Drey und funfzigster Brief

[373] Noch zweymal war ich umsonst in der Vorstadt; aber Madame Guden schrieb mir heute ein Billet: »Sie suchen mich so anhaltend, daß es undankbar wäre, wenn ich Ihnen nicht entgegenginge. Aber ich werde Ihre Glückseligkeit nicht vermehren, und Sie meinen Kummer nicht mindern. Kommen Sie Morgen zu unsrer Wöchnerinn, aber allein; denn ich will keine feine Leute sehen. – Guden

Das Stutzige dieses Tons hätte mich bald zurück gehalten, aber das Sonderbare lockte mich wieder. Ich ging also hin, ungeachtet es stark regnete, wie es Septembertage machen. Ich fand sie am Rocken sitzen, und die Wöchnerinn neben ihr, um auf das Spinnen, so sie von ihr lernte, Achtung zu geben. Sie war in einem grauen Leibkleide, mit einer großen weissen Schürze, und schien etwas blässer, als ich sie das Erstemal gefunden hatte. Sobald sie mich erblickte, stund sie auf, und ging mir mit zärtlicher Eile entgegen.[373] »In dieser üblen Witterung, liebes eigensinniges Kind!« sagte sie, mit einem Blick so voll Seele, daß sie mein Herz ganz nahm; und dies mag sie gefühlt haben, denn sie umarmte mich, sprach aber auf Französisch: »O, wenn jede Empfindung so stark in Ihrer Seele haftet, als Ihre Neugierde um mich, so bedaure ich Sie von Herzen!« – »Neugierde!« erwiederte ich. »Glauben sie gewiß, daß es nichts Bessers ist, so mich nach Ihnen zieht?« – »Sie müssen meine Worte nicht spitz fassen. Ich gehe immer den kurzen Weg, und was ich zuerst sehe, nenne ich zuerst.« – »Vergeben Sie, ich wollte nicht spitzig seyn, sondern nur ganz geschwind eine Idee wegräumen die mir bey ihnen schädlich seyn könnte.« – Mit nachdenkender Miene und Lächeln sagte sie; »Ich glaube es gewiß; aber wenn es sich öfter finden sollte, daß ich auf diese Art schnell denke, und Sie geschwind empfinden: so werden wir wie zwey Leute seyn, die erst einander ruhig gegenüber saßen, sich freundlich beredeten; eines steht auf, will sich was holen, vielleicht seinen Stuhl näher zum Freund rücken, um das Gespräch vertraulicher[374] zu machen. Wenn nun der Andre, ohne einen Augenblick zu warten, was das Aufstehen bedeute, oder ohne zu fragen, wo gehen Sie hin? gleich auch sich hastig aufhebt: so müssen sie sich wider ihren Willen manchmal stoßen. – Dies möchte ich nicht veranlassen, und auch Sie nicht vermeiden. Was denken Sie nun, was wir thun sollten?«

Können Sie, Mariane, sich Rosalien und all ihre Ideen vorstellen, die während dieser kleinen Abhandlung in ihr entstunden und hin und her gingen, so wissen Sie, daß mein erster Gedanke war: »Madame Guden! dein Reichthum macht dich stolz und eigenmächtig,« Aber da der Ton ihrer Stimme ganz melodisch, und der Ausdruck ihres Gesichts so voll Wahrheit war: so wandten sich auch meine Gedanken auf eine andre Seite. Ihr Billet sagte von Kummer, und ich weiß, daß dieser in einer starken Seele Entschlossenheit hervorbringt, die sich nicht immer damit abgeben kann, jede Idee in fein gebogene Formen zu bringen. Zudem hatte sie Recht; es war doch zum größten Theil Neugierde, so mich bisher nach ihr gezogen hatte. Ich antwortete[375] also, ich dächte in Zukunft voll Vertrauen sitzen zu bleiben, wenn sie aufstünde; doch hofte ich, manchmal ihren Stuhl gegen mich ziehen zu dürfen. – »Sie werden also die schönere Rolle spielen; ich gönne es Ihnen, und wünsche, daß Ihre Lebhaftigkeit niemals zur Unruhe werden möge!« – Nun sagte ich: »Werde ich Sie nicht in Ihrem Hause sehen? In diesem hier sind es nur abgebrochene Stücke.« – Sie lächelte, stund aber gleich auf und bot mir den Arin. »Kommen Sie, ich will mit Ihnen noch einmal Freundschaft wagen.« – Wir waren bald da. Ihre Zimmer sind mit Zitz ausgeschlagen; Bett und Stühle gleichfalls. Bey den Büchern blieb ich stehen; und da es mir unmöglich war, mein Staunen zu verbergen, weil ich lauter Reisen fand, und sie es natürlich bemerken mußte, so sprach sie: »Sie suchten andre Bücher; ich hab' auch andre gelesen; aber meine jetzige Gemüthsverfassung läßt mich nichts Spielendes und nichts Denkendes vornehmen. Ich suche Glückseligkeit. Mein Herz und Kopf sind noch nicht einig darüber. Ich bin dem erstern gefolgt, und elend geworden. Mein Verstand will[376] mich trösten, aber es kostet Mühe und ich maß mit mir selbst Umwege nehmen.« – Ich nahm sie bey der Hand, und gewiß mein Herz stimmte den Ton meiner Worte, indem ich ihre Hand gegen meine Brust bewegte. »Mühe und Umwege zu ihrem Glück, während Sie das' so vieler andern so leicht, so geradezu machen! Wie ist das?« – »Ach, was für Glück geb ich! Nahrung, Kleidung, Wohnung: dies füllet den Zirkel der Wünsche des guten Volks; und o, wie heilig sind mir diese Schranken, in welche ich gewiß von meinem Mehrwissen und mehrerm Reichthum nichts übertragen will, als Liebe der Reinlichkeit. Alle Verfeinerung ihrer Begriffe soll in nichts als einer gefühlvollen Liebe ihres Schöpfers bestehen, der das Loos ihres Lebens aus weisen, wohlthätigen Ursachen auf den Weg der Arbeitsamkeit legte. Und dann will ich sie auch jeden Segen, jede Blume der reinen Freuden der Natur bemerken lehren, die sie mitten, und am Ende ihres Tagwerks, reichlich finden können. Meine Erziehung, meine Kenntniß der Welt, mein Vermögen, haben mir Bedürfnisse gegeben, die mehr als alle dies erfodern,[377] wenn ich glücklich seyn soll. Sie, Rosalia, und Andre, die unsern Kreis durchgehen, müssen Sie nicht auch hundertfach mehr zu dem Maaß Ihrer Zufriedenheit haben, als diese Leute?« –

Feyerlichkeit, süsse Sanftmuth edler, zudringlicher Ernst war in dem abwechselnden Ausdruck ihres Gesichts und Tons. Und ein Theater sollte sie gebildet haben? Nein. Mariane, das kann nicht seyn. Das Theater kann einen schönen Geist, eine fein empfindende Seele bilden: aber ein so starkes inniges Gefühl vom Wohl und Weh der großen Masse des Volks, das richtige, ernste Abwägen der Ursachen und Natur des Glücks giebt allein das große Schauspiel der Welt und die Geschichte der Menschheit. In dieser Frau ist eine eigne Seele, und in ihrem Geschick müssen auch eigene, sonderbare Züge seyn. Sie hat mir einen Auszug ihres ganzen Lebens versprochen, und bis dahin soll ich sie weder zu gut, noch zu übel beurtheilen, auch von dem, was mir an ihr gefällt, ja gegen Niemand zu vortheilhaft sprechen. – Und da ging sie an ihr Clavier, spielte Phantasien, nicht stark in der Geschwindigkeit, aber nett im Ausdruck,[378] lauter charakteristische Gänge, Selbstgespräche, Seufzer und Einwiegen beunruhigender Erinnerungen. Sie hat aber noch ein Talent, welches für mich viel beneidenswürdiger ist, als ihr Gesang und Spiel. Sie zeichnet jede Idee ihres Kopfs, jedes Bild, so in ihrem Herzen entsteht, oder vor ihr Auge kommt, den Moment, mit der größten Leichtigkeit und einem reizenden Geschmack, auf den nächsten Bogen Papier. So macht sie es, wenn sie in einem Buche was findet, oder in einer Erzählung hört, das ihr als Gruppe oder Figur gefällt. Denn ich fand in einer Reisebeschreibung, die auf ihrem Tisch lag, mehr als zehn gezeichnete Stücke, deren Beschreibung sie damit gemerkt hatte; einsame, ländliche Gegenden, Ruinen, ein schön liegendes Haus, Hauptpersonen einer Gesellschaft. – Ja, während ich blätterte, verfertigte sie mein Bild, so wie ich mit etwas vorwärts gesenktem Kopf auf das Buch sahe; und ich versichre Sie, Mariane, daß es mich sehr freuen würde, wenn ich einmal in einer entscheidenden Stunde in den Augen meines Freundes so viel Grazie hätte, als mit Frau Guden in ihrer leichten Zeichnung gegeben hat. –[379]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 373-380.
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