Acht und zwanzigster Brief

[180] Noch immer, meine Mariane! bin ich an diesen fremden Boden geheftet: hunderterley große und kleine Ursachen rücken das Ziel unsers Aufenthalts weiter hinaus! – Gestern sprach ich darüber mit meinem Oheim, und ließ mir den Gang der Nachsuchungen über Recht und Unrecht erklären. Er lachte herzlich über meine Ausrufung, da ich dem Himmel dankte, daß unser Körper dem häßlichen Hin- und Hergehen, und vergeblichen Seitenschritten unsers Geists nicht unterworfen sey! – aber, gewiß ist auch, daß die stärkste Masse der physikalischen Welt das Ausdehnen. Zerreissen, Wiederzusammensetzen, Prägen und Modeliren nicht ausdauren würde, welchem unser Verstand, von den ersten Jahren an, auf so viele mühselige und unnütze Weise ausgesetzt ist. –

»Freue Dich darüber, Rosalie,« sagte er; »denn dieses beweiset Dir, daß der Urstoff Deiner Ideen unzerstörbar ist. Sonst hätte das Eigene Deines Charakters unter dem[180] Gehorsam gegen die Führung Deiner Jugend, und dem bisherigen Beugen nach der Gewalt der Umstände, erliegen müssen; und vielleicht würdest Du nicht die Hälfte Deiner Fähigkeiten entfaltet haben, wenn nicht Deine wunderliche Baase, und einige Widerwärtigkeiten Deinen Kopf und Herz geneckt hätten.«

Er hatte seine Hand freundlich nach mir ausgestreckt, und die meinige bey den letzten Worten etwas geschüttelt. Die Bewegung seines Kopfs fragte, ob es nicht wahr sey? – Ich gestund, daß er Recht hätte; aber zugleich sagte ich, unter zärtlichem Küssen seiner Hand, daß, wenn er mich nicht durch seine Güte gestützt hätte, so wäre gewiß jede Triebfeder meiner Seele zerknickt worden. –

»Das mag wahr seyn,« erwiederte er; »aber, hast Du denn vergessen, daß ich selbst Versuche gemacht habe, sogar die Stefte auszuziehen, an die einige von den Triebfedern befestigt sind? Aber, wenn ich sah, daß Du aus Dankbarkeit für meine Liebe alles aufopfern wolltest: so konnte ich nicht fortfahren, und ließ Dich nach der Anlage der Mutter Natur gehen, ungeachtet ich[181] sah, daß das Abstechende Deines Charakters mit dem Charakter Andrer, Dir manches Unangenehme zuziehen würde. Doch, da Du ein hübsches Mädchen wurdest, und Dein Kopf eben so leicht und munter, als Deine Seele empfindsam war: so dachte ich, es würde wohl einen jungen Mann geben, dem einmal das wunderliche Gemische von Schwachheit und Stärke, so in Dir liegt, eben so erträglich vorkommen könnte, wie mir.« –

Innig gerührt dankte ich dem besten Oheim für diese Gattung von Freyheitsbrief, den er mir durch diese Erklärung gab. Meine Seele athmet nun viel leichter, als in manchen vorigen Stunden. – Mein Oheim duldet mich gerne, so wie ich bin, und Mariane von St** liebt mich just deswegen! Das ist genug, genug Glück, von der männlichen und weiblichen Welt! Ungestört und ungetadelt sollen alle andre vor und neben mir gehen! Ich werde keinem zurufen, in meine Fußtapfen zu treten. Wenn ich nur unter dem Schutze der herablassenden männlichen Weisheit meines Oheims, an dem freundlichen Arme der weiblichen Tugend, die unter der Gestalt meiner[182] Mariane wandelt, den kleinen Weg meines Lebens durchgehen kann; sollten auch die schönen Hofnungen meiner zärtlichen Liebe zernichtet werden: so werde ich immer mich noch glücklich genug finden, wenn bey dem Genusse Ihrer Güte, mir das moralische Gefühl über Schönheiten des Geistes und der ausübenden Tugenden bleibt. – Adieu, meine Mariane! Warum, warum schreiben Sie so ungern! Wie viel verliert Ihre Rosalia dabey![183]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 180-184.
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