Funfzehnter Brief

[82] Der Herr M** K** und ich gingen den Fußsteig ganz still und trübsinnig hin. Auf dem Felde sah ich ihn an, und er fragte mich, wie mir Henriette gefiele? – Was für eine Frage, Herr M** K**? Mein ganzes Herz ist bey ihr geblieben. Aber, warum redeten Sie so wenig? warum kämpften Sie nicht gegen die düstre Anfälle der Schwermuth? – Gegen eine aufgebrachte Einbildung kämpfen, wäre eben so viel, als das Uebel mit Widerhaaken befestigen! Mein Schweigen und der ungestörte Gang ihrer jetzigen Empfindungen müssen sie zu heilen anfangen, oder es ist alles vergebens; ich habe nun über drey Jahre alle Mittel der Ueberredung und des Zuspruchs versucht. Meine Vorstellungen fanden eben so wenig Eingang, als Personen, die sie besuchen wollten. Ihre Bekanntschaft wird eine Aenderung hervorbringen. Der natürliche Hang zu zärtlichen Regungen, zu starken moralischen Zügen des Charakters, ist aufgeweckt; ich habe sie das[82] Leben niemals wünschen hören, als heute; und lange suchte ich nichts, als ihrer Zärtlichkeit eine andre Wendung zu geben, weil ich wohl sah, daß die immer gleiche Spannung ihrer Seelenkräfte ihr Leben sichtbar schwächte. – »Sie ist Heut auch über meine Liebe und meine Unterredung matt und krank geworden!« – Dieses schreckt mich nicht, wie mich ihr Muth würde geschreckt haben. – »Aber Muth zeigt Stärke an!« – Bey Gesunden! aber, bey dem Kranken ist er, was das letzte Auflodern der Flamme einer erlöschenden Lampe ist. Ich habe es bey der Aufnahme des Webers erfahren. – »Wie war dieses?« Er fing an zu erzählen:

Vor ungefähr anderthalb Jahren, kam gegen Abend ein großer Mensch sehr langsam und mühselig an das Fichtenwäldchen, weil er das eine Bein nur schleppte. Da er das Fräulein und mich erblickte, setzte er sich, hob beyde Hände auf und rief: O, Herr Pfarrer, erbarmen Sie sich meiner! – Ich eilte zu ihm, und sah in seinem Gesicht jeden Zug des Schmerzens und der Redlichkeit. – Was fehlt Euch, mein Freund? – Er wies mir sein Bein, welches durch einen Fall, den er von[83] einer Anhöhe gethan, und von einem Steine, der ihm nachgerollt, sehr beschädigt und ganz dick aufgelaufen war. Ich sagte ihm, ruhig zu seyn, ich würde für ihn sorgen; ließ ihn auch in den Ort tragen, Aufschläge machen, und alle sonstige Hülfe leisten, weil ich wußte, daß das Fräulein alles geben würde, was ihm nöthig wäre. Ihre Güte hat auch die natürliche Menschenliebe unserer Landleute erhöht, so, daß diese dem Menschen alle gute Dienste erwiesen. Sein dankbares Herz zeigte sich in jedem Worte. Bey seiner Erholung kam er zum Fräulein, um ihr zu danken, setzte aber die Bitte hinzu, daß sie ihre Wohlthätigkeit an ihm vollkommen beweisen, und ihn zum Weber des Orts aufnehmen möchte; er wüßte, daß sie viel spinnen ließe; er wäre ein guter Weber, und möchte gar gern sein Leben bey so guten Menschen zubringen, die er hier angetroffen habe. – Sie war über den Vortrag und die Wünsche dieses Menschen gerührt, und gestattete ihm nicht nur die Aufnahme in einem ihrer Häuser, sondern versprach, ihm eines zu bauen, und das gute Mädchen auszusteuren, das er heyrathen wollte. Dieser ganze Morgen war ihr munter vorbey gegangen.[84] Nachmittags kam ich, und sie erzählte mir das Ansuchen des Webers, und ihre Entwürfe zu seinem Glück. Ich dachte, die Gelegenheit sey vortheilhaft, in ihr einen Ruf zur Rückkehr in das gesellschaftliche Leben zu erwecken, da ich ihr vorstellte, wie schon allein aus ihrer Freundschaft für mich die Quelle so vieles Guten, das sie ihrem Nächsten bewiese, entstanden sey. Je größer der Kreis ihrer Bekannten würde, je mehr Gegenstände ihrer Menschenliebe sie finden könnte, ohne das Beyspiel zu rechnen, welches ihre thätige Tugend verbreiten würde. – Sie antwortete mir auch in einem ganz heitern Tone, und versprach mir, öfter davon zu reden. Sie ließ auch den jungen Weber und den Bauer mit seiner Frau kommen, deren Tochter er seit seiner Krankheit aus Dankbarkeit liebte. Ich mußte aufschreiben, was sie für die junge Leute thun wolle, um mit dem Oberbeamten zu reden, und Bauleute zu des Webers Hause zu bestellen. Sie fühlte die Freude der Eltern und Kinder mit ihnen, und unterhielt sich bey einer Stunde mit dem Entwurfe eines kleinen Landfests, das sie allen Einwohnern der Höfe bey der Hochzeit des Webers[85] geben wollte, wo auch meine Frau und Kinder dabey seyn sollten. Ich war froh, Ideen von austheilender Freude in ihr zu sehen; denn das Gute, so sie zwey Jahre lang gethan hatte, war gleichsam nur die Absicht, Schmerz und Elend von ihren Nebengeschöpfen zu entfernen. Und ihre melancholische Güte hatte immer Etwas so Ernsthaftes und Feyerliches, daß auch die Zufriedenheit der Leute nur durch stille Beruhigung, und nicht durch frohlockendes Vergnügen wahrgenommen wurde. Ich ging sehr getrost nach Hause. Aber, den andern Tag ließ mich ihre Jungfer holen, und ich fand sie so schwach, so niedergeschlagen, daß ich an nichts, als an die Rettung ihres Lebens denken konnte; und aus dem traurigen Abscheu, den sie gegen die öftern Besuche des Arztes zeigte, fand ich, daß ihr Widerwillen aufs Neue die Oberhand gefaßt hatte. Das Haus des Webers wurde gebanet, eingerichtet und mit drey Webstühlen versehen. Er nahm seine Frau, ohne daß die Frage von Freudentagen war; und ich fand sie öfter in Thränen als vorher. Ihre Kräfte wichen mit der Heiterkeit. Nur dieses Frühjahr erholte sie sich in etwas, da sie, auf mein Anrathen,[86] anfing, die Kräuterkenntniß zu lernen, sie nach den Monaten zu suchen, zu trocknen und zu bemerken. Sie hat sich auch, seit dieser Krankheit, nur mit den Schriften der Naturlehre beschäftiget. Was die moralische Welt der Menschen anginge, davon wollte sie nichts wissen, als was die beträfe, die bey ihr wohnten. Sie bat mich, ihren kummervollen Eigensinn mit Geduld zu tragen, und keine Gesellschaftsvorschläge mehr zu thun. – – Er that es auch, bis auf meine Bekanntschaft, da der gute Herr M** K** glaubte, sehr übereinstimmende Gleichheit der Seelen könnte nach und nach auf Henrietten wirken, weil der Zustand ihres Gemüths sehr gewaltsam wäre; und er behauptete, daß der kleine bilderreiche Schwung, den sie ihren Ausdrücken gegeben hätte, schon einen Grad Abänderung bezeichnete, und er wünschte nur, daß mein Aufenthalt in R** von einiger Dauer seyn mögte, indem er hofte, ich würde gern Etwas zur Genesung des edlen Mädchens beytragen. –

Sie denken wohl, meine Mariane, daß ich es versprach! aber, das Uebel liegt tief[87] in der Seele Henriettens! – O, wie sorgsam will ich den Gang meiner Empfindsamkeit beobachten! Sie könnte mich auch in einen Abgrund von Jammer führen, wo ich mein mir zur Glückseligkeit gegebenes Leben verseufzen müßte! –

Rosalia.[88]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 82-89.
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