Ein und dreyßigster Brief

[195] Eilf Tage, unausgesetzt, von einer Gesellschaft in die andere, ist mir beynahe unerträglich geworden. Aber, es war der jährliche Kreislauf von Visiten, welchen die Familie, mit der wir leben, zu Anfang eines jeden Herbstes bey denen macht, die nur als Bekannte, nicht aber als Freunde angesehen werden. – Mein Oheim fand dieses Betragen etwas sonderbar, weil er behauptete, daß in eilf Familien gewiß verschiedenes Verdienst wohnte, gegen welches diese Gleichgültigkeit ungerecht wäre. Madame G** sagte darauf: »Das mögen sich diese Leute gefallen lassen! denn es geht selbst der ganzen Reihe von Tugenden so; alle sind uns bekannt, aber mit wenigen sind wir vertraut, indem allezeit diejenigen vernachläßiget werden, die nicht in den Bund unsers Nutzens und Vergnügens gehören.«

Sagt nicht diese Frau ganz munter und nett triftige Wahrheiten? Vier dieser Herbstbesuche waren mir angenehm, weil wir sie in[195] den Landhäusern ablegten, wo diese vier Familien noch wohnten. Alle haben sehr schöne Gärten, doch zeichnet sich der von Herrn Sch**, der an dem Ufer des M** liegt, durch seine vortrefliche Lage und Anbau ganz besonders aus. Dieses Haus zog aber meine Aufmerksamkeit auch deswegen auf sich, weil ich darinn so viel Uebereinstimmendes in Allem fand. Die feinsten Sitten und Bewirthung; der Hausherr einer der artigsten und belebtesten Männer; die Frau voll der schätzbarsten Güte des Herzens; ihre Kinder liebenswürdig, mit dem, ganzen Ausdruck von Empfindung ihres Glücks und des Wohlwollens für alle andre Menschen. – Besonders aber schien uns allen einer der erwachsenen Söhne das wahre Bild eines schönen, edlen und sanftmüthigen jungen Mannes. Er führte mich durch alle Theile des Gartens und zeigte mir die Aussichten auf die Gegenden umher, mit sehr viel wahrer Fühlbarkeit für das Große und Schöne der Natur! Bey Tische hatte mir Jemand von seinem Hange zur Wohlthätigkeit und den Kenntnissen des Geistes gesprochen. – Ich wünschte ihm diese Stimmung der Seele auf sein ganzes Leben! Denn da er durch eine[196] große Erbschaft von seinem Oheim vorzüglich reich wird: so fehlt ihm zum Genuß vollkommner Glückseligkeit dieser Erde nichts, als die unveränderliche Dauer der edlen, tugendhaften Gesinnungen seines Herzens. Der heitere Abend gab mir noch etliche selige Augenblicke, da ich, auf das Geländer der Terasse gestützt, zu meinen Füßen den schiffbaren Fluß; zu meiner Rechten eine schöne Allee von hohen Bäumen; den Blumengarten; über dem Wasser vor mir unabsehbare Kornfelder, und zur Linken, Obstgärten, Dörfer, eine Reihe waldigter Berge, und die große, volkreiche Stadt sehen konnte, in welcher gewiß eine eben so große Summe moralischen Guten liegt, als mein Auge in dem weiten Gesichtskreise umher physikalische Wohlthaten sah. In der großen Gesellschaft, die sich hier versammlet hatte, war überhaupt unter den Männern viel Verstand, und das Frauenzimmer sehr liebenswürdig von Person und Sitten. –

Die Tage nach diesem war ich nicht ganz so zufrieden, weil ich die traurige Bemerkung machen mußte, daß man so selten Menschen findet, bey denen die Liebe des Guten und Edlen stark genug ist, daß sie sich in gesellschaftlichen[197] Unterredungen, mit Vergnügen auf einige Zeit lang bey guten Eigenschaften, edlen und großen Handlungen ihrer Nebenmenschen verweilten. Wie oft habe ich die Ermüdung und Langeweile gesehen, die die Stimme der Hochachtung hervorbrachte; da hingegen der Spötter und Verläumder Aufmerksamkeit und Vergnügen erregte! In der feinen Welt ist es niedrig und unanständig, von der Tugend eines Handwerkers, von der Rechtschaffenheit eines Bauren zu reden. Bey Räuber- und Betrügerhistorien hingegen hält man sich auf; und allein die Klasse der Künstler, die für den Pracht, die Ueppigkeit und die Wollust arbeiten, erhält noch einige Achtung. – Ich will Ihnen darüber morgen einen launigten Einfall von dem jungen Mann schreiben, der das Bild des Herrn von G** mahlte. Adieu! meine Mariane; Adieu, von

Ihrer

Rosalia.[198]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 195-199.
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