16. Margarita an Valerius.

[149] Neuyork.


Ich habe keinen Auftrag, Ihnen die nachfolgenden Papierstücke Hippolyts zu senden, aber ich weiß, daß er Sie stets seinen einzigen Freund auf der Welt genannt hat, ich gebe sie auf das Schiff. Sind die Wellen nicht lüstern danach, so nehmen Sie diese Schlußworte eines gewaltigen Menschen freundlich auf.


»Fürchterliche Enttäuschung! O fürchterlich! Mache starr meine Faust, Pluto, daß ich dieses Fratzenbild einer neuen Welt in Scherben schlage. Die Freiheit hofft' ich zu finden, und finde die bettelhafteste Armut, und neben ihr noch alle Frechheit der Armut. Gold haben sie und suchen sie, aber kein Leben; allen Reichtum des Menschen, seine Lust, seine Klage, sein Sehnen, seinen Feind, sein ewiges Herz, seine schaukelnden Gedanken, seine Titanengedanken, seine Wollust, seine Verzweiflung, den ganzen Roman des Menschen, um den allein es sich lohnt, morgens aufzustehen, abends sich niederzulegen, alles das haben sie jenseits des Meeres gelassen, davon sind sie frei, das ist ihre Freiheit. Auch das Tier ist frei von menschlicher Sorge – o!«


»Jetzt fühle ich, was Tod heißt, zum ersten Male in meinem Leben, es ist ein giftiger Reif auf mein Auge, auf mein Herz gefallen, mein innerster Kern löst sich gähnend in Stücke, ich bin träumerisch, melancholisch, ich schreibe auf einzelne Papierstreifen, ich fliehe die Menschen und suche die Bücher, ich liege im verschlossenen Zimmer, und fürchte[149] die Natur; vor dem Meere zittere ich. Ich zittere, ich, Hippolyt – die Spiegel habe ich zugehängt, um nicht zu sehen, wie ich vor mir selbst erröte.«


»Der Kerl, welcher mir die Stiefel putzt, ein plumper, einfältiger Kerl, will behandelt sein wie ein Seigneur – wohl hattest Du recht, Valerius, die gleiche Berechtigung haben sie verleumdet, indem sie die Gleichheit daraus machten. Und diese Schwarzen! O frecher Frevel mit der Freiheit! Als wenn die Bedienten Europas sich Geld gespart und sich einen Staat errichtet hätten! Was nicht auch Bedienter gewesen ist, heißt Aristokrat, wessen Antlitz anders gefärbt ist, der heißt Hund, wird mit Füßen getreten, zertreten. Alle Prosa Europas ist hier zur Herrschaft gediehen; ich ersticke hier.«


»Keine Geschichte, keine freie Wissenschaft, keine freie Kunst! Freier Handel ist die ganze Freiheit, ein Gott von Pappe, in allerlei kleinen Buchbinderausgaben, ein Gott, dem man keinen Geschmack zutraut, weil man selbst keinen hat – eine neue Welt, welche von der alten nur ein paar Zahlen geerbt hat; was nicht Geld einbringt, ist unnütz, was nicht nützt, ist überflüssig! O schöne Freude einer edlen Bildung, warum habe ich dich mit Füßen gestoßen, eine Kaufmannsschule, welche sich für eine Welt ausgibt, rächt dich an mir!«


Die übrigen Zettel sind im Trubel der letzten Tage verloren gegangen, hören Sie die Erzählung derselben zum letzten Andenken an Ihren Freund.

Ich kam auf demselben Schiffe mit ihm hierher, die Rache trieb mich, ihn zu vernichten. Auf dem Schiffe konnte[150] ich nicht an ihn kommen, obwohl sich mir mehrmals die Gelegenheit bot, ihn rücklings über Bord zu stoßen; ich fürchtete mich vor ihm. Und hier, ach, hier wurde ich wieder Weib, der zerschmetterte Titan jammerte meine Seele, ich weinte hinter ihm her, wenn er einmal einen Spaziergang wagte. Die stolze Gestalt war geknickt, der wilde Kopf neigte sich auf die Brust, das schwarze Haar ergraute, das große, kühne Auge war verschleiert und suchte den Boden, seinem Lieblingstiere, dem mutigen Rosse, wich er scheu aus dem Wege. Ach! Es war ein trüber regnerischer Tag, als ich mein Herz so bewegt fühlte von Mitleid und Weh, daß ich zu ihm hintrat, meinen Schleier zurückschlug und sagte: Hippolyt, ich bin versöhnt, kann ich Dir helfen, kann ich Dich trösten? Er schrak zusammen, dann nahm er meine Hand, küßte sie, und es fielen Tränen darauf, vielleicht die einzigen, welche er in seinem Leben geweint hat. Es war später Nachmittag, die Arbeiter kehrten heim, plötzlich drang Geschrei aus einem Zugange der nahen Stadt, ein Neger stürzte wie ein Pfeil heraus, eine Schar Weißer hinter ihm drein; der Schwarze hatte den Vorsprung und flog wie ein Hirsch dem nahen Wäldchen zu, schon war er dicht daran, da fielen zwei, drei Schüsse, der arme Flüchtling sprang hoch in die Höhe, dann stürzte er lang hin an den Boden. Mit wildem Freudengeschrei stürzte die immer größer werdende Menge nach dem Opfer hin, an uns vorüber. Mit Entsetzen erkannte ich unter denen, die ein Gewehr trugen, das noch rauchte, Tallon, den Verhaßten. Ich warf eilig meinen Schleier über – welche Veränderung aber war mit Hippolyt vorgegangen! Wie von einem elektrischen Schlage war die ganze Gestalt aufgerichtet, das Auge blitzte, die Muskeln zuckten, gewaltiger als ich ihn je gesehen, stand er da und schritt straffen Ganges dem Haufen nach. Dieser war über den Leichnam hergefallen, ein deutscher Arbeiter hatte ein paar Worte des Mitleids geäußert, und man fiel, eben auch[151] ihn über her und schrie: »Lyncht ihn, lyncht ihn!« als Hippolyt wie ein Löwe in den Haufen hineinsprang, links und rechts die rohe Masse beiseite schleuderte, den deutschen Arbeiter an seine Seite riß und mit donnernder Stimme ihnen vorwarf, daß sie ein nichtswürdig Gesindel seien, das Menschenrecht und Freiheit mit Füßen trete.

Sie stürzten mit Gebrüll auf ihn ein, Hippolyt entriß dem einen die Büchse, schlug und mähte wie ein Athlet, und schuf zweimal, dreimal freie Bahn rings um sich her, er stand da wie ein zürnender Halbgott!

Tallon aber war zurückgetreten, die tückische Schlange, hatte seine Büchse wieder geladen, schlug an – ich sah's, stürzte hinzu – zu spät! Mitten in die Brust getroffen stürzte der stolze Leib Hippolyts nieder, mit furchtbarem Geheul schlug die Menge über ihm zusammen.

Es war Abend geworden, als sich die Rotte zerstreut hatte, der Regen goß, der schöne Leib Hippolyts war zertreten, und nur an den Kleiderfetzen war er vom nackten Negerleichnam zu unterscheiden. Ich habe die ganze Nacht bei ihm gesessen und geweint, dort, die Raubvögel scheuchend von seinen verstümmelten Resten, hab' ich's wie Dolchstiche empfunden, daß ich ihn geliebt habe bis zur Raserei, auch da, wo ich ihn morden wollte.

Ich werde in die Wälder hinüber gehen. Kann solch ein großes Menschenbild nicht bestehen in dieser Welt, was tut's, ob ein verloren Mädchen unter den Weißen oder unter den Rothäuten oder in der Einsamkeit zugrunde geht – Klöster gibt's nicht mehr, aber der Urwald ist noch nicht besiegt, dort ist noch Raum zum Sterben.[152]

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 3, Leipzig 1908, S. 149-153.
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