicken würden.

Sie weinte nun vor sich bin. Ich war auch still, und gewiß, die ganze Welt mit Größe und Macht war vor dem Hirtenhause an der Seite einer höchst unglücklichen, dem[138] Tode nahen Person, völlig vor mir verschwunden und Tugend, Wahrheit, Menschenliebe, Güte und Ewigkeit allein in meiner Seele. Ich begleitete sie schweigend in das Haus, und ging tief heim. Auf dem Wege begegnete mir jemand, der mich suchte. Der alte Beamte sey dem Augenblick an einem Schlagfluß gestorben. Wie froh war ich über diesen Zufall, weil mir dadurch alles erleichtert wurde, was ich für das arme Geschöpf thun wollte. Da der junge Beamte das Herz gut und weich genug hatte, um im ersten Genuß von Glück, der Freyheit, den Besitz des Amts und Vermögens gern eine Wohlthat auch auf andre auszugiessen. Er mußte noch in der Nacht fort, um dem Herrn von Grünburg den Todesfall anzuzeigen, und die Bestätigung in seinen Dienst zu erhalten. Ich besorgte die zwey Tage das Amt und die Anstalten des Begräbnisses. Schrieb aber meine Gedanken über die Ehrenrettung des armen Rechels auf. Ließ den Hirten kommen, daß er die Frau bis auf die Zurückkunft des neuen Amtmanns trösten sollte, und brachte es wirklich dahin, daß der Verstorbene bey dem Gerichte und der Gemeinde gerechtfertigt, sein Sarg ausgenommen[139] wurde, und er ein ordentliches Grab bey den ehrlichen Dorfbewohnern erhielt.

Die Ergiessungen der Freude und des Segens seiner Witwe sind unbeschreiblich, eben so, wie die Scene vierzehn Tage vor ihrem Tode.

Als es eines Morgens sehr neblicht war, wollte ich, wie im Frühjahr das Aufsteigen der Wolken, und ihre durch den mindesten Hauch des Windes abgeänderte Gestalten sehen, und dachte wohl, daß die Dünste des Kirchhofs die stärksten und dichtesten seyn müßten; heftete also meine Augen am meisten dahin, und wurde allmählig einen weissen Fleck gewahr, der an der Seite der Mauer fest blieb. Als ich ihn deutlich erblickte, war es die Gegend von Rechels neuem Grabe auf dem sein armes Weib mit ausgestreckten Armen lag. Ich eilte mit Angst dem Kirchhofe zu, und fand sie wirklich starr und sinnlos auf dem nassen Hügel liegen; faßte sie in meine Arme, und suchte sie zu beleben; legte ihre todtkalten Hände auf meine Brust, mein Herz wurde durchbebt und mit der heftigsten Theilnehmung durchglüht und ich glaube noch, daß meine heisse Wangen, die ich an ihr blasses lebloses Gesicht[140] hielt, wieder Lebenswärme in sie brachten; denn sie erholte sich, und ich führte und trug sie halb in das Amthaus, wo ich sie, mit der freundlichen Hülfe der Hausfrau, wieder erquickte und endlich, da sie nicht bey uns bleiben wollte, zurück in das Spitälchen leitete; wo sie sich legte, und sich endlich so viel wieder erholte um mir zu erzählen, daß eine unnennbare Bewegung von Zärtlichkeit, Wehmuth und Freude sie auf dem Ehrengrab ihres Mannes ohnmächtig niedersinken gemacht hätte. Der Anfall eines heftigen, nicht zu heilenden Fiebers, nahm sie vor acht Tagen aus der Welt und von ihrem Jammer weg. Bereitwilliger und seliger bat noch niemand das Opfer seines jungen Lebens da gegeben; denn sie war kaum zwanzig Jahre alt. Sie dankte mir noch daß ich ihre beyden Schwäger bey der Ehrenrettung ihres Mannes geschont hätte; und empfohl mir ihr Kind das (wie sie sagte) zu allem Unglück, alle jugendliche Gesundheit seiner armen Eltern in sich vereinigte.

Ich nahm, mit aller Feyerlichkeit das arme Fritzgen an Kindesstatt an, und seine bedaurenswürdige Mutter fiel in dem Augenblick, da ich ihren Sohn von ihrem Bett in meine[141] Arme nahm, und der Pfarrer durch eine Anrede mich zu dem Vater des Waisen einsegnete; in Zückungen, die sich nur mit dem Tode endigten. Wie jammerte mich das Schlachtopfer einer übelverstandenen Liebe ihrer Verwandtin, und einer noch übler verstandenen Gerechtigkeit. Wie oft schon sind Vorurtheile und Mißdeutungen aller Arten Henkersknechte und Mörder, der unvertheidigten und furchtsamen Unschuld geworden. Ich ging mit dem Knaben auf dem Arme weg, setzte mich mit ihm auf dem Platz, wo vor einigen Wochen, noch seine Mutter mit mir saß und ihr Schicksal erzählte. Mit Thränen sagte ich: armer Wurm! du hast nun in der ganzen Schöpfung niemand, als mich; wenn nun auch ich dir entginge, großer Gott! erhalt mich! zärtlich und treu will ich mein Wort halten. Ich erhob ihn gen Himmel und schloß ihn darauf an meine Brust. Die Seele seiner Mutter mag mich noch gesehen, noch gehört haben; denn gewiß, sie umschwebte ihr so geliebtes verlassenes Kind. Die Hirtin besorgte es noch zwey Monate, denn länger blieb ich nicht mehr in Grünburg. Ich hatte mein Bestes da gethan, weil der neue Amtmann das ist,[142] was er seyn soll. Wären nur alle so! und das einfache Grabmal für die zwey Gatten war nun aufgerichtet aus grauem Sandstein. In dem Schlangenring, den ich darauf aushauen ließ, steht:

»Hier ruhen

Wilhelm und Amalia Rechel, junge, treue, unschuldige und unglückliche Ehgatten. Die Ewigkeit lohnet ihre Liebe, ihre Tugend und ihre Leiden.«

Ich nahm meinen Sohn mit der Hirtin zu meinem Freunde Rohr, der mit einem schätzbaren Weibe recht wohl und genügsam lebte. Dem erzählte ich nun, was ich unterdessen gewesen und gethan. Seine Frau sorgte für meinen Fritz, der hold und lieb heran wuchs; immer Gegenstand der Sorge und Zärtlichkeit. Rohre Vaterstadt ist eine kleine Republik, deren wir ja unserm Teutschland so viele haben. Alte Sitte und Gewohnheiten, Patriciat, Magistrat, Zünfte, Kirchen, Einkünfte und Spitäler alles ist unter Catholische und Lutherische Glaubensverwandte getheilt. Unter beyden sind viel Hochachtungswürdige Personen, mit denen ich zwey Jahre lang, schöne ruhige Tage verlebte. Die Gegend ist höchst[143] angenehm, Berge, Wiesen und Wälder wechseln schön ab, und ein kleiner Fluß durchschneide das Thal. Hier sah ich Beweise, daß die Mittelstufe von Reichthum, Rang, Wohlstand und Größe die meiste Zufriedenheit des Lebens gewährt. Was mich an angesehenen und bürgerlichen Personen freute, war, daß sie alle Gärten und Spaziergänge aufs Land oder auf ein Dorf unendlich lieben und ihrem väterlichen Boden anhängen. Die Patricii reden gern von den Angelegenheiten der Stadt, ihre Frauen gern von ihren Kindern, sind mit schätzbaren Stolz gute Mütter und Hauswirthinnen. Hier wurde Wieland gebohren und genoß die Erziehung verdienstvoller Eltern. Sophie la Rosche lebte auch hier und erinnert sich noch mit Rührung jedes vergnügten Tages und jeder Familie, deren Freundschaft sie genoß. Sie segnet noch Menschen und Gegend besonders das schöne Wohnhaus, erzählt gern, und mit schönen freundlichen Eifer, alles Gute, dessen sie sich erinnert. Auch von den Anstalten zu Kinderfesten, die von alten Zeiten her in der Stadt gestiftet sind, wo zweymal des Jahrs alle Schulkinder in einem Zuge nach einer moralischen Anrede in der Schule an sie,[144] hinaus ins Grüne gehen, Reyhentänze halten und ihre Lehrer, Väter und Verwandte mit in ihre kindliche Spiele sich mischen und Antheil an ihrer Freude nehmen. Sie glaubt, daß dieß der Grund der Liebe ist, die alle Einwohner dieses Städtchens, und sie selbst in der Entfernung, auch in den grössesten Städten für das einfache Biberach behalten, und sie wünscht, daß diese Grundlage von vielen vaterländischen Tugenden immer wohl erhalten werden möge!

Nun hat aber mein Fritzgen drey Jahre; ist schön stark, gesund, voll Fähigkeiten, die ich in meinem Zirkel von Kenntnissen und Künsten anbauen möchte. Doch so, daß sein Unterricht von den Sachen nicht vom Wortlehren und Erklären käme. Ich habe mich bey diesem Nachdenken an alles erinnert, was mir in meiner Jugend gewesen ist; und da erschien mir Ott als der beste meiner Universitätsbekannten, und Cleberg, den ich auf meinen Reisen mit so vielem Vergnügen sah. Ich erkundigte mich nach euch, und hörte ganz viel herrliche Sachen von Aemtern, Heyrathen und Lebenstone und mich dünkte, daß ich recht wohl zu euch stimmen könnte und ich machte[145] mir ein Bild von freundschaftlicher Verbindung, von edlem, ruhigem Geniessen meines Vermögens und meiner Erfahrungen, von Otts Studium, Clebergs Geist und Beobachtungen; eure, wie man mir meldete, so artige Weiber, vielleicht schon liebenswürdige Kinder ordneten sich in einen schönen Kreis edler Freuden des Lebens. Darauf nun schrieb ich selbst, was ich seit unserer Trennung geworden bin und gethan habe. Der größeste Theil meiner traurigen Schwärmerey ist vorüber. Lichte, stille Vernunft, lebendiges Auffassen alles Schönen und Guten wo es liegt, ist allein thätig geblieben. Wolt ihr mich so, meine Freunde! unter euch aufnehmen, und mich Antheil an euch nehmen lassen, so ladet mich ein; aber bald, damit der Bau meiner Hofnung auf euch nicht zuwest werde, und mich dann das Abreisen zu viel koste.

So weit die Auszüge aus Lattens Briefe an Ott, bey dessen Vorlesung Julie und ich, Linke, Hannchen und ihre jüngere Schwester nebst Lisette Boder waren. Cleberg foderte unsere Meynung auf; wir wollten ihn alle hier haben, und Linke schafte ihm schon ein Haus in der Stadt und ein Landguth an. Ott machte[146] eine Art Anzeige der gesammleten Stimmen, zeichnete ihm auch wieder alle unsere Charakter dagegen, und wir unterschrieben einhellig seine Aufnahme in unsern Zirkel, mit der Bedingung der baldigen Ankunft noch auf dem Lande. Nun erwarten wir ihn, besonders wir Weiber und Mädchen, mit vieler Begierde; denn er muß uns viel von seinen Reisen, seiner Amtsschreiberstelle und die Geschichte der armen Rechel erzählen. Mein Oheim, der alles ganz ruhig angehört hatte, sagte am Ende zu Cleberg und Ort: Helfe eurem Freunde wieder auf den rechten Weg, den ein guter, vernünftiger Patriot geben soll. Man findet selten dauerhaftes Glück in ausserordentlichen Dingen. Es ist viel Gutes in der Welt, und das Meiste auf der großen Heerstraße des gemeinen Wesens. Strebt, lieben Kinder! sagte er gegen uns alle: die Besten unter den Guten zu seyn! aber, bleibt auf Gottes Erde! macht euch keine Flügel und steigt auf keine Stelzen, um über andre hinaus zu sehen. Ein fester und unwandelbarer Gang der wahren edlen Menschheit führt zum Glück der Weisen. Schwärmerey thut es nicht.[147]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 3, Altenburg 1797, S. 115-148.
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