Vierter Brief

[15] Vorgestern Abend konnte ich nichts als ein kleines Zetteichen an Sie schreiben, weil die Post und mein Oheim mir die Zeit vorsagten, wo ich fertig seyn mußte. Gestern aber machten wir schon verschiedene Bekanntschaften, die meinem Oheim bey seinen Aufträgen nöthig seyn werden. Von all diesen Leuten aber habe ich nichts, als die Gesichter und den Ton der Stimme kennen gelernt, weil, wie Sie wissen, Anfangs der angekommene Fremdling sich nur zu einer freundschaftlichen Aufnahme zu empfehlen, und der Einwohner ihm höfliche Anerbietungen zu machen sucht. Ich kann Ihnen also noch ganz gemächlich die Gedanken und Wünsche erzählen, die seit den zwey letzten Tagen der Reise in mir liegen. – Ein inniger Wunsch ist, daß man bey Erziehung der Kinder, besonders aber der Knaben die Kenntniß der physikalischen Welt niemals verabsäumen möge, weil diese Kenntniß den Genuß des Lebens verdoppelt, und Spatziergänge und Reisen um so viel nützlicher[15] für uns und andere macht. Mein Oheim kennt jeden Baum, jedes Gesträuch; alle angebauete und wild wachsende Pflanzen. Ich, die bishero nur auf ihre Mannigfaltigkeit in Formen und Farben achtsam und empfindlich war, bis es nun auch bey den meisten für ihre Nutzbarkeit, die beynah eben so verschieden ist, als ihre Gestalt. Wenn ich Sie wieder sehn, und an Ihrem Arm längst der Ufer des schönen Flusses gehen werde, der die Gegend unserer Vaterstadt so angenehm macht, dann werde ich Ihnen von dem erquickenden Geiste, den man aus diesem Gewächse, von dem heilenden Balsam, der aus jenem zu ziehen ist, von den nährenden Tugenden so vieler andern, und dem tausendfachen Nutzen der Gehölze, Gebürge und Steine, aus ihrem Anblick reden können, und Sie werden den milden Einfluß bemerken, den das Nachsuchen des Gepräges der Wohlthätigkeit, womit Gott unsere physikalische Welt bezeichnete, auf unsere Seele hat. Denn jemehr Spuren ich davon erkannte, je inniger wurde meine Verehrung gegen den Vater der Natur und meine Liebe für meine Mitgeschöpfe. – Die Tage und die Wege verschwanden mir bey den lehrreichen[16] Unterhaltungen meines unschätzbaren Reisegefährten. Eine Stadt, ein zerfallenes oder wohlstehendes Schloß gab den Anlaß zu Auszägen der Geschichte von Deutschland, dessen grossen und kleinen Regenten; dem Zerreissen der alten, und Zusammenheftung der neuen Verfassungen. Aber wie sehr traurig war mir oft der Anblick von Dorfschaften, in denen entweder die harte Arbeit, welche der rauhe Boden erfordert, oder das Joch des Kummers und der Armuth, womit kleine Despoten ihre Unterthanen drücken, in dem Alter von zwanzig Jahren den Besitz und Genuß einer schönen Gestalt, der Gesundheit und Freuden der Jugend zerstören; da welke Wangen die Sorgen des weiblichen, und niedergeschlagene, unmuthige Gesichter das mühselige Leben des männlichen Geschlechts eben so deutlich zeigten, als ihre baufällige Wohnungen und elende Kleider. – Die hiesige Stadt ist sehr schön gebauet. Grosse, reinliche Straßen und Häuser. Unter vermögenden Personen scheint große Pracht zu herrschen; auch sollen viele Künstler hier seyn. Wissenschaften des Geistes aber müssen nicht sehr blühen, weil zwey Buchhändler kurz nach einander[17] Bauquerott gemacht haben, die Modekrämerinnen hingegen sich sehr bereichern sollen. – Dieses ist der Auszug von Antworten, die gestern der Hauswirth beym Abendessen auf die Frage meines Oheims ertheilte. – Wir werden etliche Wochen hier bleiben, und ich daher noch bessern Stoff zu Briefen an meine Mariane bekommen. – Jetzo einen schönen Tag! in Eil von


Ihrer


Rosalia.[18]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 15-19.
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