14. Hippolyt an Valerius.

[139] Auf dem Meere.


Der Tag zieht eintönig vorüber, die Nacht mit dem blitzenden Himmel steigt einmal wie das andere herauf, langsam und unmerklich entfernen sich die europäischen Sternbilder, das Meer rauscht und streicht, hebt sich und fällt einmal wie das andere – ich habe sie gewünscht, diese großen Elementarverhältnisse der Welt, sie haben mich oft gestärkt. Auch sie werden mir einförmig und öde, Du hast vielleicht recht: ich brauche eine andere Welt, vielleicht da oben, auf dem rotblinkenden Mars, find' ich Genüge, in der Sonne selbst vielleicht find' ich Leben. Auch wenn sie drückt und brennt und die Menschen niederwirft, ist sie mein Gestirn, ich bin daheim, wenn sie da ist, ich liebe sie, selbst die versengende möcht' ich umarmen.

Groll und Galle und Wildheit bleibt in meinem Herzen, auch die Meereseinsamkeit hilft nicht dagegen; das europäische Land bleibt in mir liegen, ich sehe darauf hin, wie auf einen bewegten, schwarzen Ameisenhaufen, es zuckt mir in der Hand, eine hohe Woge zu fassen und darüber hin zu schütten, bis nichts übrig wäre als unbelebter Boden. Die Welt im ganzen ist anders gebildet worden, als ich sie haben möchte. Die Geschichte hat nur für die Philister eine Welt erfunden, eine Zivilisation, Ihr könnt nicht anders fertig werden, als wenn Millionen gekleidet sind einer wie der andere, denken, wünschen, handeln einer wie der andere, die Gleichförmigkeit ist Euer einziges Mittel des Beisammenlebens – ein trauriges, mordendes Mittel. Ich bin überzeugt, daß erst die unterste Klasse der Erdentwicklung erfüllt ist, wenn Ihr das klägliche Ziel erreicht, und alles unter einen Hut, unter eine Decke gebracht habt, dann wird die zweite, die bedeutendere Entwicklung beginnen, nach der ich schmachte, die Entwicklung der Mannigfaltigkeit, der Tausend-, der Millionenfaltigkeit.[140] Dann wird jeder ein eigener Mensch werden, nach seinem Geschmack sich kleiden, nach seiner wirklichen Eigenheit reden, nach seinem echten Herzen tun, ohne daß der in der Einzelnheit ohnmächtige Haufe erschrickt oder Schaden leidet. Eure Menschheit ist eine Hammelherde, die gleichmäßig blökt, dieser Begriff Menschheit ist mein Greuel; aber ich erlebe keinen neuen, Ihr habt für Jahrhunderte hinaus die Nivellierung gepachtet, Ihr revolutioniert gar für die Gleichmacherei, Eure Langweil' gähnt mich an wie das breite Wüstenmaul der Sahara, über welche zehn arabische Pferde mit abwechselnden Kräften jagen können, ohne ein anderes Ziel zu erjagen als den Tod. Ihr habt das prächtige Wort erfunden: »Leute« – Leute! darin liegt Eure Weisheit, Euer Glück! Wer zu den »Leuten« gerechnet sein will, der braucht nur einen Körper, eine Nase, einen Magen und das gebräuchliche zu haben, das reicht hin, er ist von den Euren. Der Starke muß schwach werden, der Schwache stark, was über das Fahrwasser hinausgreift, das ist des Todes – heiße Sonne, verkohle mich, ich will des Todes sein, ehe ich in dieser Mittelmäßigkeit fortvegetiere.

Habt Ihr's nie begriffen, daß es der fürchterlichste Vorwurf war, wenn Eure Poeten die Poesie da suchten, wo Ihr nicht wart, wo Eure Welt nicht war? Wenn sie idealisierten, eine poetische Welt erfanden, und Euch darauf Abonnementsbilletts verschafften? Ihr verderbt für Eure Zivilisation so viel Klugheit, daß Ihr Euch selbst in Euren Lumpen nicht mehr erkennt. »Freßt Staub, wie eure Muhme, die Schlange!«

Darum habt Ihr soviel Verbrechen in Eurer Welt, wie in der Erziehung eines höflichen Kaufmannssohnes alles verboten ist, und nur einzelnes ausnahmsweise erlaubt wird. Was wißt Ihr vom Verbrechen! Wenn wir dessen nicht mehr fähig sind, so hören wir auf, Menschen zu sein, werden Zahlen und Begriffe. In jedem Menschen liegt jedes Verbrechen,[141] oder er ist kein vollständiger Mensch. Was erreicht Ihr nun mit Eurem Katechismus? Das Verbrechen flüchtet sich in Eure Tugend, denn die Fähigkeit des Verbrechens ist die Urkraft, welche Eure Gleichmacherei nicht leiten und richten, sondern töten will; das vermögt Ihr nicht, denn Ihr bleibt stärker, göttlicher als Ihr es wollt und begreift, die geknebelte Urkraft äußert sich nun gewaltsam, sie wird darum Verbrechen, sie wird Verbrechen, auch wenn sie zufällig in Euer Gesetz flüchtet, der streng Tugendhafte ist ein Verbrecher der Tugend und richtet mit der Tugend sein Unheil an.

Das geschieht, weil Ihr aus den ungeheuren Kräften des Alls lauter kleine Dorfschulmeister machen wollt. Ich habe manch sanftes und gutes Pferd gesehen, das störrisch und schlecht wurde nach wenig Wochen unter Hand und Schenkel eines pedantischen, hart-dogmatischen Reiters. So trenset und kandaret Ihr Euch eine verbrecherische Tugend zurecht.

Ich hab's beschlossen, mein Fuß betritt den Boden Europas nicht mehr; gefallen mir die Yankees nicht, so geh' ich zu den Rothäuten der Wälder, dort wird es mir wohlgefallen. Sie haben wenig Kultur, aber darum auch wenig Verdorbene.

Nachts, wenn ich auf dem Verdeck umhergehe, schleicht hinter mir, vor mir, neben mir eine verhüllte Gestalt – ich habe nie begriffen, was Ihr mit dem Worte »unheimlich« ausdrückt, jetzt empfinde ich's; ich muß mir das vom Halse schaffen! Sie schleicht leise, fast unhörbar, dennoch erinnert sie mich an den ehernen Tritt des Komturs im Don Juan.

Es sind einige deutsche Auswanderer auf dem Schiffe; warum wandern sie aus? Lieber Gott, weil sie zuviel Kinder für den kleinen Acker haben. Über dies Abc der Staatsnot läßt sich nichts sagen; aber es sind, auch einige[142] Robespierrianer mit uns, was wollen diese aus der Welt machen? Es ist ihnen nicht genug, daß gleichgemacht wird, es soll auch gleichgeschlagen werden: das Bäumchen, das etwas größer, der Strauch, welcher etwas niedriger ist, als man's eben beliebt, das soll vertilgt sein, und sie hoffen auch, ihre Rechnung in Amerika zu finden. Sie erwarten es, ich erwarte es – ach, nein, ich erwarte nichts. Eure Revolution ist noch prosaischer als Euer Altes; was ich so von ein paar Probeexemplaren aus Amerika sehe und höre, das grinst mich an mit totem, gläsernem Auge.


Der Wind streicht frisch aus Europa in unsern Rücken, er ist meinem Herzen günstig. Heute morgen sind wir bei der großen Bank angekommen, welche sich viele hundert Seemeilen nach Nordnordost hinaufzieht und den Amerikaseglern Gefahr droht. Es walten hier die dichten Nebel, wir fahren dahin in halber Nacht – gibt's einen einsameren, großartigeren Tod? In der Dunkelheit mitten im Weltmeere verschwindet man wie ein Atom. O kläglicher, kläglicher Zustand eines Menschen! Ein tyrannischer, weit fordernder, weit greifender Geist ist ihm gegeben, und ein Wechsel des Ortes reicht hin, daß dies Geschöpf verschwindet, jach und unbemerkt!

Betrachte, wie unsere Welt verarmt ist! Das Mittelalter hatte seinen Teufel, seinen lieben Teufel, zu welchem die sogenannte Frechheit flüchtete; die Torheit und die Klugheit glaubte ihn zu sehen, er war ein Hilfsmittel, wenn die bekannte Welt mit ihren Gedanken und Kräften nicht mehr zureichen wollte, er war eine Brücke ins Größere, wenn auch eine brennende. Welch eine Anreizung wäre mir das, mich ihm zu verschreiben? Ihr vergeßt solche Verhältnisse ganz und gar, weil Ihr Prosaisch nivelliert seid, Euer Titanenelement verwässert habt. Manchmal, wenn es in den dichten Nebeln dieses Meeres gar nicht Tag werden kann, sitze ich[143] hier am Borde und schrei' in die Wasserewigkeit hinaus, ob es keinen Dämon gibt, der sich mit mir einlassen will; hier wäre doch wahrlich der Ort für einen wüsten, schweifenden Urgeist. Versuch' es, in totenstiller Nacht und Einsamkeit dem Teufel zu rufen, aber direkt in der Volkssprache zu rufen, mit klarer, verständlicher Stimme: Teufel, hole mich! Es liegt eine Reizung darin.

Aber die wüsten Wasser schweigen.


Der Kapitän hat Reisebeschreibungen, in denen lese ich. Da finde ich in der einen folgendes: Der Sultan war ein eifrig Gläubiger, und als er nach Jerusalem kam, und die große Moschee zum Gottesdienste einrichten wollte, wo der alte Salomonische Tempel gestanden, und wo der Christ gebetet hatte, da ließ er die ganze Moschee von oben bis unten mit Rosenwasser abwaschen, damit kein Stäubchen übrig sei, das vom Christen verunreinigt wäre.

Von dem, was Ihr religiöses Moment heißt, mag nichts in mir sein, denn Ihr seid gewohnt, nur das also zu nennen, was mit Eurer positiven Überlieferung, mit der entsagenden zerknirschten Demut verbunden ist, und mein Bezug zur Gottheit ist ein forderndem, ein trotziger ist dasjenige, was die Griechen im Prometheus zusammendichten – aber jener Sultan ist mir recht. Hat man sich einen Gott charakteristisch gebildet und angekleidet, dann soll ihm auch kein Stäubchen vorenthalten sein.

Aber Euer Glaube ist nicht gefaßt, nicht geschlossen, schweift in Erklärungen – was ist ein Glaube, der erklärt wird! Und dazu mögt Ihr Euch noch wundern, daß eine Zeit in Verwirrung umhergeworfen sei, die weder eine klassische Religion, noch eben darum einen klassischen Staat, noch eine klassische Poesie hat! Für meinen Blick gibt es nur zwei Seiten des Menschen, die Pole des Herzens, und darum zwei Ströme der Welt, um welche sich alles bewegt.[144] Das ist die Selbstsucht und die Selbstaufopferung. Jene hat das ungeheure Altertum geschaffen, diese ist mit dem Christentume eingetreten und hat beinahe zweitausend Jahre Geschichte erzeugt. Gegen sie hat sich ein dreister, neuer Geist erhoben, der halb von ihr, halb vom Altertume stammt, Philosophien haben sich gebildet, die auf eigenem Fuße sich erheben, und eine Selbständigkeit neben der positiven Religion, in Anspruch nehmen, als selbständige Staaten mit ihr unterhandeln. Jede solche Philosophie ist unchristlich, auch wenn sie zu christlichen Resultaten kommt. Durch sie ist der Weltgedanke einer durchgehenden Selbstaufopferung erschüttert und nun mordet sich die Größe des andern Prinzips, der Selbstsucht, wieder heraus, um neues Element zu bringen, und vielleicht ein neues Dritte zu erzeugen, und dieser Kampf ist unsere klägliche Zeit. Um so kläglicher, da niemand mit der geteilten Wahrheit seines Herzens offen herausgeht, jeder ein Geordnetes lügt, um sich selbst zu beschönigen. So seid Ihr alle beschränkte Menschen, weil Ihr furchtsam oder frech abteilt, Euer Herz hat keinen Mut gegen Euer Gedächtnis, die Besseren halten zurück wegen der Gesellschaft, und darüber verlieren sie ihr Wahres und Großes; ich will mich aber nicht beschränken, darum werde ich ein Gott oder ein Ungeheuer.

Da meine Geduld und meine Kraft schwindet, so wird wohl ein Ungeheuer entstehen, Du magst recht haben.

Herrschen, herrschen! um dies eine Wort tobt aller Kampf der Welt. Ich wollte lieber ein Meer sein, als ein so großer Ohnmacht sich bewußter Mensch; das Meer in seiner weiten Macht bäumt sich gegen eindringende Gewalten, heulend und schüttelnd ringt es mit dem Sturme, sich zerschellend stürzt es an das Gestein des Landes. Ich aber liege kraftlos auf Brettern und Balken, und wo ich sei, ich bin preisgegeben.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 3, Leipzig 1908, S. 139-145.
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