Einleitung des Verfassers.

Zahlreiche Nachfragen, ob das Drama »Die Karlsschüler« noch nicht als Buch käuflich zu haben sei, bestimmen den Herrn Verleger, diesen sechsten Band zu einer Zeit schon auszugeben, welche im gewöhnlichen Gange noch die erste Theaterlaufbahn des Stückes in sich begreift. Unsern mangelhaften Gesetzen nach sind aber Theaterlaufbahn und buchhändlerischer Verkauf eines Stückes geschworne Todfeinde. Ist dies nicht eine eigentümliche Erfindung zum Gedeihen dramatischer Schöpfung? Gute Theaterstücke fordern wir mit höher gespannten Forderungen als irgend eine Nation, und die gemein irdischen Wege für die Laufbahn eines Theaterstücks verschließen wir ebenfalls sorgfältiger als irgend eine Nation. Ist diese Logik eine absonderliche, oder ist es gar keine?

Sobald nämlich ein deutsches Stück im Buchhandel erscheint, kann es von jeder Bühne ohne das geringste Honorar für den Verfasser aufgeführt werden. Die Bühne zahlt wie jeder Privatmann ihren Taler Ladenpreis dem Buchhändler und wirtschaftet nun mit dem Stücke, wie sie mag. Was doch eigentlich nur verkauft ist zum Lesen, das wird für sie Gegenstand eines Geschäftes. Sie teilt es in einem Abende tausend Menschen mit, welche nun das Buch nicht mehr zu lesen und zu kaufen brauchen, und es ist nicht die Rede davon, ob hierdurch ein wichtiges Eigentumsrecht verletzt werde. Ja, sie verschneidet, verstümmelt, verwertet es nach Gutdünken, unbekümmert darum, ob der Verfasser sein Stück für die Bühne ganz anders eingerichtet habe als für das Lesepublikum, unbekümmert, ob solchergestalt der Ruf des Stückes und des Verfassers leiden können. Das Stück ist eine gute Prise, sobald es im Buchhandel erschienen ist, und der Verfasser hat den Bühnen gegenüber kein Recht mehr zu irgend einer Forderung, zu irgend einem Einspruche.[149]

Unsere beiden größten Theater, das Burgtheater zu Wien und das Hoftheater zu Berlin, haben früher als die juristische Behörde die Einsicht gehabt, daß hier ein Unrecht vorliegt, und haben für sich diesen Unterschied zwischen Manuskript und Buch aus eigner Billigkeit aufgehoben. Sie honorieren auch das im Buchhandel erschienene Drama. Bei allen übrigen Bühnen ist es ein Akt einzelnen Wohlwollens, wenn sie dies tun, und obwohl wir neuerdings in all diesen Punkten Fortschritte gemacht und in den meisten Beziehungen solcher Art einen anständigeren Stil gewonnen haben, obwohl wirklich heutigen Tages die Direktoren der zunächst folgenden Hofbühnen zu Dresden und zu München und wahrscheinlich auch die edleren Stadtbühnen eine Ehre darein setzen, solch eine Benutzung auf Kosten des Verfassers zu verschmähen, so sind wir doch noch weit entfernt von einem Gewohnheitsrechte, welches sich gegen schreiende Unbilligkeit einzustellen pflegt. Weit entfernt, und diesem doch vielleicht näher als der Erringung eines Gesetzes!1

Es ist hier nicht der Ort, die Rechtsfrage zu erörtern. Wir haben dies zu wiederholten Malen getan vor den zuständigen Behörden des Vaterlandes und haben keine Änderung erwirkt. Zuletzt ist es vor den sächsischen Kammern geschehn. Wiederum vergeblich, obwohl die erste Kammer zustimmend auf unsre Petition einging. Die zweite Kammer hat, wenn auch mit geringer Majorität, unser Begehren abgewiesen.

Wenn aber nicht eine Erörterung der Rechtsfrage hier am Orte ist, so ist's doch ein Hinweis auf die praktische Bedeutung der Frage. Diese Bedeutung ist sehr groß; denn das Interesse des Publikums am Theater und somit das Theater selbst wird ungemein gehoben und gestärkt, wenn das Stück zu gleicher Zeit dargestellt und als Buch verkauft wird. Die Neugier ist ein Hebel von geringerem Werte als die Wißbegier. Bloß auf die Neugier zu spekulieren, wie dies bei unserer Ausschließung des gedruckten neuen Theaterstückes geschieht, ist ein dürftiger, dem mannigfaltigen und tiefen Zwecke nicht entsprechender Stil. Und man verliert auch nicht einmal den Hebel der Neugier, wenn das neue Stück schon[150] gedruckt vorliegt. Ein großer Teil des Theaterpublikums ist nicht so eilig mit dem Kaufe eines Buches und bewahrt sich die erste Illusion. Dieser Teil des Publikums hat aber doch nach dem ersten Anschauen das Bedürfnis, genau zu erfahren und still zu prüfen was ihm schnell vorübergeführt worden ist. Kann einem solchen Bedürfnisse genügt werden, so ist dies ein offenbarer Gewinn für tieferes Interesse am Theater. Man verliert also nicht einmal die Neugier, sondern man veredelt sie, und man gewinnt obenein den Hebel der Wißbegier. Alle besseren Theaterfreunde fühlen sich doppelt angeregt, wenn sie das Stück in Händen haben; sie üben ihre Phantasie, indem sie sich selbst eine Vorstellung machen, wie die wirkliche Vorstellung wirken werde und wirken könne, sie üben ihre geistigen Kräfte, indem sie Debatten erregen, welche mit immerwährend möglicher Berufung auf die Einzelnheiten des Buches gründlich geführt werden können, sie wecken solchergestalt in sich selbst die schlummernden Fähigkeiten für eigne dramatische Schöpfung, sie spornen die Schauspieler zur Gründlichkeit; denn sie haben die vollständige Kontrolle der Schauspieler in der Hand, sie nötigen die Kritiker zu gründlicher Wahrheit aus demselben Grunde, sie werden mit einem Worte zu viel größerer Mitwirkung ermächtigt. Und je mehr Menschen beteiligt werden, desto vollständiger wird jede Sache.

Dabei ist der Gleichgültigen noch gar nicht gedacht, derjenigen nicht, welche sich ohne Inhalt in den Gesellschaften umhertreiben, und welche nun plötzlich in einem überall vorrätigen neuen Theaterstücke einen überall verständlichen Inhalt finden; es ist derjenigen nicht gedacht, welche durch Lebensart und unübersteigliche Hindernisse vom Besuche des Theaters ausgeschlossen sind, und welche nun auf einmal durch das vorhandene Buch an einer Welt des Interesses teilnehmen können und zu einer Zeit teilnehmen können, während welcher dies Interesse durch Aufführung des Stückes seinen Höhepunkt erreicht.

Das alles, was ich hier nur andeuten und nicht einmal erschöpfend andeuten kann, wie wichtig wäre es besonders in Deutschland, wo man mehr denn anderswo der Gründlichkeit zuneigt, wo die Lektüre der gesuchte Vorhof ist für alles, wo man so gern vorbereitet ist für öffentliche Handlung, wo die Bildung wirklich verbreiteter ist als in irgend einem Lande der Welt, wo also ein gedrucktes Buch mehr Teilnehmer findet als irgendwo, wo so gern[151] jedes Ländchen, ja jedes Städtchen ein selbständiges Urteil haben möchte und doch über Theaterstücke aus Mangel an gutem Theater, aus Mangel an irgend einem Theater nicht haben kann! Das Land der Zentralisation hat diese gründliche Hilfsbedingung für ein mächtiges Theater längst eingesehen und eingeführt, Frankreich, welches mit seinem Paris dieses Hilfsmittels viel eher entbehren könnte als Deutschland, Frankreich hat dies Hilfsmitttel längst in Wirksamkeit! Dort begreift man nicht, wie an der Rechtmäßigkeit, ja Notwendigkeit desselben zu zweifeln sei. Im innersten Wesen dieser Frage ist es wie mit dem Nachdrucke, obwohl der äußere Anschein entgegengesetzt ist. Der kurzsichtige Volksfreund meint der Mehrzahl einen Dienst zu erweisen, wenn er den Nachdruck gut heißt, weil er solchergestalt die guten Bücher wohlfeil und verbreitet mache. Aber er übersieht, daß für jeden Strom eine Quelle nötig ist, er übersieht, daß keine guten Bücher entstehen, wenn die Entstehung derselben nicht sorgfältig geschützt, wenn für den Urheber eines Buches nicht die Möglichkeit einer großen Eigentumsschöpfung gesichert wird. In dem Staate des Eigentums ermuntert man nur zu Schöpfungen, wenn man ihnen Lohn sichert. Das Theater gedeiht nur, wenn man die Quelle des Theaters, die Dichter kräftigt! Weil man sie für Nebenpersonen erachtet hat, ist dies wunderliche Nachdrucksrecht mit Theaterstücken, das heißt ein freigegebenes Aufführen der bereits gedruckten Stücke entstanden. Die bloßen Verwaltungen zur Hauptsache machen, wie man solchergestalt in Deutschland getan, die Direktionen, welche nur vermitteln, nicht aber erzeugen, zum Hauptaugenmerk des Schutzes nehmen, das ist die verkehrte Welt. Und was ist's für ein Schutz! Für jede einzelne Direktion eine Kleinigkeit an Honorar, für den Dichter aber die ganze Summe all dieser Kleinigkeiten, das ganze Honorar! Weil zwanzig solcher Direktionen einige Louisdor sparen können, entzieht man der ganzen Nation das Urteil und die Teilnahme an einem neuen Drama, indem man den Dichter abschreckt, sein Werk im entscheidenden Augenblicke der ganzen Nation durch den Druck mitzuteilen. Hat das einen haltbaren Sinn? Und nur die mittelmäßigen Direktionen verlieren die paar Louisdor Honorar, nur die schlechten und trägen verlieren sie, nur diejenigen, welche nicht eifrig auf Darstellung neuer Stücke bedacht sind, nur sie werden nicht mehr wie jetzt entschädigt durch Honorarfreiheit für ihr nachlässiges Zuwarten, also nur die[152] Trägheit und Nachlässigkeit wird beeinträchtigt, wenn morgen das gedruckte neue Stück seinen Honorarpreis behält; und diesem kläglichen Schutze wird in gedankenlosem SchlendrJan ein so großer Zweck geopfert!

Möge diese Erinnerung unsere Gesetzgeber mahnen, einem Verhältnisse nachzudenken, welches das Nachdenken wohl verdient. Da in dieser Einleitung und diesem Buche vorzugsweise von Schiller die Rede sein wird, so will ich hierbei aus Schillers eigener Praxis ein Faktum erwähnen, welches dasselbige Thema berührt. Als Schiller den Wallenstein schrieb, lag die Honorarzahlung der Bühnen noch tiefer im argen als jetzt, und dies war für Schiller kein geringes Hemmnis. Er war darauf angewiesen, von seinem Talente den größeren Teil seines Einkommens zu beschaffen, und wenn er zögernd nach langer Pause wieder an dramatische Arbeit ging, und wenn er zweifelnd ausrief vor dem ernstlichen Beginnen des Wallenstein: »Soll ich denn wirklich so viel Zeit und Kraft an ein mißliches Unternehmen wagen?!« so war der unsichere Ertrag eines Theaterstückes in Deutschland auch ein Moment in diesem zagenden Zweifel. Allerdings nur ein Moment, und ich möchte nicht im entferntesten behaupten, daß diese Alltagsrücksicht einen Dichter wirklich bestimmen oder abhalten könne. Aber auch das geringste Moment hat seine Schwere und kann einen unglücklichen Ausfall bewirken, sobald die Wagschalen schwanken. Wenn nun Schiller in jenen neunziger Jahren um einen Grad ärmer war, wenn er zum Beispiel nicht durch die ungewöhnliche Großmut jener holstein- schleswigschen Edelleute unterstützt wurde, durch dies Geschenk von dreitausend Talern, welches ihm die Augustenburg und Schimmelmann so liebenswürdig aufdrängten, lag es dann nicht nahe genug, daß die Wagschale gegen das Drama sank? Und doch datiert von diesem Wendepunkte das Glück des Vaterlandes: in »Wallenstein«, »MarJa Stuart«, »Jungfrau von Orleans«, »Braut von Messina«, »Wilhelm Tell« ein klassisches Drama erhalten zu haben binnen sechs Jahren! Wahrlich, das Glück hat sie uns gebracht, unsre Anstalten und Gesetze haben nicht die geringste Förderung, wohl aber sehr der Rede werte Hemmnisse ausgeübt. Ich lese immer mit Leidwesen die Stellen aus Schillers Briefen jener Zeit, welche diese Wunde berühren, und welche zeigen, daß er gar wohl sorgenvoll auch mit dieser äußeren Wunde beschäftigt war. Noch vor Beendigung des Wallensteins ließ[153] er durch Herrn von Stein Unterhandlungen anknüpfen in Breslau, also mit einem Theater zweiten Ranges, ob er nicht eine kleine Zahl von Louisdor erhalten könne, wenn er sein Stück hinsende vor Erscheinung desselben im Buchhandel. Und die Ermunterung wurde ihm nicht, das Theater fühlte sich nicht berufen, dies kleine Honorar zu zahlen; die Aufführung kam dem Theater noch zeitig genug, wenn das Stück im Buchhandel für einen Taler zu haben sein werde!

Es liegt also dies äußerliche Thema nicht so ganz fern von dem Dichter, welcher Mittelpunkt dieses Buches ist.

Ich habe nun zu erzählen, wie ich auf die verwegene Idee geraten sei, den erst seit vierzig Jahren abgeschiedenen, unsrer Nation so vorzugsweise und so persönlich werten Dichter zum Helden eines Theaterstückes zu wählen. Die Idee ist schon vor neun Jahren in mir aufgetaucht und zwar bei Abfassung meiner Literaturgeschichte. Die Jugendgeschichte Schillers war damals durch Hoffmeisters gutes Buch »Schillers Leben, Geistesentwickelung und Werke im Zusammenhang, dessen erster Band 1838 erschien, sehr erleichtert. Die erste Entwickelung des großen Dichters ist so ungemein belebt durch charakteristische Verhältnisse und Begebenheiten, daß sie sich von selbst zu einer Kunstform darbietet. Ich fand nur keinen Schluß dafür; denn die Flucht Schillers als bloße Begebenheit war mir kein genügender Schluß. Deshalb ließ ich den Plan einer solchen Komposition versinken im Hintergrunde des Sinnes und Gedächtnisses. Zu wiederholten Malen erhob er sich wieder mit einzelnen Figuren und Szenen und winkte mir fragend tief aus dem Dunkel. Traurig mußte ich das Haupt schütteln; denn ich sah keine Möglichkeit eines künstlerisch befriedigenden Endes. Die Größe des Namens, das muß ich eingestehen, hielt mich nicht ab; es schien mir im Gegenteile besonders geraten, eine Charakterentwicklung zu versuchen, für welche uns die geistigen und gemütlichen Motive so erkennbar und so ansprechend vor Augen liegen. Freilich dachte ich nie an einen andern Schiller als an den Schiller von Stuttgart, an den Karlsschüler und Regimentsfeldscheer, den Verfasser der Räuber und des Fiesko. In seinem Werden lag mir seine Romantik. Den fertigen Dichter, den gereiften Mann, den großen Schiller darzustellen, das schien mir stets und scheint mir noch ein Wagstück, welches nicht nur meine Kräfte übersteigt, sondern welches auch[154] meines Erachtens für den künstlerischen Zweck noch nicht geeignet ist. Erfundene Helden der Gegenwart kann man in Szene setzen. sie brauchen nur den Ansprüchen Rede zu stehen, welche wir selbst mit ihnen erwecken. Geschichtliche Größen aber, welche noch ganz und gar der Gegenwart angehören, geraten in ein falsches Licht. Die Atmosphäre ist noch so durchsichtig, die Verhältnisse des Bildes erscheinen nüchtern, nüchterner wenigstens als sie in unsrer Phantasie ruhen, die so naheliegende Wahrheit der Alltagsverhältnisse wirkt platt, weil sie nicht Gegensatz genug bildet zu der Gedanken- und Tatenhöhe des Helden, und was die Hauptsache ist: der Held soll ganz, ganz so wie er kurz vorher unter uns gestanden, wiedergeschaffen werden. Um den vollen Dichter Schiller wiederzuschaffen, müßte man also wenigstens die Dichtungsfähigkeit eines Schiller haben. Wem wird solche Dreistigkeit beikommen! – Jenseits der Gegenwart verändert sich alles: die Ferne ist an sich schon eine Romantik, welche nur charakteristische Höhen und Grenzen zeigt, und welche die Unnahbarkeit des Höchsten aufhebt, weil sie eben nicht eine vollständige, nicht eine wirkliche Kopierung zuläßt. Der junge Schiller, der Verfasser der Räuber steht längst in solcher Ferne: der ganze Inhalt einer neuen Weltepoche liegt zwischen ihm und dem Schiller in Weimar, ja für den vom Reich geadelten Schiller in Weimar, für diesen fertigen Schiller selbst war der ungestüme, drangvolle Regimentsmedikus Fritz Schiller bereits eine romantische Figur, welche er außer sich hinstellen konnte in einer künstlerischen Form.

Dies alles war mir wohl deutlich, aber was half mir die Wissenschaft, daß dort am Neckarufer ein Edelstein zu finden sei, in harter Kieselschale, was half sie mir, da ich die Kieselschale nicht zu sprengen, den Edelstein nicht zu fassen verstand! Was mich zu Gottsched und Gellert getrieben, das mußte mich allerdings doppelt treiben zur Dramatisierung des Räuberpoeten. Alle Gründe, welche ich in der Einleitung zu Gellert angedeutet, mußten hier in doppelter Kraft gelten, und der Erfolg hatte mir's ja einleuchtend genug bewährt, daß unsre Literaturgeschichte fast in ganzer Bedeutung des Wortes unsre Nationalgeschichte geworden ist, daß in den Schicksalen unsrer Poeten der uns allen gemeinschaftliche Funke zu suchen sei, welcher anderswo so schwer zu finden ist, ja welcher anderswo nicht einmal gesucht werden soll, weil man es für unanständig hält, vornehme Personen dem Beifalle der Nation preiszugeben.[155]

Ich suchte zunächst meinen Stoff in zwei andern Persönlichkeiten unserer Literatur: die eine bot ihn im Zusammenstoße mit der geistlichen Welt, die andere im Familienleben. Beide sind interessant, der erste ist sogar mächtig. Aber ich selbst war, zu meiner Schande muß ich's gestehen, ziemlich erlahmt an dem stumpfen Widerstande, welchen uns die Haupttheater bieten. Dies unerschöpfliche Spüren und Schnüffeln, ob dies oder das nicht bedenklich, wohl gar gefährlich sei und deshalb nicht aufgeführt werden dürfe, dies bis zur Bedenklichkeit hinabgeführte System, welches ich einen Monat lang am besten Haupttheater studierte und zum ersten Male in seiner schrecklichen Unendlichkeit erkannte, dies System der Hinderung lähmte meinen Trieb nach dramatischer Schöpfung unbeschreiblich. Gerade jeglicher lebendige Stoff war in diesem Netze von Verneinungen grundsätzlich ausgeschlossen, nur das Nichtsbedeutende hatte einige Aussicht. Und wenn man endlich einmal mit verrenkten Gliedern auf die Szene kommt, dann die Unzulänglichkeit der Darstellungsmittel! Hier kein Held, dort keine Heldin, hier keine Jugend, dort keine Reife! nirgends ein wirklicher Sammelpunkt des Besten im Vaterlande, nirgends also die Möglichkeit eines vollständigen Gelingens, nirgends ein Theater, welches im Prinzip und in den Mitteln das beste der Nation darstellte, nirgends ein Nationaltheater – ich hielt es am Ende doch für eine Torheit, dieser Laufbahn alle Kräfte zu widmen. Da trat an einem warmen Frühsommertage Berthold Auerbach ins Zimmer und hörte diese Litanei, welche ich eben einem Schauspieler aufsagte. »Wie wär's denn,« sagte Auerbach mit seiner ruhigen, nachdenklichen Weise, »wenn Ihr's einmal mit dem Schiller versuchtet! Dem würde doch die ganze Nation zujauchzen.«

Ich schwieg und dachte: Jetzt kommt der auch darauf!

»Na, Laube, das ist der Rede wert!« Das glaub' ich, aber ich weiß es nicht anzufangen! – Und bei mir dacht' ich: anzufangen wohl, aber nicht zu schließen.

»Ja, das ist nicht unsre Sache. Wir sagen bloß: dort in jenem Teil des Waldes ist gutes Wild anzutreffen, wie es zu fangen ist, das bleibt Eure Sache, Sache des Jägers.«

Ich weiß es eben nicht zu fangen. Und so wurde noch ein Weilchen hin und her geredet, und auf all meine Einwendungen meinte Auerbach beim Scheiden: ich sollte Schillers Heimatsjahre von Hermann Kurtz lesen –[156]

Davor würd' ich mich wohl hüten, wenn ich ein Stück schreiben wollte. Die Daten kenne ich hinreichend, und die Auffassung eines anderen befängt einen dann nur, weil man sie nicht wieder los werden kann, falls man nicht schon selbst einen Plan hat.

Diese kurze Unterredung blieb zunächst ohne Folgen, weil ich der Meinung blieb: es ginge nicht mit dem jungen Schiller; denn dies novellistische Ende einer Flucht, welches doch immer das Ende werden müßte, sei ein bloßes Ende und werde kein Schluß.

Zunächst ohne Folgen, aber nicht ohne Eindruck blieb dies Gespräch. Der Dramatiker ist mehr denn irgend ein Schriftsteller auf Zustimmung angewiesen: mit dem Buche kann ich trotzen, mit dem Stücke aber bedarf ich des entgegenkommenden Atems. Daß ein gesunder Mann des Volkes wie Auerbach, welcher den Puls der Nation so kundig fühlt, ebenfalls dies Thema wünschen konnte, daß er keinerlei Bedenken zeigte wegen der noch so großen historischen Nähe, wegen der empfindlichen Pietät für den geliebten Poeten, das war ein starker Sporn für mich, die Kompositionsversuche meiner Phantasie wieder einmal zu erwecken und zu prüfen. Es geschah, und es endete wieder mit Kopfschütteln. Aber je größer das Verlangen, je lebhafter die Absicht, desto reichlicher strömen die Hilfsquellen – ich stand plötzlich still und dachte: Bist du nicht sonst äußerst gleichgültig gegen platte Daten der Wirklichkeit? Sollst du durch ein solches Datum den schönen Stoff unmöglich machen, wenn es eben nichts ist als ein Datum? Hast du nicht in Wahrheit das Recht dazu, im September geschehen zu lassen, was zufällig im Januar geschehen ist? Ja, ja freilich! Und dadurch wird alles anders, die Spannung wird gewonnen, und der Schluß wird erobert!

Dieser Gedankengang ward Entschluß, und mit diesem Entschlusse ward das Stück geboren. Jetzt wundre ich mich, daß ich so lange ratlos vor einer dünnen Bretterwand des Hindernisses habe stehen können; denn als ich sie niedergerissen und die niedergerissene kundigen Leuten gezeigt, da sagten sie einstimmig: wenn es weiter nichts ist! Wir sind aber so: Gott verleugnen wir allenfalls in einem Atem dreimal bei toller Stimmung, aber einen abgeschmackten Jugendbekannten verleugnen wir nicht, wenn er uns noch so ungelegen in den Weg tritt.[157]

Die Räuber nämlich wurden schon in der Mitte Januar 1782 zu Mannheim aufgeführt, und Schiller floh aus Stuttgart erst in der Mitte Septembers desselbigen Jahres. Dies war der Stein meines Hindernisses. Sobald dieser vom Januar bis zum September gerollt war, hatte ich alles, was ich bedurfte! Nun konnten die Räuber noch ein Geheimnis sein, nun konnte der Herzog noch im Laufe des Stückes sie entdecken, nun konnte dem gepeinigten und verachteten Dichter am Ende das Urteil des großen Publikums, der jubelnde Beifall bei Aufführung des Stückes zu Hilfe und zu gründlicher Rettung kommen, nun konnte ein wirklicher Schluß eintreten des Volkes Stimme gegen die absolute Stimme des gewaltsamen Herzogs.

Dieser Änderung folgend ordnete sich denn das seit langer Zeit aufgeschichtete Material in wenig Tagen, und die Abfassung konnte beginnen und konnte in zwei Monaten bei dem Briefe aus Mannheim angelangt sein. Und als das Stück nun mit dieser Umstellung eines wichtigen Datums auf der Bühne erschien, da störte sie nicht nur die Kundigen nicht, sondern – sie wurde gar nicht bemerkt! Ein Zeichen, daß mit ihr gar nichts Organisches berührt, viel weniger verletzt worden war. Nur in Mannheim mußte sie den Unterrichteten auffallen, und Düringer, der Leiter des dortigen Theaters, sprach mir seine Klage darüber aus; denn man wisse noch den Platz, auf welchem Schiller gestanden und die Aufführung der Räuber angesehen habe. Die Darstellung der Karlsschüler ist aber auch dort nicht beeinträchtigt worden durch diesen Widerspruch. Neben dem Organismus eines ganzen Stücks tritt eine einzelne Notiz in den Hintergrund.

Was sonst an Änderungen im Hergange der Begebenheit nötig geworden, ist daneben nicht der Rede wert, und die Charaktere sind so treu, als es mir erreichbar war, nach der historischen Überlieferung gebildet oder erfunden. Das Prinzip dafür muß richtig gewesen sein; denn mehrere noch lebende Zeitgenossen, darunter Schillers eigene Schwester und zahlreiche Karlsschüler, welche über ganz Deutschland zerstreut sind, haben mir die Versicherung geschenkt, daß es damals in solchem Stile hergegangen sei auf dem Schlosse zu Stuttgart. Zu den erfundenen Personen gehört natürlich Laura. Wir wissen nichts Rechtes über diese erste Liebe Schillers, und ich glaube dies sagen zu können auch neben den wertvollen Nachrichten,[158] welche Herr von Scharffenstein, Schillers Karlsschulgenosse und Jugendfreund, im Morgenblatte darüber mitgeteilt. »Schiller wohnte in dem Hause einer Hauptmannswitwe« sagt er; »ein gutes Weib, das, ohne im mindesten hübsch und sehr geistvoll zu sein, doch etwas Gutmütiges, Anziehendes und Pikantes hatte. Dieses, in Ermangelung jedes andern weiblichen Wesens wurde Laura. Schiller entbrannte und absolvierte übrigens diesen ohnehin nicht lange dauernden platonischen Flug ganz gewiß ehrlich durch.«

Hoffmeister hat schon berichtet, daß dieser »sinnlich exaltierte Liebestraum« der Lauragedichte »eher alles andere als platonisch genannt werden könne«, und ich möchte dazu bemerken: Wie kann selbst ein damaliger Freund des Dichters mit Sicherheit sagen, diese oder jene Person sei der Gegenstand dichterischer Phantasie! Sagen wir in solchen Entzückungen dem Freunde, oder überhaupt den Genossen: Diese, diese da mein ich?! O nein! Ich würde diese Bezeichnung einer Hauptmannswitwe als eine wertvolle, aber unsichere Notiz auf sich beruhen lassen, auch wenn uns nicht bekannt wäre, daß Schiller nach seinem Austritte aus der Karlsschule und während seiner kurzen Feldscheerlaufbahn in Stuttgart lebhafter als vorher und nachher seiner Phantasie und sinnlichen Neigung nachgegeben und mancherlei Abenteuer bestanden hat. Hier also ist der erfindenden Gestaltung voller Spielraum gelassen. Die andern Worte Scharffensteins, welche folgendermaßen lauten, kommen vielleicht der Wahrheit näher. »Die gehalt- und glutvollen Gedichte an Laura schlummerten schon lang in Schillers Brust; es war die Liebesmystik dieser jugendlichen, erst ausfliegenden Feuerseele, und nichts weniger als eine Laura gab dieser Flamme den Durchbruch.« Sie kommen der Wahrheit vielleicht näher; denn es ist möglich und wahrscheinlich, daß die ersten Neigungen überhaupt alles auf den Namen Laura gehäuft haben im Ausdrucke des Poeten, welcher als künstlerisches Talent frühzeitig der Einheit bedürftig war. Aber zwingend ist diese Auslegung auch nicht: Schiller kann ebensogut ein ganz bestimmtes Frauenbild, und ein ganz anderes als die Offizierswitwe vor Augen und im Sinne gehabt haben. Was Frau von Wolzogen in ihrem vortrefflichen und wahrhaft liebenswürdigen Buche darüber sagt, ist hierfür von keiner großen Bedeutung. Besondere Details über diese Stuttgarter Zeit scheint sie nicht gewußt zu haben, und[159] sie verlegt auch zum Beispiele den Entwurf von »Kabale und Liebe« in diese Zeit, der offenbar von Hoffmeister richtiger, wenigstens überzeugender in die erste Mannheimer Zeit verlegt wird. Gustav Schwab, welcher neuerdings ein sorgfältig gesichtetes »Leben Schillers« herausgegeben, hat keine neueren Data aufgefunden über diese Jugendliebe. Kurz, Laura kann noch oft und wahr geschaffen werden. Komisch ist es, daß fast jede Stadt, in welcher Schiller sich aufgehalten, die Laura besessen haben will; Stuttgart mit vollem Prioritätsrechte die Witwe; Mannheim die schöne Margareta Schwanin, für welche Schiller allerdings eine Neigung gehegt und gepflegt, welche er aber erst gesehen hat als die Laura-Gedichte schon gedruckt waren in der Anthologie; Dresden das Fräulein von Arnim, für welche er freilich, aber mehrere Jahre später, erst als der Heiratsplan mit der Schwanin längst zerronnen war, in lebhafter Neigung entbrannte; Weimar und Berlin die Frau von Kalb, welche Schiller erst bei seinem dauernden Aufenthalte in Mannheim kennen lernte, und welcher er freilich innig und wahrhaft und dauernd zugetan war, aber nicht in entzückter Laura-Liebe, sondern in edelster Sympathie, so daß bei ihr wohl der Gedanke uns auftauchen kann: sie hätte mit voller Liebe sein Herz ausfüllen können, wenn sie ihm früh genug und frei begegnet wäre.

Sie kam bekanntlich später nach Weimar, und Berlin nenne ich nur darum unter den Prätendenten, weil diese Dame dort bei Aufführung der Karlsschüler als mögliche Laura in Rede kam. Natürliche Veranlassung dafür wurde ihre Tochter, welche dort lebt, und wurde eine Korrespondenz Schillers, welche sich in der Nähe Berlins vorfindet und welche trotz anhaltender Bemühungen noch immer nicht für den Druck gewonnen werden kann. Von Berlin aus wurde übrigens bei Veranlassung dieses Stücks mit fröhlicher und leichtfertiger Unwissenheit in die Welt geschrieben: Laura sei eine Waschfrau gewesen. Das ist ganz bezeichnend für einen großen Teil der dortigen Kritik: Geringschätzung jeglichen Materials, hochbeinige Theorie ohne Lebenshauch, Frechheit der Äußerung, welche durch nackten Sprung den Mangel eines tieferen Interesses ersetzen soll. Ich brauche nicht hinzuzusetzen, daß die »Waschfrau historisch nichts für sich hat als den Geschmack des Journalisten, und daß der größte Teil dieser herzlosen Kritikaster das gebildete Berlin nicht vertritt.[160]

Laura also war der Erfindung freigegeben. Wenn man die erste Regierungshälfte des Herzog Karl betrachtet, die Zeit, ehe Gräfin Franziska ihn fesselte und sänftigte: so wird man es erklärlich finden, daß ich dies Mädchen zur Erleichterung meiner dramatischen Einheit in so nahe Beziehung zum Herzoge bringen konnte. Ob der freie dreiste Ton neben diesem durchfahrenden Fürsten möglich gewesen sei, wird man bei näherer Betrachtung dieses gewaltsamsten und doch populärsten schwäbischen Fürsten mit leichter Mühe entdecken. Ein kerniges Naturel wie das seinige war nicht einen Augenblick besorgt um Verlust seines herrschaftlichen Ansehens. Er forderte heraus und gestattete den Seinigen die muntre Herausforderung; zu den Seinigen gehörten aber die Karlsschüler ganz und gar. Darüber fehlt es nicht an den buntesten Geschichten in derbem Tone und über die geschichtliche Berechtigung des zwanglosen Verkehrs in der ersten Hälfte meiner »Karlsschüler«, ein Verkehr, welcher manchem Norddeutschen Bedenken erregt, bin ich nicht einen Augenblick verlegen gewesen. Gewichtiger ist die Frage, ob es angemessen ist, die Figur Schillers aus solchem oft putzigen Treiben hervorwachsen zu lassen, ob dem großen Poeten nicht auch von vornherein ein strengerer Stil nötig gewesen wäre. Darauf habe ich zweierlei zu erwidern. Erstens habe ich, wie schon gesagt, keineswegs den großen Poeten Schiller zum Helden meines Schauspiels machen wollen und also nicht einen Stil einzuhalten gehabt, wie er im Wallenstein und den ähnlichen Werken Schillers herrscht, sondern ich habe den dreiundzwanzigjährigen Jüngling herausschälen wollen aus einem Schul- und Kamaschentum des Rokokos, welches er nicht ohne Krampf und Lärmen abstreifte. Zweitens habe ich um jeden Preis wahr sein wollen. Der erkünstelte Stil hat uns ums Leben des Dramas gebracht, in dem natürlichen Stile allein können wir meines Erachtens Leben und mit dem Leben Größe wieder finden. Ohne die leicht einhergehende erste Hälfte des Stücks wußte ich für die wahrhafte Wirkung eines jungen überspannten Poeten den Weg nicht zu bahnen, wußte ich die Zeit nicht zu schildern, aus welcher er sich emporrang. Und da man doch die richtige und starke Wirkung der zweiten Hälfte überall anerkannt hat, so kann ich mir den mannigfach begründeten Tadel des Weges wohl gefallen lassen. Wenn die zweite Hälfte des Stücks von manchen wie etwas ganz anderes und Selbständiges und unter[161] Lobpreisung Abzutrennendes geschildert wird, so ist dies eben ein Fetzen jener in der Luft herumfahrenden, auf keinem Beine ruhenden Kritik, welche einer absterbenden, im Schaffen unerfahrenen Zeit angehört. Ohne die Wurzeln in der ersten Hälfte wächst kein Strauch oder Baum für die zweite; ohne die natürlichen und in ihrer Natürlichkeit steigernden Vorgänge weiß ich für die noch unreife Welt eines übertreibenden jungen Poeten keinen Nachdruck zu gewinnen, gegenüber einer gefesteten Welt des absoluten Mannes. Mit Deklamationen ist's eben nicht getan. Daß diese Vorgänge weniger bunt sein und überhaupt besser angelegt sein können, auch um eine bunte Zeit und Welt darzustellen, das räume ich natürlich auf das Bereitwilligste ein. Es ist jetzt nicht meine Absicht und nicht meine Aufgabe, meine Leistung dem Tadel, dem strengsten Tadel zu entziehen, ich nehme nichts als eine nach meinen Kräften sorgfältig erwogene Absicht in Anspruch und weise nichts ab als das zusammenhanglose Absprechen. Letzterem hab ich denn auch freilich nichts zu sagen, was auf Verständnis hoffen könnte, und was die Form im ganzen betrifft. Ich verweise darüber die Wohlwollenden auf die Einleitung zu Gottsched und Gellert. Bietet unsrer Verzweiflungskritik ein Stück mit sorgfältiger Verschränkung und Intrige, so wird es französisch genannt, bietet ein Stück, welches die Intrige möglichst vermeidet und sich deutscher Vorliebe gemäß aus den Charakteren zu entwickeln trachtet, so hört ihr hinter euch schreien: kein Aufbau, keine Intrige, keine Form. Man bedarf einer stets auf Entsagung eingerichteten Gemütsverfassung, um in solchem Hexensabbat nicht Geduld, Mut und Vertrauen einzubüßen. Bei alledem ergibt sich auch aus der Verzweiflungskritik Lehrreiches in Menge, man gewinnt dessen auch von Widersachern, welche an sich keinen Wert und keine Bedeutung haben. Für den Autor gewinnen sie doch eine Bedeutung, und wenn sie ein Stück geschlossenen Auges und grimmig knurrend hastig hin- und herschüttelten, wie der Pudel einen unergiebigen Fund hin- und herschüttelt, so ist dies immer noch heilsamer als manches unbedachte Lob. In der schüttelnden Bewegung lockert sich ihr Hirn, und sie endigen doch wohl mit einem Worte, welches Ärger zusammenfaßt, und welches uns einen unerwarteten Blick öffnet. Was glatt und leicht gelingt, ist ja selten von Bedeutung, und wer sich einbildet, eine so wichtige Form wie die des Theaters ohne wirren, gellenden und beleidigenden Widerspruch[162] anbauen zu können, der möge daheim bleiben: die Form der Leidenschaften weckt Leidenschaften, und Leidenschaften gegen Leidenschaften ist eben Schlacht.

Leider sind auch die Freunde und Bundesgenossen gar sehr gefährlich. Sie schwächen unsere Kräfte, indem sie uns stützen. So möchte ich keinen Augenblick die Gefahr verkennen, welche in der Gunst des Publikums für solche Stücke liegt. Form und Inhalt kommen dem Publikum auf halbem Wege entgegen, und wenn dies öfter geschieht, so ist die Mittelmäßigkeit fertig. Wer die Hand der Nation fassen und dann selbständig bleiben und trotz Murren und Widerstreben aufsteigen könnte, der verdiente die Palme!

Die Hand der Nation gefaßt haben und dann auf derselben Stelle bleiben, ist ebenso übel, als aufsteigen und aufsteigen ohne Verbindung mit der Nation. Dort verschlemmt, hier verflüchtigt man sich. Dort hört die Wirkung auf, der Rede wert zu sein, und hier entsteht gar keine Wirkung.

Die wohlwollend Zuschauenden mögen also nicht zweifeln, daß ich die Zugeständnisse an das Theaterpublikum mit vollem Bewußtsein mache, und daß ich diesen Weg für nichts weiter erachte als für einen Weg, auf welchem das Ziel zu finden sein könne. Welches Ziel? Eine wirksame Dramenform, welche unseren lebendig verbleibenden oder lebendig gewordenen Eigenschaften entspreche, welche unsren tüchtigen und eigentümlichen Eigenschaften und Kräften entspreche, welche sich also nicht bloß auf Autoritäten oder gar nur auf Vergangenes berufe, sondern welche aus bestehendem Leben künstlerische Gestalt bilden will und endlich in gewonnener Fülle von Gestalten und Wendungen einen Stil darstellen kann. Die Götter mögen es wissen, wenn dieses Ziel erreicht wird. Von der jetzigen Generation schwerlich. Die Hilfsmittel unserer Nation sind noch weitaus ungenügend versammelt, und wir kleinen Schöpferlinge stehen nur in erster Linie, weil Zeit und Stunde der Triarier noch nicht gekommen ist. Unterdes haben wir doch die auserwählte Aufgabe mit bestem Gewissen zu erfüllen, und immerhin können wir doch schon getrost sagen, daß ein ungemeines Interesse geweckt worden ist. Mit dem herkömmlichen Spott und Hohn wurde der Versuch eines neuen Theaterlebens empfangen, und binnen wenig Jahren ist doch wirklich ein neues Theaterleben entstanden, und die jetzige Saison 1846–47 hat es doch gegen alle Erwartung bereits dahin gebracht, daß zum[163] ersten Male lauter Originaldramen das Repertoir bilden und ausfüllen, und daß die übersetzten eine ganz und gar untergeordnete Rolle spielen.

Ein eigentümlicher Fingerzeig ist es, daß sich die Kritik in Norddeutschland grell abscheidet von der Kritik in Süddeutschland, sobald ein nationaler Stoff auf der Bühne erscheint und zwar in einer Form erscheint, welche dem deutschen Wesen eigentümlich zu entsprechen sucht. Der Süddeutsche sieht mit Vorliebe auf den Kern, gibt sich der Seele bereitwillig hin, lobt mit Freude und tadelt ungern. Der Norddeutsche umgekehrt mißachtet leicht Kern und Seele und richtet all seine Aufmerksamkeit auf die Form. Sie ist ihm in dem nationalen Versuch befremdlich und verdächtig, weil ihm die Schule viel näher am Herzen liegt, als das Leben. Er tadelt mit innerer Genugtuung und lobt sehr ungern.

Man übersehe nicht, daß ich nur von nord- und süddeutscher Kritik spreche, und nicht vom Publikum. Genauer zu unterscheiden muß ich auch noch sagen statt Norddeutschland: Nordostdeutschland, und statt Süddeutschland: Südwestdeutschland. Im Publikum ist die alte Trennung überwunden, soweit es sich um Hingebung handelt an gemeinschaftliche deutsche Herzenspunkte. Das norddeutsche Publikum wird immer etwas kälter und zurückhaltender sein, als das süddeutsche, aber das natürliche Herzensgefühl für vaterländisches Interesse ist ebenso vorhanden, und die künstliche Bildung, welche dem Norden viel schärfer zugesetzt hat als dem Süden, sie hat den Kern des Publikums durchaus nicht beschädigt. Man kann mit Büchern und besonders mit Theaterstücken in diesem Punkte die lehrreichsten Erfahrungen sammeln. Namentlich mit Stücken, welche auf nationalem Inhalte ruhn, und welche die Bildung ihrer Gestalt in eigner, dem deutschen Wesen entsprechender Weise versuchen; am deutlichsten mit einem Stücke, welches sich nicht auferbauen, sondern welches auferwachsen will im Schicksale und Charakter eines nationalen Helden. Da ist dem Publikum völliger Raum gegeben zur Mithilfe, und der kundige Zuschauer und Zuhörer kann die feinsten Nüancen des Publikums entdecken.

Dies ist mir bei den »Karlsschülern« eine unversiegbare Quelle von Bemerkungen geworden. Die warme Hingebung, die rasche Auffassung, der lebhafte Ausdruck, die schöne Eigenschaft, Fehler gern[164] zu übersehen, wenn das Ganze wohlgefällig ist, hat der Süddeutsche in vollständiger Einheit bewährt. Man hat oft und nicht mit Unrecht gewünscht, es möchte sich ein Hauch davon dem ganzen Vaterlande mitteilen, da rasches, warmes und ganzes Ergreifen unserm deutschen Gesamtwesen nur förderlich sein könne. Nun in betreff der wohlwollenden Aufnahme, welche die Karlsschüler als ein Stück nationalen Stoffes im ganzen Vaterlande gefunden, konnte man wohl meinen, es sei ein süddeutscher Hauch überall hingedrungen. Ich habe natürlich nicht meine Arbeit im Auge, sondern nur den nationalen Stoff, ich habe nur die Seele des Stücks vor Augen, welche ich nicht zu schaffen, sondern nur möglichst treu zu verkörpern hatte, ich habe nur das vor Augen, was mich als den zufälligen Vermittler ganz zur Seite läßt, und kann also meine Bemerkungen ganz unbefangen und ohne allen Bezug auf meine Person aussprechen. Es war eine große Freude, das ganze deutsche Publikum so einig zu sehen gegenüber seinem Schiller, gegenüber der ewigen Streitfrage zwischen Dichter und Fürsten, zwischen der schöpferischen und erhaltenden Macht. Überall war Begeisterung, überall war Maß. Wie ungerecht, dem deutschen Volke maßloses Vorurteil gegen die erhaltende Macht nachzusagen! Überall ward die wahre Berechtigung im Herzoge Karl geachtet. Ja, ja das oft angezweifelte Berlin zeigte sich in seinem Publikum vom stärksten, markigsten und doch besonnensten Ausdrucke im Norden. Schiller fand Enthusiasmus, Döring als Herzog Karl fand im vierten Akte wahrhafte Auszeichnung. Es gab also keinen Unterschied mehr zwischen Süd- und Norddeutschland? Eigentlich nicht. Denn daß man in Süddeutschland: »Es lebe Friedrich Schiller! mitruft und jubelt, das ist nur ein lebhafterer Grad des Ausdruckes, nicht eigentlich ein Unterschied, da man in Norddeutschland diese Stelle ebenfalls mit voller Stärke der Empfindung aufnimmt. Aber es zeigte sich ein greller Unterschied zwischen konstitutionellem und nicht konstitutionellem Deutschland, und zwar zeigt er sich nicht im Publikum, sondern bei den Kritikern. In dem Deutschland mit freien, entwickelten Staatsformen hatten die Kritiker nicht etwa den Tadel verschwiegen, o nein, sie haben gründlicher und für den Autor empfindlicher getadelt, aber der Tadel traf nur den Autor, traf nur mich. Man hatte ein Herz für die Sache. Der größere Teil der Kritiker in Preußen hatte dies nicht. Dies ist nichts Zufälliges,[165] es ist eine geschichtliche Krankheit. Die Kritik entsteht so, wie sich der Staat entwickelt. Im steten Zagen und Zaudern, im steten Besserwissenwollen auch dessen, was der erprobte Sinn der Zeit längst entschieden, in dreißigjähriger absoluter Verneinung hat man die Kritik ins verworrene Dickicht nach sich gezogen, daß sie nun selbst den Wald vor Bäumen nicht mehr erkennt. Einst, bald nach den Freiheitskriegen, war auch in Berlin die Kritik gesund; denn sie durfte das Wesen der Dinge mit natürlichen, geradeaus gehenden Blicken ansehen und bezeichnen. Das blieb ohne Wirkung, ja es wurde abgewichen bald hierhin, bald dahin, bald nach rechtshin, bald nach linkshin. Wer wird nicht irre, wenn er niemals Erfolg hat! Das Auge ist unsicher geworden, das Auge hat schielen gelernt, am Ende methodisch schielen gelernt. Und welche verschrobenen Ansprüche müssen in solcher geschichtlichen Entwickelung entstehen! Ein einfaches, natürliches Wachsen sieht man nicht mehr in seiner Nähe, eine regelmäßige, eins nach dem andern, eins neben dem andern entwickelnde Folge erlebt man nicht mehr in seiner Nähe; muß man nicht da überspannt werden, ärgerlich, unbillig, ja verdreht?! Müssen da nicht jeder Produktion gegenüber, auch wenn sie einen innerlich willkommenen Stoff behandelt, die Nergeleien in erster Linie zum Vorschein kommen! Wer mag sich einem einzelnen behaglich hingeben, wenn ihm in der ganzen Haut unbehaglich zumute ist! So hat's dahin kommen müssen, daß auch ein vom Publikum beifällig aufgenommenes nationales Schauspiel für die Kritik in Berlin nur ein Leichnam ist, der herkömmlich zu sezieren sei. Der hingebende Verkehr mit dem natürlichen Leben ist ihr längst abgewöhnt worden. Läge das bloß an der Landesart? O nein. Die freientwickelten Bäume unter den richtenden Schriftstellern sind allmählich abgestorben aus Mangel an nährender Luft; die neuen Pflanzen aber sind aus demselben Mangel nicht über das Strauchwerk hinaus gediehen. Was macht man aus Strauchwerk, aus bloßen Reisern? Besen und Ruten. Betrachten wir ohne Bildlichkeit die Schriftsteller von dorten. Wir sehen drei Gattungen. Die eine hat sich zeitig genug über die Grenze gerettet, um des wirklich treibenden Lebens im großen Vaterlande wirklich teilhaft zu werden. Die andre hat den guten Instinkt gehabt, sich in Haus und Garten zurückzuziehen, um ihre schöpferische Fähigkeit nicht in unfruchtbarer Krittelei abzunutzen; ja auch die dritte Gattung hat noch tüchtige[166] Leute, welche bitterlich leiden, weil sie die Schmerzen der Lähmung wohl erkennen, aber nicht mehr Kraft und Gelegenheit haben, sich ihr zu entreißen. Ihre schüchtern gewordene Stimme verhallt in dem wüsten Geschwätze eines gründlich verdorbenen Chors. So ist am Ende nichts hörbar geblieben, als die hoffnungslose Horde derjenigen, welche nichts zu vertreten haben, weil sie nichts zu verlieren haben in der Literatur. Die Besseren dieser Horde kennen nichts, und die Schlechteren wollen nichts. Sie wollen wenigstens nichts weiter als sprechen. Je abschmeckender sie sprechen, desto sichrer meinen sie Aufmerksamkeit zu erregen, und so hat denn der große Begriff von Kritik zusammenschrumpfen müssen zu eitel Tadelsucht, Klauberei, Nörgelei und zu unersprießlicher Hyperspekulation, welche alles in allem suchen und vermissen will, eine Katzenmusik ohne Prinzip und Bedeutung. Auch ohne Bedeutung für das Publikum, welches sich in unverwüstlicher Gesundheit abscheidet von dem verzwickten Urteile der Tageskritik.

Glaubt man, ich übertreibe? Nun hier folgt die Summe eines Urteils, welches eine große Berliner Zeitung über die Karlsschüler fällte. Sie lautet In diesem Stücke des Herrn Laube herrscht ein Hundejungenbewußtsein!

Bedarf es weiterer Anführungen?

Als ich bis daher geschrieben, unterbrach mich die Nachricht: Preußen hat eine Konstitution! Ist die Nachricht begründet, dann wird sich auch in Preußen eine Kritik bilden, welche organische Bestrebungen durch gesundes Urteil in Lob und Tadel zu fördern weiß, welche ein Nationalinteresse im Theater zu achten weiß, auch wenn sie den Verfasser des Theaterstücks strafen muß, eine Kritik, welche nicht bloß phrasenhafte Rezensionen sondern eine innere Teilnahme zeigt, eine Teilnahme an Herz und Nieren, nicht bloß an Haut und Knochen.

Über den andern großen Staat, über Österreich, habe ich keine Bemerkung mitzuteilen. Die Karlsschüler sind dort noch nicht erlaubt worden.

Was ich übrigens zu erzählen hätte über die Aufnahme der »Karlsschüler« würde sehr eintönig ausfallen, wenn ich streng bei allgemeinen Gesichtspunkten verweilen wollte. Denn die Aufnahme war sehr gleichmäßig, und es würde mir auch schwer werden, einzelne Theaterführer und Schauspieler anzuführen, welche sich des Stücks[167] vorzugsweise angenommen: ich müßte fast alle nennen. Die deutschen Schauspieler sind dem Stücke, welches ihren Schiller zum Helden hat, mit liebenswürdiger Hingebung entgegengekommen, und in den ersten Darstellungen herrschte überall eine Weihe, ja eine ängstliche Spannung und Aufregung, daß ja nichts verdorben werde, wie ich niemals erlebt habe. Ist diese tiefe Andacht für den großen dramatischen Dichter nicht ein schönes Zeichen von ernstem Sinne? Kann man da noch alten Stiles von Frivolität der Schauspieler reden, kann man da noch zweifeln, daß mit einem so gesinnungsvollen Bundesgeiste ein Nationaltheater geschaffen werden könne, wenn die politischen Hilfsmittel, politisch im weitesten Sinne des Worts, sich nicht so träg und widerstrebend erwiesen? Und noch eins muß ich hervorheben, einen Eindruck, welchen mir die hundert Briefe aus allen Winkeln Deutschlands, die nur ein Theater bergen, tief eingeprägt haben: welch eine bemerkenswerte Bildung ist jetzt unter diesem Stande verbreitet bis in die unscheinbarsten Lagen und Verhältnisse hinab! Entwickelungen der Charaktere und Szenen habe ich von den Sprechern kleiner Theater zu lesen und zu hören gekriegt, Entwickelungen, Ausführungen und Bemerkungen, welche mich in Erstaunen gesetzt. Wie sticht das ab von den Schauspielern in den französischen Provinzen! Was wäre aus solchen Truppen für ein Kontingent zu bilden, wenn die große Gelegenheit für ein großes deutsches Theater geboten und auf rastlose Ergänzung gestellt würde!

Ich habe also nur noch einige charakteristische Punkte zu erwähnen. Das Stück war bestimmt, an Schillers Geburtstage zuerst und gleichzeitig an allen Haupttheatern gegeben zu werden. In Leipzig feiern wir längst schon diesen Tag als einen regelmäßigen Festtag, und ich hoffte durch solche gleichzeitige Aufführung der Karlsschüler auch an vielen andern Orten willkommene Veranlassung dafür zu bieten, daß dieser Festtag eingeführt werde. Man kam mir bereitwillig entgegen an vielen Orten, sogar die beiden Hauptstädte Berlin und Wien, welche sonst so jüngferlich Festung spielen gegen die anstürmenden Theaterstücke, sogar diese machten verheißungsvolle Miene. In Wien ist aber die Intendanz noch nicht zu eigner Zensur ermächtigt und konnte den Termin nicht einhalten. Der Schillertag blieb der Zukunft vorbehalten. Herr von Küstner in Berlin wünschte lebhaft die Karlsschüler zu fördern und hat sie denn auch[168] später sorgsam gefördert, aber den Geburtstag Schillers konnte er ihnen ebenfalls nicht erobern. Die Anregung brachte indessen doch das richtigste zuwege in Berlin: Der Tag wurde zu dauernder Folge ins Repertoir mit roten Lettern eingeschrieben, und Wilhelm Tell wurde gegeben. So schmolz die Schar Freiwilliger; ich behielt aber immer noch die stattliche Aussicht für den geschichtlichen Feiertag. Zuerst dachte ich natürlich an Stuttgart. Dort stand ja die geistige Wiege Schillers, dort steht sein ehernes Monument neben dem Theater, dort hausen soviel gediegene Geistesgenossen des großen schwäbischen Poeten, dort war das Theater seit Jahren mit liebenswürdigster Zuvorkommenheit bereit, den neuen dramatischen Dichtungsdrang zu verkörpern, dort ist endlich Oberregisseur Moritz, welchem die neue dramatische Bestrebung so ungemein viel zu danken hat, noch überboten worden durch Einsetzung eines halbliterarischen Intendanten, kurz, dort ist ja geschichtlich, praktisch und theoretisch alles vereinigt, was einer solchen Feier entgegenkommen mag. Es gab nur ein Bedenken, und dies war für mich keins, ob nämlich der König zugeben werde, daß sein Ahnherr Herzog Karl auf der Bühne erscheine. Das war für mich, der ich sechs Jahre lang die liberalsten Grundsätze am Stuttgarter Hoftheater herrschen gesehn, kein Bedenken. Erstens ist Herzog Karl als ein so gesunder und tüchtiger Vertreter des damals herrschenden absoluten Stiles hingestellt, und er hat als Vertreter des energischen Konservatismus so vielfach recht, daß jedermann ihn respektieren muß. Zweitens hat sich uns der König von Württemberg immerdar als ein wahrhaft freisinniger Regent bewiesen, bei welchem die Poeten stets eine königliche Antwort fanden, wenn von irgend einer ängstlichen Rücksicht oder von beschränkender Etikette die Frage ging. In diesem guten Glauben schrieb ich zu allererst im September schon den Inhalt des Stücks und die Anfrage nach Stuttgart an die Theaterbehörde, ehe noch das Stück zum Versenden fertig war. Die Antwort erhielt ich nach zwei Monaten am 12. November, also nach Schillers Geburtstage, den wir unter enthusiastischer Zustimmung des Publikums eben in Dresden gefeiert hatten mit Aufführung der Karlsschüler. Diese Antwort setzte des Königs Zustimmung auch nicht in Zweifel, aber sie verbreite sich darüber, daß die Intendanz selbst kein günstiges Vorurteil hege für die »Karlsschüler. Denn man finde es in Stuttgart noch nicht an der Zeit, Schiller auf die Bühne zu bringen.[169]

Das gab nun wohl zu lachen, je einstimmiger sich das Publikum für seinen Schiller auf der Bühne erklärte, das gab nun wohl Veranlassung zu Vivats für den Exregenten Moritz, dem so was nimmermehr passiert wäre, aber es hatte doch seine betrübend ernste Seite. Die Überhebung in Vorurteilen scheint doch bei den bloßen Verwaltungsbehörden unsers Theaters unerschöpflich zu sein in Nüancen. Wie unnatürlich ist die Stellung, welche die bloße Verwaltung ein nimmt gegen Poeten! Diese Verwaltung sagt in voller Naivität: Ich habe zu bestimmen, was gedichtet werden soll! Dies und der jähe Wechsel, welcher nicht bloß bei dieser Gelegenheit das uns so wertvolle Stuttgarter Theater aus der Reihe fördersamer Bühnen gerissen und es dem Übersetzungsplunder, wie dem willkürlichen Änderungsplunder an historischen Stücken in die Arme geworfen hat, dies alles verlangt eine genauere Betrachtung. An dieser Stelle fehlt mir der Raum dazu, hier soll nur erzählt werden, wie meine Schar der Geburtstagsbühnen zusammengeschmolzen sei. Die Todesarten sind von dem mannigfaltigsten Reize. Der einst so wichtigen Hamburger Bühne konnte gar kein Anspruch eingeräumt werden auf eine Feier des Schillertages. Dort ist durch die sogenannte Konkurrenz und durch fabrikmäßige Leitung das deutsche Schauspiel ganz verwüstet und von einem soliden Repertoir gar nicht mehr die Rede. Literarischen Anstands halber konnte ich nach Hamburg kein Exemplar verabfolgen lassen und mußte es später auch für Stuttgart verweigern, als dort das weise Vorurteil durch den Erfolg des Stücks erschüttert worden war. Mit Berlin ferner starben für die Geburtstagsfeier sämtliche preußische Bühnen. Es starb nicht viel mit ihnen, das ist wahr, denn sie haben außer Breslau nur dürftige Mittel, und nur in Königsberg macht sich ein höherer Theatersinn geltend, ja Breslau hat sich denn auch später durch die schlechteste und wirkungsloseste Darstellung des Stückes hervorgetan – aber es starb doch eine Anzahl Bühnen für einen Feiertag, welcher auch durch die Anzahl der Feiernden gehoben wird. Sie starben mit Berlin, weil die fürs Theater sonst wünschenswerte Zentralisation in dem entbehrlichsten Punkte nahezu durchgesetzt ist, im Punkte der Zensur. In den Provinzialhauptstädten wartet durchschnittlich die Zensur mit ihrer Zustimmung für ein einigermaßen bedenkliches Stück auf die Zustimmung in Berlin. Was also dort aus besondrer Residenzrücksicht aufgehalten oder beseitigt wird,[170] das erleidet der Uniform wegen auch in der Provinz Aufschub oder Beseitigung. Und ereignet es sich einmal anders, so wird es leicht noch nachteiliger für das Stück. Erscheint nämlich ein Stück früher in der Provinz als in der Hauptstadt, und machen die Berichte über Darstellung desselben auf irgend einen verfänglichen Punkt des Stücks aufmerksam, dann ist für die Hauptbühne selbst, für die Berliner der Aufruf zu strengerer Zensur entstanden. Dann verliert die Intendanz im wesentlichen die Selbständigkeit der Eigenzensur, indem ministerielle Nachfragen und Beschränkungen oder Verbote entstehn. Der Autor ist also in seinem eignen Interesse genötigt, die Aufführung seines Stücks in Preußen von der Aufführung in Berlin abhängig zu machen.

Es starben im Embryo ferner mehrere kleine Hoftheater, welche neuerer Zeit so in Apathie und Schlendrian versunken sind, daß man ihnen mit literarischem Gewissen nichts ganz Neues anvertrauen kann, und es blieben natürlich immer noch einige andere Hoftheater übrig, welche den ausgestorbenen Olymp mit unerschütterlicher Würde vertreten zu müssen gemeint sind durch örtliche Handhabung des tödlichen Blitzes. Man spräche nicht von ihnen, wenn sie nicht zuweilen olympisch donnerten und blitzten. Ich hielt es für meine Schuldigkeit, ihnen für den Schillertag die Gelegenheit nicht zu entziehen. Und sie haben meine Erwartung nicht getäuscht, ihre altgeschichtliche Konsequenz nicht verleugnet. In Karlsruhe habe ich mich freilich nicht unmittelbar gewagt, da liegen schon fünf Köpfe von mir, gerade soviel als ich bis jetzt aufs Theater zu strecken versucht, da ist die rote Draperie und der gemalte Donnerkeil permanent. Es stimmt gar nicht zu dem Baden, wo unsre Hauptstadt Mannheim unter Düringer immer vorangeht, aber es ist doch so, und ich habe bei aller Schüchternheit ohne Mühe zuwege gebracht, daß auch die Karlsschüler samt dem Räuberhauptmann Schiller in der Stille stranguliert worden sind. Leichtsinniger bin ich mit Hannover umgegangen, aber auch zum Ziele gekommen, das heißt zur Hinrichtung der Karlsschüler beim ersten Schritte über die Landesgrenze. Ich konnte hier schon mehr wagen; man vergibt mir's nicht, daß ich für die Aufführung des Monaldeschi vier ganze Louisdors ausgezahlt erhalten habe. Ich habe dies zum allgemeinen Besten nicht verschwiegen, und – Strafe muß sein! Es war mit einiger Sicherheit vorauszusehen, daß man mit diesem Schiller, der ohnedies[171] so verfängliche Reden führt, keine Umstände machen werde. Vor einem guten Gesetze gilt kein Ansehen der Person.

Verwickelter war das Verhältnis zu Kassel, welches sich bis zu Gottsched und Gellert meine Stücke hatte gefallen lassen. Gellert fiel mit dem vierten Akte in Ungnade, und die Karlsschüler hatten nun keine sanfte Begrüßung zu erwarten. Es schwebt jetzt noch ein dicker Nebel darüber, was aus den armen Jungen geworden sei am Fuße der Wilhelmshöhe. Soviel ist gewiß, zum Schillertage sind sie nicht mit klingendem Spiele aufgezogen.

Bleiben noch einige harmlose Hofbühnchen übrig, die bloß betroffen waren vom Ungetüm dieser kleinen Räuber und von dem festgesteckten Termine, dem 11. November. Sie wollten sich besinnen. Zum Teil besinnen sie sich noch.

Hiermit hat der Leser eine charakteristische Übersicht über die deutschen Theater von Anno 1846 und kann sie vergleichen mit Schillers Zorne Anno 1782.

Und bei alledem, obwohl Österreich, Preußen, Hannover, Württemberg, das Kurfürstentum, sämtliche Großherzogtümer, mehrere Herzogtümer und die größte freie Stadt abgingen, bei alledem blieben mir noch stattliche Theater, und blieb mir noch eine große Anzahl von Theatern übrig. So ausgedehnt ist unser Reichtum! Und bei alledem kann und muß ich mit lebhaftem Danke aussprechen, daß die Karlsschüler ein ungemein lebhaftes Entgegenkommen und bereits im ersten Vierteljahre ziemlich auf einem halben hundert Bühnen Aufführung gefunden haben. Begegnet nun also ein glückliches Stück bei seinem ersten Erscheinen so krausen Schwerfälligkeiten, daß selbst Schillers Geburtstag keinen besonders förderlichen Eindruck machen kann, was steht einem Stücke bevor, welches keine Empfehlung mit sich bringt und bei den ersten Schritten kein Glück findet!

Vier gute Theater bildeten am Ende doch die auserwählte Schillerschar, welche am Geburtstage mit den Karlsschülern hervortreten wollte und wirklich hervortrat. Dies war Dresden, München, Mannheim, Schwerin. Sie vertreten auch wirklich die verschiedensten Völkerschaften im Norden und Süden. Das Schweriner Hoftheater hatte gerade seine Saison in Wismar, so daß also an der See im Norden und angesichts der Alpen im Süden, am Rhein und an der Elbe die Gedächtnisfeier des deutschen[172] Dichters begangen werden konnte, und darunter au zwei Orten begangen werden konnte, welche seinem Jugendleben wichtig und ergiebig, ja seinem jungen Herzen erquickend geworden waren, in Mannheim und in Dresden. An diesen vier Orten waren die Theaterbehörden sogleich von liebenswürdigster Bereitwilligkeit für solchen Zweck einer Feier, und in München erledigte der König selbst eine Zensurfrage mit den Worten: Wo es sich um Schiller handle, sei es unschicklich zu zensieren oder nur ein Wort zu streichen!

Als fünfter Ort war Leipzig sofort bereit gewesen. Hier ist aber schon längst der Schillertag ein stehendes und in hohem Grade populäres Fest. Wesentlicher Bestandteil dieses Festes ist die Aufführung eines Schillerschen Stückes. Dies ist die natürlichste und schönste Feier; sie auf allen Theatern vorzubereiten für jeden wiederkehrenden Jahrestag war meine Idee, als ich die Karlsschüler am Schillertage anempfahl; wo also diese Feier schon bestand, da wäre es unpassend gewesen, mein Stück einzudrängen.

Möge wenigstens dieser Vorgang 1846 ein wirklicher Anfang geworden sein, die Feier des Schillertages überall einzuführen, und möge die öffentliche Stimme mit jedem Herbste die Theater mahnen an eine Schuldigkeit, welche gleichzeitig eine Gewissensfrage werden kann für jede Bühne, eine Gewissensfrage: ob im Angesichte Schillers Bestand und Geist der Bühne gebilligt werden könne.

Wunderlich genug entstand übrigens eine Unsicherheit über das Datum von Schillers Geburtstage, und ich mochte zu gleichmäßiger Übereinkunft schreiben soviel ich wollte, unser vaterländischer Drang nach eigentümlicher Absonderung wollte doch sein deutsches Recht behaupten. Der 10. November nämlich hat bis vor kurzem als Schillers Geburtstag gegolten und gilt jetzt noch in Schillers eigner Familie. Gustav Schwab hat aber die kirchlichen Urkunden aufgefunden und herausgegeben, welche Schillers Geburt und Taufe amtlich nachweisen, und nach diesen unabweislichen Quellen ist unser Dichter am 11. November geboren und an demselben Tage getauft worden Anno 1759 im schwäbischen Städtchen Marbach und zwar im Hause des ehemaligen Seklers Ulrich Schöllkopf. Also besagen »zwei gleichlautende Auszüge aus dem Marbacher Taufregister, wovon einer ein Taufschein für Friedrich Schiller ist, datiert vom 12. Juli 1769, als er Petens im Landexamen werden wollte,« und also besagt auch ein Auszug aus Schillers Taufschein vom Jahre 1773.[173]

Möge das hinreichen, uns ein für allemal über ein so wichtiges Datum zu vereinigen. Unserm Naturell gemäß ist eine sofortige Vereinigung allerdings nicht wahrscheinlich, und es wäre auffallend, wenn nicht der bisher gültige, in allen Biographien genannte 10. November an vielen Orten Festtag bleiben sollte. In Leipzig, wo der Schillertag gegründet worden ist, wird seit dem urkundlichen Nachweise der 11. November gefeiert. Die Presse sei gebeten, das Ihrige beizutragen für eine so wünschenswerte Einstimmigkeit.

Unter den Jugendgenossen Schillers hat dies Stück noch sehr viele am Leben gefunden: aus Mecklenburg, aus Bayern, aus Württemberg sind graue Karlsschüler jener Zeit hervorgetreten und haben ihren Anteil ausgedrückt; aus den verborgensten Winkeln Deutschlands sind Lebenszeichen und Zeugnisse an mich gelangt; so dankbar und interessant ist es, ein naheliegendes, der Nation wirklich angehöriges Thema auf die Bühne zu bringen. Was ist mir alles geschrieben, was erzählt worden von Anekdoten und Kuriositäten! Bald dieser, bald jener alte Theaterdiener hatte den »berühmten Herrn von Weimar« gesehen. Man möge sich erinnern, daß Schiller von Weimar aus auf der Höhe seines Ruhms 1804 gerade diese drei Orte Leipzig und Dresden wieder, und Berlin zum ersten Male besucht hat, und daß also leichtlich Augenzeugen an den Theatern noch vorhanden sein können. Es war dies damals der Triumphzug der Jungfrau von Orleans, und es gedenken noch Leipziger der Aufführung jenes romantischen, durch neue Pracht und Fülle aufregenden Stückes, welcher Schiller beiwohnte, und an deren Schlusse die Zuschauer ehrfurchtsvoll eine Gasse bildeten, die Treppen, den Flur entlang bis ans Ranstädter Tor hinüber. Der Landesgewohnheit gemäß blickte man schweigend und zeigte man schweigend auf den hindurchschreitenden Poeten der Johanna d'Arc. Besonders charakteristisch von all den kleinen Geschichtchen ist wohl folgende Notiz, welche Düringer nach der ersten Aufführung der Karlsschüler in Mannheim mitteilte: »Es lebt hier eine alte pensionierte Schauspielerin, die Witwe des kürzlich verstorbenen Kapellmeister Ritter. Sie hat die Luise in Kabale und Liebe zum ersten Male hier gespielt« – ist also, da dies Stück zuerst in Mannheim gegeben wurde, die erste Luise überhaupt gewesen – »und erinnert sich mit kindlicher Freude, wie Schiller ihr den Hof gemacht.« Die[174] schüchternen Biographen aus Schwaben mögen nicht erschrecken, wie sie gewiß bei dem Laurakapitel oben schon erschrocken sind, es ereignet sich hierbei nichts unmittelbar Gefährliches. Ganz ohne Herzenssprünge geht es nun einmal nicht ab; vierundzwanzig Jahre zu sein und leidenschaftliche neue Theaterstücke mit lebendigen Menschen aufführen zu lassen! Also, Schiller fühlte sich angezogen von seiner ersten Luise, die mit ihrem bürgerlichen Namen Katharina Baumann hieß, und als er sie abends nach der ersten Vorstellung nach Hause führte, da faßte er sich als blöder Schwabenjüngling ganz plötzlich ein Herz und drückte ihr etwas in die Hand. Was war es? Ein ganz kleines Porträt von Friedrich Schiller. »Die alte Dame bewahrt es jetzt noch wie ein Heiligtum. Damals hat sie es unschlüssig betrachtet und den kühnen Dichter etwas wunderlich gefragt: Was soll ich denn damit?« Der kühne Dichter aber, wie billig von so naiver Frage ein wenig außer Fassung gebracht, hat bald auf gut Schwäbisch erwidert: »Ja, sehet Sie, i bin a kurioser Kauz, das kann i Ihne nit sage.«

Am rührendsten ist es mir gewesen, zwei Matronen durch die Karlsschüler nahe zu kommen und eine herzliche zustimmende Billigung zu erhalten von diesen beiden Frauen, welche nächst der verstorbenen Gattin des Dichters unserm Schiller am nächsten gestanden. Es ist dies Frau Karoline von Wolzogen und Frau Reinwald, die älteste Schwester Schillers. Ich wußte weder von der einen, noch von der andern etwas Näheres, und wenn man mich über sie gefragt hätte nach Erscheinen des Stückes, so würde ich wohl geantwortet haben: Meines Wissens sind sie beide tot. So sandte ich denn ohne weitere Gedanken ein Exemplar nach Jena, wo ein geselliger Kreis in Ermangelung eines Theaters gern Vorlesungen veranstaltet von neuen Dramen, und war auf das Glücklichste überrascht, als mir nach einiger Zeit die Nachricht zuging: er sei der fast sterbenden Frau von Wolzogen, dieser Schwägerin und edelsten, innigsten Freundin des Dichters, der Verfasserin einer so schönen Lebensgeschichte Schillers, vorgelesen worden, sei ihr ein letzter Sonnenblick aus schöner Jugendzeit gewesen und habe mir Dank und Segen einer so verehrungswürdigen Frau erworben. Ihr Geist ist noch in voller Kraft und Klarheit gewesen, ihr Auge hat während des Zuhörens mit glücklicher Treue auf dem großen Bildnisse Schillers geruht, welches allein ihr Zimmer geschmückt und bald[175] darauf – ist sie gestorben. Die Karlsschüler sind ihre letzte Lektüre geworden; im Hinblicke auf ihres Dichters Jugend ist sie aus diesem Leben gegangen.

Einige Wochen später kam mir nicht minder überraschend und beglückend ein Schreiben vom Thüringer Walde, der für Schiller frühzeitig und lange Asyl und Heimat geworden ist, aus Meiningen, wohin er einst von Bauerbach so gern wanderte zum Freunde Reinwald, um über Don Karlos zu phantasieren. Dies Schreiben in festen Zügen mit kurzem, kräftigem Ausdrucke war von Schillers jüngster Tochter, die noch in der Wiege gelegen, als man den erst fünfundvierzigjährigen Vater schon ins Grab gelegt. Sie schrieb für des Vaters Schwester, für Tante Reinwald, welcher man von München aus die Karlsschüler gesendet, welche »im neunzigsten Lebensjahre steht bei voller Kraft des Geistes und Frische des Herzens, eine liebenswürdige Greisin. Wie mußten die Karlsschüler sie erfreuen, welche die historischen Personen derselben alle persönlich gekannt hat« – – »sogar in den Redensarten ihres Bruders glaubt sie ihn wiederzuerkennen. Alle Scherze jener Zeit sind ihr wohlbekannt, und bei manchen Stellen jubelte sie von ganzem Herzen. Könnten Sie nur selbst einmal aus dem Munde der lieben Tante von jenen Zeiten erzählen hören, wie lebhaft und mit welchem Gedächtnis sie alles und jedes aus ihrer Jugendzeit bewahrt hat, einen wahren Schatz von Erinnerung!« – »Sie drückt Ihnen ganz besonders die Hände, weil Sie die Frauen so hoch gehalten, daß sie klüger als der Herzog gewesen. Dies sind die eignen Worte der lieben herrlichen alten Tante, welche jede Stunde heiter und lebensfroh zu finden ist. Heute mußte sie mir wieder von den Augenblicken vor der Flucht meines Vaters erzählen, wo alles so herrlich auf der Solitüde erleuchtet war, er Abschied von ihr genommen hatte, und ihr das Geheimnis anvertraut. Das Angesicht der lieben alten Frau wird ordentlich im Erzählen jünger, und man fühlt sich so lebhaft in jene Zeit versetzt, daß man wie aus einem Traum erwacht und sich wundert jetzt zu leben. Das ganze Wesen dieser alten Frau macht einen so gewaltigen, aber unbeschreiblich wohltuenden Eindruck auf das Gemüt; man fühlt, sie gehört einer andern Zeit an, und doch lebt sie so schön auch den Augenblick.«

Nicht nur an dieser Schwester, welche Schiller zärtlich liebte, auch an den meisten Mitgliedern des Schillerschen Geschlechtes zeigt[176] sich in den Urkunden eine volle Lebensdauer; wie schmerzlich, daß nur gerade der Wichtigste eine Ausnahme sein mußte! Es ist ein oft wiederkehrendes Geschwätz, Schiller habe seine Gesundheit durch unregelmäßige Lebensweise zerstört. An seiner Lebensweise war nur etwa unregelmäßig, daß er drängender Geistestätigkeit oft mehr Zeit und Kraft widmete, als das Gleichgewicht zwischen Seele und Leib vertrug. Im alltäglichen Sinne des Wortes hat er nie unregelmäßig gelebt, und die pikanten Schilderungen von Champagner- und Burgunderanregung sind grundlose Märchen, für welche sich in allen Zeugnissen derer, welche neben und mit ihm gelebt, nicht ein entfernter Anhalt findet. »Beim fröhlichen Mahle im Kreise vertrauter, ihn ansprechender Menschen überließ er sich gern einem heitern, aber mäßigen Genusse des Weins. Das Unmaß floh er immer da ihm, wie er sagte, ein Glas zuviel gleich den Kopf zerstöre. Beim Schreiben trank er nie Wein, oft Kaffee, der ermunternd auf ihn wirkte. Wenn er sich einem Genusse überließ, so lag eine so unschuldige Fröhlichkeit in seiner Art zu genießen, daß man sich derselben mit erfreuen mußte, wie man sich an dem Genusse eines glücklichen heitern Kindes ergötzt.« Diese Worte der Schilderung tragen doch wahrlich das Gepräge unbefangenster Wahrhaftigkeit, und es gibt wohl kaum etwas Widrigeres, als die Neigung unsers Publikums, große Menschen gern in den Qualm kläglicher Neigungen und Leidenschaften herabzuziehn. Wie selten hat eine Nation und eine Zeit solch ein edles Nebeneinanderleben größter Talente aufzuweisen, als die unsrige zu Anfang dieses Jahrhunderts in Weimar, wo Schiller und Goethe wahrhaft Hand in Hand und Herz in Herz gingen! Die letzte Stunde des achtzehnten Jahrhunderts feierten sie einsam miteinander in ernstem Gespräche auf Goethes Zimmer. Und angesichts dieser schönen Menschen will man von Alltagsneigungen sprechen! Schiller starb früh, damit er unter uns um so länger lebe: seine Hingebung an den Geist entzog seinem Körper die Stütze. Muß im Äußerlichen ein Todeskeim gesucht werden, dann wird er am ersten in der Karlsschule zu finden sein, im zu früh erregten und getriebenen Arbeiten des Hirns, welches heute noch auf unsern übermäßig geistigen Schulen die Menschenentwickelung tief beeinträchtigt.

Ich habe die Verbindung mit Schillers Angehörigen dazu benutzt, mir eine genauere Kunde zu verschaffen über Schillers[177] Nachkommen. Frau von Wolzogen hat schon einmal darüber Auskunft gegeben, aber seit dem Abdruck derselben find Veränderungen eingetreten. Schiller hinterließ eine Gattin und vier Kinder, zwei Knaben und zwei Mädchen. Die Gattin hat bis 1826 gelebt und liegt am Rheinstrome bei Bonn begraben. Der älteste Sohn Schillers lebt noch und zwar wie der Vater in der schwäbischen Heimat. Er zog als echter Schiller 1813 mit in den Befreiungskrieg, und zwar focht er als Reiter, welche der Vater in den Wallensteinern so lockend verherrlicht hat. Nach dem Frieden nahm er sein Forststudium wieder auf, und suchte dafür die schwäbischen Berge, in welchen ihm der König von Württemberg bereitwillig eine Oberförsterstelle übergab. Dort lebt er in demselben Lorch, wo der Vater einen Teil seiner Jugend verlebte, wo er den Pfarrer Moser fand, wo er sich die schwarze Schürze umlegte und auf den Stuhl stieg und predigte. Dieser Karl von Schiller hat einen einzigen Sohn, welcher des Großvaters Namen Friedrich trägt, und welcher der einzige Enkel ist mit Schillers Namen. Er zählt jetzt zwanzig Jahre und ist ebenfalls den Trompeten aus des Vaters Wallenstein gefolgt: er ist fröhlicher Leutnant in einem der schönsten österreichischen Kürassierregimenter, genannt Graf Auersperg, welches jeden Augenblick bereit ist, die Pappenheimer wieder lebendig zu machen. Liegt in Garnison zwischen Olmütz und Wien und kümmert sich wenig um Gevatter Schneider und Handschuhmacher.

Der zweite Sohn Schillers hieß Ernst und war Jurist in preußischem Dienste. Er ist 1841 als Apellationsgerichtsrat zu Köln am Rheine gestorben und hat keine Kinder hinterlassen. Die Witwe lebt noch in Köln.

Schillers älteste Tochter Karoline war in Rudolstadt verheiratet und hatte einen Sohn, welcher in allen Zügen das Ebenbild des Großvaters gewesen ist. Er ist gestorben, und die Mutter ist ihm voriges Jahr in den Tod gefolgt.

Schillers jüngste Tochter Emilie ist mit dem ältesten Sohne seines Jugendfreundes von Gleichen, den er in seiner Freierzeit zu Rudolstadt gefunden, mit einem Gleichen-Rußwurm vermählt. Sie lebt in glücklicher Ehe auf dem Gute Greifenstein ob Bonnland in Franken unweit Hammelburg und hat einen einzigen Sohn namens Ludwig, den zweiten Enkel Schillers.

Von der älteren Familie Schillers lebt nur noch Tante Reinwald[178] So sind uns denn von dem gesegneten Stamme Schillers nur zwei männliche Sprossen übrig für die Zukunft, ein Friedrich von Schiller und ein Ludwig von Gleichen, und nur einer also führt den geliebten Namen weiter. Mögen sie glücklich sein als einzige Blutserben des unvergänglichen Ahnherrn, ihres Großvaters!

Es bliebe nun noch übrig, des Besondern und Hervorragenden zu gedenken, welches die Aufführung des Stückes an einzelnen Orten, welches ausgezeichnete Talente unter den Darstellern zur Geltung oder zur Streitfrage gebracht. Wie weit würde mich dies aber führen bei diesem Stücke! Es ist an unscheinbaren Orten mit unscheinbaren Mitteln wirksam geworden, weil der Stoff schon große Wirksamkeit mit sich bringt, wenn er nicht durch geradezu ungeschickte Behandlung verdorben und dann allerdings in die gegenteilige Wirkung, in die der Entrüstung hinuntergezogen wird, der Entrüstung darüber, daß der teuerste Mann der Nation gemißbraucht worden sei. Das Augenmerk eines Theaterdichters muß es freilich sein, populär zu wirken, soweit es die höhere literarische Absicht und die Eigenschaft des Stoffes zuläßt. Wieviel aber bei den Karlsschülern der Form, wieviel dem Thema selbst zuzuschreiben sei, daß auch die kleineren Bühnen ihr Publikum ungewöhnlich erwärmen und fortreißen konnten, das weiß ich nicht zu entscheiden. Deshalb ist mir diesmal das Urteil über den Wert der einzelnen Darstellungen ungemein erschwert. An Dresden denkend, sehe ich ein prächtiges Kleeblatt von Frauen vor den Augen meiner Erinnerung: Fräulein Bayer mit dem liebsten und wahrhaftigsten Frauentone als Gräfin Franziska, Fräulein Berg als Generalin Rieger, Fräulein Lebrun als Laura; an Berlin denkend, belebt mich die frische Energie Dörings als Herzog Karl, das gesunde süddeutsche Feuer Hendrichs' als Schiller, der vollendete Schwung, die hinreißende Macht der Frau Crelinger als Gräfin, und in Leipzig seh' ich vor mir das so herzenswahre, elegische Talent Wagners, dessen Schiller wahrscheinlich zu den besten gehört und in der Schilderung, wie die Räuber entstehen mußten, mit Hendrichs um die Übermacht ringt, ich sehe ferner in Fräulein Unzelmann als Gräfin jene, ach so selten gewordenen feinen Reize einer Künstlerin, welche die leisen Übergänge des Gedankens und der Empfindung meisterhaft andeutet – wie kann ich da wählen und entscheiden! Von den Darstellungen, welche ich nicht gesehn, preist man besonders die in München, an der Spitze das Dahnsche[179] Ehepaar, Fräulein Denker, Herrn Jost, und aus Braunschweig verlangt man für Herrn Schütz als Herzog den ersten Preis, aus Frankfurt werden die Damen Hausmann, Lindner, Meck, die Herren Breuer, Reger, Meck (Sergeant) als geschlossener Kreis gepriesen. Ich bin diesmal befangen, als ob ich selbst mitspielte, und ich beeile mich nur, einen Fehler einzugestehen, welchen ich selbst und gröblich begangen und recht wie ein Schauspieler begangen habe. Die Schlußworte des Herzogs erschienen mir in Dresden, wo ich das Stück zum ersten Male sah, zu lang, und statt sie ein wenig zu kürzen, strich ich sie ganz bis auf die Viertelzeile: »Der Erfolg ist Gottesgericht!« In dieser Form sah ich dort die Wiederholung und empfand den Übelstand nicht, weil in mir die Wendung des Herzogs hinreichend motiviert und lebendig war. Es warnte mich aber auch niemand; denn über eine zweite Vorstellung spricht man weniger und schreibt man gar nicht. Mit dieser radikalen Kürzung brachte ich nun den Schluß vor ein neues Publikum, vor das Berliner, und sah gleichgültig drein, daß auch die bessere Kritik daran Anstoß nahm. Man wird dort unter eitlem Tadel offenbaren Mißwollens viel gleichgültiger gegen Tadel als anderswo. Es befremdete mich aber doch, daß auch wohlwollende Kritiker mündlich darauf hindeuteten, und als auch Zuschauer, welche spätere Vorstellungen in Dresden gesehn, dieselbe Ausstellung machten, wurde ich inne, daß ich gründlich gefehlt hatte mit jenem radikalen Striche. Ich stellte also einige Zeilen wieder her für ein neues Publikum, für das Leipziger, und – vermied jeglichen Zweifel über den Schluß. So zart ist die Ökonomie der Form.

Zum Schlusse eilend, muß ich das traurigste Geständnis machen: ich erscheine mir wie ein Todeskandidat, welchem man in Gestalt glänzender Theatererfolge eine prächtige Henkersmahlzeit auftischt. Ich genieße diese Mahlzeit kläglich menschlich mit dem Bewußtsein, daß sie nicht wiederkehren kann. Es gibt nur eine Figur in Deutschland, welche dem Dramatiker eine so gründliche populäre Hilfe verleihen kann, es gibt nur einen Schiller. Jeder andere Stoff, welchen ich in Zukunft erwählen mag, wird traurig blaß erscheinen hinter diesem, und mit gutem Fuge werden die absoluten Kritiker höhnen: Da seht ihr's, der Stoff war alles, und der Verfasser nichts!

Ja wohl. Und jetzt meine ich selber, daß die Ausführung doch[180] viel stattlicher hätte geschehen können, nachdem ich mir einmal mit glücklicher Hand den Stoff zurechtgehämmert. Das ist eben die alte Geschichte von den Ratsherrn, welche so viel weiser vom Rathause herunterkommen.

In dieser Niedergeschlagenheit eines Todeskandidaten klammre ich mich an jeden Hoffnungsschimmer, der über den morgenden Tag in weitere Zukunft hinausreicht, und so denke ich bei der Widmung ans Land Österreich, wo das Stück noch unbekannt ist, und wo Schiller aus doppelten Gründen in aller Herzen und Munde lebt. Dort kann den Karlsschülern an der Burg ein charaktervolles Zusammenspiel werden, welches eine wahrhaft erquickende Wirkung verspricht, dort kann diejenige junge Dame Schillers Laura spielen, welche mir beim Entstehen der Rolle vorgeschwebt hat. Es ist nicht Schuld des Vorbildes, wenn diese Rolle in den Übergängen nicht breit genug ausgeführt, wenn sie nach dem Siege der Liebe nicht mächtig genug geltend gemacht worden ist, es ist meine Schuld, die Schuld des ungeschickten Komponisten, der nicht Raum genug ausfinden konnte für diese Figur. Fräulein Luise Neumann wird diese Lücken verdecken durch ihre reizende Darstellungskunst, welche ihresgleichen sucht in Deutschland. Schalkhafte Grazie und innerliche Wahrheit, bestechendes Lächeln und rührende Tränen sind ihr eigen vor allen andern Vorzügen, und sie wird diese Vorzüge ihrer Landsmännin Laura nicht versagen, wie sie ja diesem schwäbischen Schauspiele ihre wohlwollendsten Wünsche und Empfehlungen bisher nicht versagt hat. Möge sie auch vor einer Widmung nicht erschrecken, welcher keine Vorstellung zum Hintergrunde dient. In der Nähe Schillers sind wir ja Idealisten genug, die mangelnde Wirklichkeit zu übersehn und eine Vorstellung zu haben von der Wahrheit, die kein Verstand der Verständigen sieht.[181]


Quelle:
Heinrich Laube: Gesammelte Werke in fünfzig Bänden. Band 25, Leipzig 1908–09, S. 149-182.
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