Ein und siebzigster Brief

Madame Guden an Rosalien.

[134] Ich denke, Rosalia, Sie haben Alles mitgefühlt, was ich von der rührenden Geschichte meiner Wollinge mit meiner Feder wiederholen konnte. Es ist unmöglich, daß ich alle die feinen Mischungen mitschreibe, die Charlotte in ihre Erzählung brachte. Sie lag einige Minuten an meinem Hals, eh sie fortreden konnte. Mit niedergesenkten Augen, und eine meiner Hände in den ihrigen gegen ihre Brust hebend, fragte sie mich: »Sagen Sie, vergeben Sie mir, daß ich bey Carln blieb? Sie wissen, daß ich mit ihm getraut war.« –

»Ja, mein Kind; – Ich vergeb Ihnen von Herzen! Möchten Sie nur immer gleich glücklich gewesen seyn!« ––

Ach! mein Glück welkte so bald, wie die Blumenkränze um unsere Hütte; und Carl, der arme Carl, hatte einige Zeit viel mit mir zu leiden. Die Regentage, die Zeit, da er wegging, etwas zu holen, saß ich voll[134] Verzweiflung und Angst in einem Winkel versteckt – und um die Zeit der Rückkunft meiner Mutter, – o, wie war mein Herz zerrissen! Ich schrieb ihr und Carl auch. Sie wollte uns nicht sehen. Der Zorn und die Sorgen über uns machten sie krank. Mein Kummer um sie gab mir Muth, Carls Abwesenheit zwey Tage zu ertragen. Es waren freylich Sommernächte, aber ich neunzehn Jahr alt – und so sehr empfindlich; allein, ganz allein, in dieser Einöde! Ach, mein Gebet erhielt mich, und auch der Gedanke daß ich alle meine Angst, all meinen Jammer verdiente, weil ich meinen Eltern, und also dem Gesetz Gottes ungehorsam gewesen sey. Ich warf mir den Tod meines Vaters und das Elend und die Krankheit meiner Mutter vor; hatte oft das Herz nicht mehr, Gott um Hülfe anzurufen und dachte immer in der Beklemmung meiner Seele an den Fluch unsrer beiden Väter über uns. – Wir schliefen auf Moos, – jedes hatte nur zwey Hemden; kein Küssen, keine Decke, als die beyden Bettücher, die ich für Carln zu Hemden mitgenommen hatte. Ich hatte sechs Gulden von der Wittbe geborgt und ihr dafür[135] alle meine Geräthschaften zum Pfande gelassen. Unsere Löffel wollten wir nicht verkaufen und lebten höchst kümmerlich so fort. – Fleisch assen wir lothweis, denn wir kauften die Woche nur ein Pfund. – Ich nähte die zwey Servietten zusammen und stopfte sie mit Moos zu zwey Kopfpolstern aus. – Sie müssen den Wasserbehälter sehen, den mein armer Mann, mit der Mühe und Erfindsamkeit machte, welche das Gedränge der Noth giebt. Darein tauchten wir unsere Hemden und übergossen sie mit leichter Lauge und wuschen sie. Ich bleichte, trocknete und strich sie mit meinen Händen glatt. – Ich hatte nur eine Schürze, zwey Röcke und zum Glück ein Schlafwämschen, neben dem halben Kleide, so ich den Tag meiner unglücklichen Flucht aus dem kindlichen Gehorsam anhatte. – Meine daurende Thränen und Seufzer erschütterten das Herz meines Mannes, der Tag und Nacht arbeitete und tausendmal seinen Verstand erschöpfte, um mir Trostgründe und Hofnungen beizubringen. Ich vermied ihn oft und blieb allein. Es schmerzte ihn. – Er hatte ein Stück mit Haber und eins mit Flachs besäet; sein Gärtchen[136] wurde alle Tage größer; wir aßen gutes Gemüs. – Er war ruhig und immer zärtlich, aber einige Tage stiller und nicht mehr so vertraut. Einen schönen Abend gingen wir schweigend, aber Hand in Hand, noch hieher. Ich setzte mich, denn ich fühlte, wie eine Vorbedeutung in mir, daß ich einer großen Veränderung nahe sey. Carl wandte sich halb von mir ab, sah mit tiefem Blick, und mit langsam hebender Brust, gegen die Seite der niedergehenden Sonne. Endlich sagte er mit Ausdruck von Schmerz und Vergnügen. »Schöner stärkender Himmel!« – sezte sich neben mich und nahm wieder eine Hand von mir: ––

»Meine Charlotte! ich wünsche innig, daß Ihnen dieser Anblik,« – er deutete auf die Wolken, »eben so stärkend sey wie mir. – Hören Sie mich an; mein Herz hat Ihnen einen Vorschlag zu thun.« – »Ja, mein Carl! Aber warum sagst du: Ihnen – Sie? – was ist das?« ––

»Lassen Sie mich so reden, Liebe! lassen lassen Sie mich so«; antwortete er. Ich schwieg da. ––[137]

»Ich habe Sie elend gemacht, durch die zärtlichste Liebe elend gemacht. Vergeben Sie mir, Charlotte! und willigen Sie in die Genugthuung, die in meiner Gewalt ist. – Gehn Sie Morgen mit mir nach Ihrem Aufenthalt zurück. Ihre Mutter wird Sie mit Güte aufnehmen. Hier haben Sie die Versicherung davon.« – Er gab mir einen Brief von meiner Mutter. »In dem Schooß dieser Mutter werden Sie sich trösten und erholen. – Die Zeit hilft auch. Nehmen Sie den Namen an, den Ihr Vater bey unsrer Trauung Ihnen gab. – Es ist ein Titel dabey, der wird Ihren Herrn Schwager bewegen, Sie neben Ihrer Frau Mutter in sein Haus zu nehmen. Da werden Sie Mutter- und Schwesterliebe geniessen. Verkaufen Sie Ihr Geräthe, Ihre Ringe und Löffel; es wird Ihnen so viel tragen, daß Sie nicht ganz abhängig seyn werden. – Sagen Sie, ich wäre fort, mein Glück zu suchen. Ach! Sagen Sie darüber, was Sie gut dünkt, was Ihnen Gutes thun kann. – Vergeben Sie mir nur Ihr Elend, Ihre Verbindung mit mir! Lassen Sie sie aufheben. Die Umstände, in denen Sie damals waren,[138] werden es sehr erleichtern; und ich, – ich will Alles bekräftigen, Alles unterschreiben, was für Sie, was zu Ihrem Besten seyn kann. – Sagen Sie nur meinen Aufenthalt Niemand. Lassen Sie mir den Löffel, mit dem Sie assen, und die Stücke Weißzeug, die uns deckten. – Ich will sonst nichts!« – Er breitete seine Arme aus. –– »Ganze, ganze Welt! ich will sonst nichts!« ––

Ich hatte, wie Sie denken können, immer fort geweint. Er schien es nicht zu achten und seine Augen und sein Gesicht waren trocken; nur manchmal roth, manchmal gezogen. Er hatte aufgehört zu reden. Ich schluchzte laut. Er wischte meine Augen, seufzte, war aber noch fest genug –– mir ruhig zu sagen: »Kommen Sie! wir wollen den Brief Ihrer Mutter lesen.« ––

»Ich konnte nicht reden; nur meine Hände ringen. –– Ich hoffte gewiß zu sterben, so übel, so schmerzvoll war es mir, Carln unempfindlich bey den Thränen zu sehen, die ich vergoß. –– Meiner Mutter Brief war freundlich. Sie lobte Carln über seinen Entschluß und sein Anerbieten einer Ehescheidung; setzte hinzu, sie würde so nach dieser[139] Trennung nimmer gelitten haben, daß wir uns sähen, und hätte wohl vermuthet, daß der Wahnsinn meiner Liebe austoben würde. Aber, ich bin Mutter, endigte sie! komm mein Kind! komm, du sollst mich als deine treue, zärtliche Mutter finden, so lange ich lebe.« ––

Seine Stimme war ziemlich bewegt, so lange er las; aber keine Zähre trat in seine Augen. Das quälte, und empörte mich äusserst. Als ich ihn nun vollends den Brief wieder mit gesetzter Miene zusammenlegen sah, trockneten jähling meine Thränen. Ich riß mit Zorn den Brief meiner Mutter aus seiner Hand, warf ihn weg: – »Ich bin selbst Mutter!« schrie ich und schlug mit Verzweiflung auf meinen Leib; – »ich selbst! – und Du!« – Ich stieß meinen Mann von mir. – »Du? hart, unempfindlich, wie mein Vater es war.« ––

Er fuhr auf, schlug seine Hände zusammen, blickte mich an. – Ach! ich kann nicht sagen, wie? – fiel mit Heftigkeit hin, auf seine Knie vor mich; umfaßte mich, konnte auch lange nicht reden. – Ich wollte mich losmachen von seinen Armen, aber er hielt mich umklammert.[140]

»Charlotte! Du bist Mutter?« –

»Mutter!« –– Er betrachtete mich einen Augenblick, mit einem unsäglichen Ausdruck seines Gesichts. ––

»Grausame! Du sagtest mir nichts!« – Nun ströhmten Thränen von seinen Augen. Er legte seinen Kopf auf meine Knie und weinte laut. – Ich sagte noch, indem ich meine Arme um mich legte: »Ich hoffe, armes Geschöpf, Du sollst mit mir zu Grunde gehen und sterben.« ––

»Er umfaßte mich – und schrie, stammlend vom Weinen: O, Charlotte! sey gern Mutter! – Mutter meines Kindes. –– Liebe mein Kind, liebe mich!« ––

Ich schwieg; er auch. Dann richtete er sich auf. – »Ich Vater! Du Mutter! – Charlotte, du bist mein, ewig mein;« – mit Entzücken umarmete er mich da. »Vergieb! vergieb mir Alles! Vergieb mir, um meines Kindes willen! – Nun kannst Du, nun darfst Du nicht von mir!« ––

Ach Gott! das Lächeln des Glücks und der Liebe verbreitete sich über all seine Züge. Ich weinte wieder sanft; ich fühlte auch all meine Liebe wieder. Er küßte meine Thränen[141] auf. – »Charlotte! beruhige Dich. Lebe! laß mein Kind leben. – Dein Gram tödtet es. – Lebe mit ihm, Du Theure, Angebetete, Du! seine Mutter!« ––

Eine Zeit darauf erhob er seine Hände zum Himmel: »Ewiger Vater! du gabst mir die zwey Geschöpfe; hilf, o, hilf mir sie erhalten! Stärke, segne diese Arme! segne diesen Boden!« ––

»Er streckte seine Arme nach aller Kraft seiner Sehnen aus; blieb etwas still, setzte sich dann zu mir, umarmte mich zärtlich. – Du bleibst nun bey mir! – Sieh Charlotte, die so schönen Abendwelken, von Gott so herrlich gefärbt! Morgen zerfliessen sie in einen fruchtbaren Regen. – Hier, in dem großen Thal vor uns, wächst Nahrung für viel tausend Geschöpfe: und hier sollte Gott uns nicht ernähren? meiner Hände Arbeit nicht segnen –– für Dich – für mein Kind? – Auf dem Boden, wo er Alles hervorspriessen läßt, um Käfer, Gewürme. Vögel und Wild ihre Nahrung finden zu lassen; und für mich, für Dich – solle ich an seiner väterlichen Vorsorge zweifeln?« –[142]

Er besänftigte hierdurch meinen Schmerz und ich ging an seinem Arm glücklich, in unsre Hütte zurück. – Er erzählte mir, wieviel er gelitten, um sich zu unserer Trennung zu entschliessen. Er habe auch die Stärke dazu bloß in meiner anfangenden Kälte gegen ihn, und meiner immerwährenden Traurigkeit, gefunden; weil es ihm unmöglich gewesen seyn würde, mich länger so um sich zu sehen. – Ach, er war nicht gleichgültig, der gute Carl! Unsre Liebe küttete sich nun fester – und blieb es bis auf diesen Augenblick. – Aber mit meiner Mutter hatten wir aufs neue zu kämpfen. Sie vergab uns diese Abänderung unsrer Gesinnungen lange nicht, und hielt den Beweggrund meiner Umstände für erdichtet. Endlich ging ich mit Carln ihr nach – und da konnte sie meinem Anblick und meinem Flehen nicht widerstehen. Sie vergab uns und segnete uns; weinte über mich, über ihre Armuth, über die meinige. – Wir baten sie inständig, niemand zu sagen, wo wir wären, und einmal zu uns zu kommen. Sie versprach es. – Diese Hoffnung und ihr Segen und ihre uns bezeigte Liebe, stärkten mich zum[143] Rückweg. Sie hatte auch Carln geküßt und uns gesagt, da sie unsere Hände hlelt: »Ach! wollte Gott, Ihr wäret meine glücklichsten Kinder, so wie ihr meine Besten seyd!« –

Auf die Zeit, da wir wußten, daß sie zu uns kam, puzten wir unser Gärtchen, unsere Hütte und alles, recht sauber und artig; wie auch den ganzen Weg nach Mahnheim, den Carl mit dem Rechen ebnete und die Steine weghob. – Aber sie war sehr traurig, mich hieher verbannt zu sehen. – Ich zeigte ihr nichts als Zufriedenheit. – Sie verkaufte meine Ringe, vier Löffel und das Zinn- und Kupfergeschirr, schrieb dann dem guten Beamten Mooß, zum Besten meines Mannes; und sagte ihm, daß er ehemals ihr Kammermädchen geheyrathet habe. Er möchte ihn seine Gärtnerey da oben fortführen lassen und erlauben, eine neue Hütte zu bauen. – Die bekamen wir noch im October, wie auch Betten, Weißzeug und Kleidungsstücke, wie sie für Gärtnerleute taugten. Carls Flöthe und einige Bücher kamen auch. Ich hörte die Betrachtungen meines Mannes über den wahren Unterscheid der Stände, wurde mit dem meinigen vergnügt;[144] gewöhnte mich hier zu leben, half ihm arbeiten, er mir; – denn im Winter strickten wir beyde und spannen auch. –– Seine Sorgfalt um mich ist nicht zu beschreiben; und sein Kummer auch nicht, da ich, mit vielem Web, ein todtes Kind zur Welt brachte, – und er seine Vaterfreuden verlohren, – ich für mein zärtliches Herz keine Belohnung meiner Leiden hatte, und meinen armen Mann eine Leiche an sein Herz drucken sah. – Ach! Madame, welch ein Kummer bemächtigte sich meiner! – Ich rief von meinem Lager: »O, Carl! immer noch Strafe für unsern Ungehorsam! Möchten es alle junge Leute hören, was wir für Leiden ertragen müssen, und möchten sie eher sterben lernen und sich abhärmen, als mit dem Väterlichen Fluch beladen werden!« ––

»Ich zerriß da meines Mannes Herz zum leztenmal, weil ichs mir nimmer würde vergeben haben, ihn noch einmal so zu kränken, wie es da geschah. – Es war hart und unbesonnen von mir; denn die Frau, die mir beistand, konnte uns schaden. – Wir ergaben uns mit einander dem Schicksal und weinten vereint[145] über das schöne todte Bild, das wir vor uns hatten. Wir liebkosten es, hielten seine Händchen. Hätte Vater- und Mutterliebe es zum zweytenmal beselen können: es würde erwacht seyn. – Ich konnte mich von den Ueberresten nicht trennen und wollte es bey uns haben. Sein Vater trug es selbst in das Bett der Verwesung und legte es in unser Blumengärtchen, wo Sie seinen Grabhügel gesehen haben. Ich war lange ziemlich schwach, wurde aber gegen das Frühjahr stark genug, um Carln alle kleine Arbeiten abzunehmen. Ich selbst umpflanzte das Grab meines Erstlings mit Veilchen und zog einen Kranz von Blumen an der Stelle, wo sein Köpfchen liegt. – Ich weiß noch nicht, was für ein anziehendes, trauriges Vergnügen ich daran fand. – Carl entdeckte eine feine Lettenerde; daraus formte er Blumentöpfe, trocknete sie an der Sonne und flochte sie mit Weiden ein, daß sie nicht aus einander fielen, weil sie ungebrannt waren. Von dem Letten machte er auch, auf dem Absatz der Mauer, eine Art von Wand, mit Weidenflechten, daß die Erde nicht vom Regen abgeschwemmt werden[146] konnte, und seine frühen Obstbäume gut fort wüchsen. – Der Beamte bewilligte uns Brennholz, so viel wir brauchten und wir durften, da wir mehr Kinder bekamen, vier Ziegen halten; auch größere Stücke mit Korn anpflanzen. Meine Mutter besuchte uns die zwey Jahre, da sie noch lebte, manchmal. – Der Stein, den ich meinen Altar nenne, war ihr letzter Ruheplatz bey uns. Da sah ich sie, da küßte sie mich das letztemal! Ich kam bald mit Lottchen in die Wochen und konnte sie nicht mehr besuchen.« Sie weinte hier still. »Ach! Madame, es ist kein Fleckchen um uns herum, das nicht mit meinen Thränen benetzt wurde und ich glaube, daß mir dieser Boden auch deswegen so lieb ist.« ––[147]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 2, Altenburg 1797, S. 134-148.
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