2. Hippolyt an Valerius.

[14] Schreiben und sagen könnt ihr alles, aber ob ein einziges Wort von aller Weisheit der Menschen wahr ist, das weiß der Himmel. Wenn man einmal zu zweifeln anfängt, so muß man alles bezweifeln. Du weißt, es ist sonst nicht meine Sache, skeptisch zu sein, aber wenn mir einmal solch eine Stunde kommt, dann ist alle Welt für mich fraglich. Lieber Gott, ist irgend ein Satz, eine Wahrheit in der Welt, von welcher nicht auch das Gegenteil plausibel gemacht werden kann? Das ist ein schrecklicher Triumph der Bildung, der immer wieder einmal deutlich hervortritt, wenn ein Volk seine Vollendung erreicht zu haben glaubt, um ihm begreiflich zu machen, die Welt sei mehr als unser Geist. In diesen[14] letzten Worten hast Du die Probe von diesem traurigen Exempel: vor ein paar Tagen schrieb ich ganz anders, da war der Gedanke der Geist Gottes und das Ding hatte auch seine Logik – ach, Sklaven, Sklaven, die wir sind in unsichtbaren Ketten, gegen welche alles Toben und Wüten vergeblich ist!

Erinnerst Du Dich der Sophisten in Griechenland, welche die Schulweisheit so vornehm wegwerfend anzusehen pflegt? Diese Leute sind ein entsetzliches historisches Moment. Sie waren die Gründer der eigentlichen Bildung, sie wandten die Philosophie auf alles an, sie emanzipierten das Denken für den täglichen Gebrauch – und sie waren wirklich der Grenzstein Griechenlands. Nicht daß ich die unhistorische Plumpheit nachsagen möchte, die Sophisten hätten Griechenlands Untergang herbeigeführt. Sie produzierten nicht sowohl etwas, sondern, sie waren ein Produkt. Der Kreis von Griechenlands lebendiger Entwickelung ward in ihnen vollendet, wie die Zeit fröhlicher Jugendjahre – die Jahreszeit und die Weltgeschichte wartet nicht auf unsere Wünsche. Und, Freund, es will mich manchmal bedünken, als sei die Welt wieder auf solchem Punkte. Damals wurde das Altertum geschlossen, jetzt geht das Mittelalter zu Ende, wenn es auch äußerlich schon mit Kaiser Max, Berlichingen und Sickingen gestorben ist. Weltperioden sterben immer jahrhundertelang. Das Christentum, die Fahne der mittleren Zeit, ist jetzt, wie damals die Weisheit der Alten, in Lebensgefahr, sein göttliches Element der Humanität ist in die allgemeine Kultur aufgenommen, wie in Griechenland das Denkgesetz; nun beginnen die neuen, unzuberechnenden Gestaltungen, und wir stehen mitten im Wirrwarr und unseren Händen entschlüpfen die Urteile über Dinge und Gedanken. Wir sind wieder bei dem traurigen Satze: Sagen und schreiben könnt ihr alles, aber ob ein einziges Wort von aller Weisheit der Menschen wahr ist, das weiß der Himmel.[15]

Du hast mich nicht angesteckt, Freund, mit Deinen Warschauer Briefen. Jeder denkende Mensch, der an den Parteiungen seiner Zeit lebhaften Anteil nimmt, liest und denkt seinen Faust. Gott sei Dank, ich tue es selten, und bin härteren Stoffes denn Du. Rasches Wirken beschleunigt die Zustände, je unsicherer man im allgemeinen wird, desto kräftiger muß man im besonderen, im Nächsten wirken, nicht aber unschlüssig stehen bleiben, wie es Dir am Ende begegnen wird. Das nächste, klar ausgesprochene Ziel der Menschen ist die Freiheit; schaff sie herbei, wir wollen sehen, was danach entsteht – »schlag Du erst diese Welt in Trümmer, die andere mag danach entstehen«. –

Leopold war's, der mich in der Beschreibung Margaretens, van Waelens schöner Tochter, störte. Du kannst ermessen, wie er nach gewöhnlicher Manier nicht drei Tage mit zwei schönen Weibern leben konnte, ohne der älteren zu sagen, sie sei bezaubernd und die jüngere, den Engel seines Lebens, um Herz und Hand zu bitten. So wie er damals in aller Geschwindigkeit eine Prinzessin heiraten wollte, so macht er's noch heut' mit jedem hübschen Mädchen. Es ist nicht etwa die Absicht eines ungeschickten Roué, der unter der schützenden Ägide einer baldigen Hochzeit dreist seinen Liebeswünschen folgen zu können glaubt – Gott bewahre, es ist Leopolds schnell erregtes, überwallendes Herz, es ist sein augenblicklicher, vollkommener Ernst, und das Wunder ist groß, daß ihn noch nirgends eine Schöne ebenso schnell beim Worte genommen hat. Er hätte in den nächsten acht Tagen in der Güte seines Herzens die zweite, in den nächsten vierzehn Tagen die dritte geheiratet. Ich habe neuerdings den Jungen lieb gewonnen; Du erinnerst Dich, daß mir eine Zeitlang seine leichtsinnige Faselei, sein immerwährendes Lügen völlig zuwider war. Er ist eigentlich noch ganz derselbe, aber bei dieser platten, alles berechnenden Zeit ist mir sein Leichtsinn eine Art von Poesie geworden:[16] der Junge bewegt sich fortwährend in der Welt herum, als lebt' er noch zu König Artus' Zeit; alle Begebenheiten seines täglichen Verkehres sind zwar in seinem Munde nach den gewöhnlichen Begriffen Lügen, wenigstens Unwahrheiten, aber sie sind romantisch, sie beleben das tote Einerlei unseres geselligen Treibens. Und mir tut solch ein verschollenes ritterliches Interesse manchmal so not, daß ich froh bin, mich Leopolds Täuschungen hingeben zu können. – Also, er sprang ins Zimmer, während ich an Dich schrieb – »Hippolyt,« schrie er, »spanisches Blut, Enkel des Cid, es gibt romantische Geschäfte, noch siegen die Kaufleute nicht über die alte herrliche Welt mit den bunten, unerwartet wechselnden Erscheinungen. Hippolyt, die Liebe läßt nicht alle Romantik untergehen. Tallon will morgen Margareten entführen – beim Hahn des Äskulap, beim Zauberer Merlin, es ist kein Scherz, keine Posse, komm mit mir, Du sollst es selber hören. Du weißt, wir sind eingeladen, übermorgen früh Waelens nach dem Felde von Waterloo zu begleiten, Tallon ist von der Partie, im Vorwerke la belle alliance wartet der Wagen mit Napoleons sechs Rappen, die ihn damals nach Brüssel zur Krönung führen sollten und welche jetzt Herrn Tallon mit der schönen Margarete nach Valenciennes zur Hochzeit bringen sollen. Lache immer, aber setz Dir den Hut auf und folge mir, Du sollst selber hören.«

Ich brauche nur ein paar Worte meiner abgebrochnen Schilderung zuzusetzen, damit Du die Sache übersiehst. Leopold, der liebenswürdigste Begriff von Liebe, fügte sich mit der rührendsten Gutmütigkeit in die zweite Stellung, als er sah, daß ich ihn bei Margareten aus der ersten verdrängt hatte. Seine zarte, wenn auch unermüdliche Zudringlichkeit war dem Mädchen erwünscht gewesen, weil sie den unangenehmen Bewerbungen eines Herrn Tallon in den Weg getreten war, den Margareta nicht leiden mochte. Zudem[17] mißfällt der kleine Schelm niemals einem Weibe. Dieser Tallon nun ist eine der rätselhaften Erscheinungen, wie sie seit der Revolution hier in Belgien gar nicht selten sind. Man weiß nicht genau, wo er hergekommen, man weiß nicht genau, was er ist, aber er zeigt sich überall als einen entschlossenen Revolutionär, der furchtlos zu den gewagtesten Schritten rät und bei der gefährlichsten Gelegenheit vorangeht. Er ist von außerordentlicher Bildung und Geschmeidigkeit, ein Mann von etwa dreißig Jahren, mit einem ausdrucksvollen Gesichte und stechenden schwarzen Augen. Er hat sich, wie gesagt, bei allen Vorfällen der Revolution tapfer und unerschrocken bewiesen, er spielt die Rolle eines glänzenden Ehrenbürgers des neuen Staates, Lebensart und Gewohnheiten bezeichnen ihn als einen reichen Mann.

Natürlich war ein solcher Mann in Waelens Hause sehr willkommen. Herr van Waelen gehört als Advokat zu der abstrakten liberalen Partei, deren Ziel die Republik ist. Der Anführer dieser Richtung ist de Potter. Diese Leute sind die Protestanten der neuen Ära; der bare, kühle Rechtsverstand ist ihr Panier, die Prosa ihre Gebieterin. Mit Herrn van Waelen ist Tallon vollkommen d'accord, wenn sie nebeneinander im Salon auf und nieder gehen und Europa regieren und einrichten. Mancher schnelle Seitenblick aber, den Tallon auf Frau van Waelen wirft und welchen diese mit einem stolzen Lächeln beantwortet, unterrichtet den aufmerksamen Zuschauer, daß Tallons Glaubensbekenntnis mit diesen mageren Ideen nicht erschöpft ist. Frau van Waelen ist katholisch, ultramontan katholisch, sie gehört zur fanatischen Glaubenspartei, die sich mit den protestantischen Republikanern zum Sturze der holländischen Herrschaft verbunden hat. Ihr Held ist der Erzbischof von Mecheln. In stillen Stunden mag Herr Tallon katholisch revolutionär sein, die Revolution im allgemeinen ist das Geschäft rühriger Leute wie Tallon. Margarete liebt die orangegelben Westen,[18] wenn man sie über Politik fragt, so ist sie für ein selbständiges Reich Belgien wie die anderen, aber lächelnd meint sie, der Prinz von Oranien sitze gut zu Pferde, die alten Bekanntschaften würden nicht zerrissen, wenn er auf einen Thron zu Brüssel gesetzt würde, und ein Hof wäre doch notwendig, sonst wäre Brüssel nicht Brüssel, und die Kaufleute klagten abends zuviel in der Teestunde. Mit Margareten lächelt Herr Tallon. Trügt mich nicht alles, so ist der Bursch ein Italiener, obwohl er sich für einen Franzosen ausgibt. Die Italiener waren immer die Agenten der Weltgeschichte, wenn nicht im großen und ganzen, dann im kleinen und einzelnen, Cäsar, der Papismus, Machiavell, die Bilder, die Opern, Napoleon, alles das stammt von dorther.

In dieser Familie siehst Du nun den größten Teil von Belgien, in Tallon vielleicht einen Revolutionär von Profession oder Neigung; nous verrons. Kurz, seine Heiratsbewerbungen sind bis jetzt an dem Mädchen gescheitert, das revolutionäre Interesse Belgiens nimmt ab, Tallon hat vielleicht also ohnehin Lust, das Land zu verlassen, tiefe Leidenschaft liegt offenbar hinter diesen schwarzen Augen, Leopolds Geschichte von Entführung ist nicht unmöglich – ich folgte dem Kleinen.

»Halt,« sprach er unterwegs, »tritt mit mir in diesen Laden, kauf uns zwei Blusen, wir müssen echt belgisch aussehen, wenn wir was erfahren wollen.«

Ich tat dem Kleinen den Willen, wir warfen die blauen Hemden über, und nun führte er mich durch eine Menge Straßen bis vor ein kleines Wirtshaus. Man hörte schon von weitem den Lärm der Zecher. Dieses Hotel hieß vor der Revolution »Zum guten König Wilhelm«, als es aber in den Journalen Mode wurde, den guten König Wilhelm nur Guillaume le bourreau zu nennen, da änderte der Wirt dieses Hotels ebenfalls seine Devise. Das Schild ändern, oder[19] gar ein neues machen zu lassen, wäre zu kostspielig gewesen, er strich also auf Autorität der Journale das Wort König aus und setzte das beliebt gewordne an die Stelle. So siehst Du denn jetzt die mehr als wunderliche Überschrift für einen Gasthof »Zum guten Henker Wilhelm«. Das Bild selbst ist dem Künstler von vornherein so vortrefflich geraten, daß es nicht der mindesten Abänderung bedurft hat – tritt herein, hier findest Du die echtesten Wallonen, Flamländer und Brabançonen, Du sollst kaum in Deinem Leben mehr fluchen gehört haben.

Du darfst Dich nicht wundern, wie Leopold zu solchen Detail- und Lokalkenntnissen gekommen ist. Daß er mit seiner Beweglichkeit überall herumschnüffelt, weißt Du ohnehin, und dann hat er während des Revolutionskampfes als Arzt figuriert, und dieser Gasthof ist ein Hauptdepot gewesen.

Wir traten in eine niedrige Schenkstube, und setzten uns in den dunkelsten Winkel. Der Wirt, dessen Wange und Backenbart von Fett und Wohlsein glänzte, fragte nach unserm Begehr. »Ach, sieh da, Herr Doktor,« sprach er, an sein Samtkäppchen greifend, zu Leopold, »das ist doch schön von Ihnen, daß Sie auch in langweiligen Friedenszeiten mein Haus nicht verschmähen, ich hab's wohl immer gesagt: der Herr Doktor ist ein echter Volksfreund, er tut nicht apart und macht sich mit jedermann gemein, ohne Unterschied – hab' ich recht, Herr Doktor?«

»Ohne Unterschied,« entgegnete Leopold, »setzen Sie sich zu uns, Herr Motten, helfen Sie uns eine Flasche feinen Roten ausstechen und erzählen Sie uns von Krieg und Frieden und wie teuer die Metze Hafer« –

»Hehe! immer der alte Spaßvogel, wie in den munteren Septembertagen – he, Charles, eine Rote hinten aus der Ecke im zweiten Keller! – Hol der Teufel die Holländer, mein Herr, Sie können glauben, unser kleiner Herr Doktor hier hat manchen Wallonen zum Lachen gebracht, während[20] er ihm den braunen Arm vom Leibe schnitt, den sie drüben im Park dem armen Jungen zerschossen hatten; immer hat der kleine Doktor, – mit Permiß, daß ich mich so freundschaftlich ausdrücke – immer hat er einen Spaß bei der Hand; aber hier kommt der Rote!«

Während der Wirt einschenkte, machte mich Leopold auf zwei sonnverbrannte Gesichter aufmerksam, die allein beim nächsten Tische saßen. »Das sind Tallons Spitzbuben, horch auf sie, ich beschäftige den Wirt,« flüsterte er mir zu.

Die Burschen aber saßen schweigend bei ihren Schnapsgläsern und bliesen die Rauchwolken aus den Tonstummeln, welche sie im Munde hielten. Ich hatte Zeit, das ganze Terrain zu rekognoszieren, soweit es die Tabakswolken gestatteten. In Belgien ist das Rauchen schon wieder viel allgemeiner als in Frankreich. Es waren noch drei Tische besetzt, aber die Blusen machten alle Gestalten so einförmig und das Durcheinander von Dialekten verwirrte mich auf der andern Seite so, daß ich zu keiner klaren, gesonderten Vorstellung kommen konnte.

Ein schwarzer Krauskopf, welcher eintrat, erregte die allgemeine Aufmerksamkeit, alles rief und trank ihm zu, bon jour, Jacques! bon jour, Jacques! scholl es von allen Seiten, und das allgemein werdende Gespräch ging jetzt in ein rauhes, hart klingendes Provinzialfranzösisch über. Nur der neu angekommene Jacques sprach geläufig.

»Die Franzosen sollen leben!« rief ein kleiner Blusenmann.

»Die Franzosen sollen leben,« setzte ein anderer hinzu, »solange sie Belgien Belgien sein lassen und weiter nichts wollen.«

Jacques warf ihm einen unwilligen Blick zu und sagte: »Waren die Franzosen nicht immer großmütig? Ist das Land nicht weit genug von der Bidassoa bis an den Rhein, brauchen die Franzosen mehr?«[21]

»'s soll uns lieb sein, Jacques,« erwiderte der Opponent lachend.

»Ihr seid ein mißtrauisch Volk,« sprach Jacques, »wenn ihr ein Volk seid« –

»Halloh!« schrie aus einem Munde die ganze Stube, alles war aufgesprungen und aus mancher Bluse sah man diese oder jene Waffe hervorblitzen. – »Unverschämter Franzose!« brummte der Wirt.

Jacques schlug ein Gelächter auf, griff nach seinem Glase, als ob ihn die Drohungen, welche von allen Seiten auf ihn flogen, gar nicht kümmerten, und rief: »Messieurs, es leben die nördlichen Italiener!«

Brummend setzte sich alles nieder. – »Nördliche Spanier sind wir,« sprach der Opponent, »so wahr ich Juan Meravilla heiße« –

»Heilige Mutter Gottes,« rief einer, »das klingt spanisch.«

»Was hat die heilige Mutter Gottes mit Belgien zu tun,« erinnerte der größere von den sonnverbrannten Burschen, zu denen sich Jacques gesetzt hatte, »die hilft heutzutage nicht mehr.«

»Hör einmal, Highmans, dergleichen Anzüglichkeiten auf unsere katholische Religion verbitten wir uns, wir Spanier« –

»Ach, du spanischer Schafskopf, bleib mit deinem dummen Zeuge zu Hause, um eure Mutter Gottes kümmert sich heutigentags kein vernünftiger Mensch mehr, und um eurer Pfaffen willen haben wir uns das Blut nicht abzapfen lassen im September« –

Ein drohendes Murren erhob sich an mehreren Orten. »Highmans ist ein Mensch ohne Gewissen,« murmelte Herr Motten, der Wirt, »Ihr Wohlsein, Herr Doktor,« setzte er hinzu und leerte schlürfend sein volles Glas.

»Da seht Euch Vetter Motten an,« rief Highmans, »der weiß seine Heiligen zu behandeln, er trinkt ihnen ein Glas[22] Rotwein nach dem andern zu, nicht wahr, du Wirt zum Henker, das ist die beste Religion?«

»Du bist ein gottloser Mensch,« brummte Motten, »wer einmal mit englischen Matrosen verkehrt hat, der verlernt 's Beten und Singen« –

»Aber 's Trinken lernt er, Motten zum Henker, und das muß deine Religion sein, wenn du ein aufgeklärter Geist bist – drüben in Luxemburg nennen sie's Saufen, ein schönes Wort, beim lustigen Altenglend.«

»Der Teufel hole Alt- und Neuengland!« rief der spanische Belgier, »sie haben uns bei Waterloo die Holländer gebracht, und« –

»Du stockblinder Spanier, wie lange ist das her!« unterbrach ihn Highmans, »weißt du denn, wie weit 's bis Waterloo ist?«

Jener dachte nicht daran, daß die Frage wörtlich gemeint sein könne, und schwieg. Ich aber verwandte nicht Auge noch Ohr von Highmans, und es entging mir nicht, als dieser leise, an Jacques sich wendend, die Frage wiederholte. »Ich bin nie draußen gewesen,« setzte er hinzu, »und habe übermorgen ein Geschäft da.«

Währenddessen war der sogenannte Meravilla aufgestanden und dicht an mich herangetreten, als nähme etwas in meiner Nähe seine Aufmerksamkeit in besonderen Anspruch. »Holla,« schrie er plötzlich, »ein Orangemann!«

Bei diesen Worten fuhr alles auf und stürzte hinzu – »Was? Wie? Nieder mit den Orangisten!«

Ich, der ich nur auf Highmans geachtet hatte, wurde jetzt erst inne, daß es mir galt und daß der spanische Belgier – die Hand nach mir ausstreckte. Ich warf ihn unsanft zurück und fragte, was dem Narren einfiele?

»Nieder mit ihm, ihr Belgier,« rief er zornig, hielt sich aber in einiger Entfernung, »unter der Bluse an der schwarzen Halsbinde trägt er eine Orangeschleife!«[23]

Ein wildes Geschrei erhob sich, und der ganze Haufe drängte auf mich ein. Ich erinnerte mich, daß mir Margarete den Tag vorher im Scherz eine solche Schleife an das Halstuch gesteckt hatte, beim schnellen Ankleiden, als mich Leopold drängte, war dies verräterische Parteizeichen vergessen worden.

Herr Motten, der Wirt, erhob sich ebenfalls mit seinem feisten Leibe vom Stuhle und sah mit unverkennbarer Angst in die Falten meiner Bluse hinein. »Beim glücklichen September,« murmelte er »ein Orangeband! Aber mein Herr Doktor, wie können Sie in solcher Gesellschaft meinen wohl und patriotisch renommierten Gasthof« –

»Wirf doch den Lappen weg,« flüsterte Leopold und störte Herrn Motten in seiner Rede. Der Haufe stürzte aber schon wirklich auf das gelbe Band los. Du weißt indessen, daß der Träger desselben zufällig ein Paar gesunde Fäuste besitzt; diese warfen denn auch die nächsten Stürmer ohne weiteres zu Boden und bewaffneten sich mit der halbleeren Weinflasche. Eine augenblickliche Pause trat ein, und ich nahm das Wort folgendermaßen: »Meine Herren Belgier oder Spanier, wie Sie sich nennen, ich bin kein Orangist; diese ihnen so verhaßte Schleife ist sehr zufällig von einer schönen Dame an mein Halstuch befestigt worden, eine sonstige Bedeutung hat sie für mich nicht, und ich stünde keinen Augenblick an, sie zu entfernen, hätten Sie sich nicht in eine so drohende Stellung geworfen, als sollt' ich dazu gezwungen werden. Das Haus Oranien ist mir sehr gleichgültig, aber zwingen lass' ich mich auch nicht zur gleichgültigsten Handlung. Setzen Sie sich ruhig an Ihre Plätze, dann will ich Ihren Wünschen willfahren; dem ersten aber, der sich mir nähert, schlag' ich den Hirnschädel ein.«

Herr Motten war der erste, welcher sich mit einem bedeutungsvollen Seitenblicke entfernte; Herr Juan Meravilla fluchte bei den Heiligen und setzte sich, und zu meiner[24] eigenen Verwunderung taten die übrigen ein Gleiches. Jacques, Highmans und sein Nachbar hatten merkwürdigerweise gar keinen Anteil an dem Vorfall genommen, sondern waren in leisem, eifrigem Gespräche begriffen. Es war nicht ratsam, länger zu weilen und auf dieses zu horchen, wir bezahlten unsere Zeche an Charles und gingen. Herr Motten stand im Hausflur und schien auf uns zu warten. Er machte eine schlaue Miene und schüttelte einige Worte heraus, die ungefähr andeuten mochten, er kenne den Lauf der Welt, und ein guter Gastwirt sei ein unparteiischer Punkt, »es ist nur wegen meines Schildes,« setzte er hinzu, »daß ich mich erkundige, ob wir eine Änderung zu erwarten haben. Denn sehen Sie, ich habe den Henker draußen nicht hingeschrieben, sondern Highmans und der Spanier drin', aber mich würde man beim Kopfe nehmen; wenn man aber nur den rechten Augenblick weiß, da geht das schon. Ich weiß am besten, wie die vornehmen Herren für den Prinzen von Oranien sind, den Gott schützen möge, und Geld ist die Seele – vielleicht könnten Eure Herrlichkeit einem armen, betriebsamen Bürger einen Wink geben« –

»Morgen mittag, Punkt zwölf Uhr, Herr Motten,« sagte ich und ging, Leopold mit fortziehend. Herr Motten stand noch mit abgezogenem Käppchen unter seinem Henkerschilde, als wir schon weit fort waren. Die europäische Politik mochte ihn schwer beunruhigen.

Ich hatte eigentlich nicht viel mehr erfahren, als Highmans Frage, wie weit es bis Waterloo sei, welche mit Leopolds Aussage in einer Beziehung zu stehen schien.

Gegen die Teezeit ging ich nach Waelens Hause. Herr Tallon war mir bereits zuvorgekommen, und das Gespräch wendete sich nach allen Seiten um die Partie nach Waterloo, welche den Tag darauf veranstaltet werden sollte. Die politischen Beziehungen ließen nicht auf sich warten, Herr van Waelen sprach vom Könige Pharamund, dem Gründer des[25] salischen Gesetzes, und den stolzen, gewaltigen Chlodowigs und Chlotars, die alle in Belgien gesessen. »Von hier aus,« sprach er mit Emphase, »ist Frankreich erobert worden, Belgien ist der Ursitz der Merowinger, bis heutigentags der Mittel-, Grenz- und Sammelpunkt der romanischen und germanischen Völker.«

Ich hatte mich still zwischen Frau und Fräulein van Waelen eingeschoben, ließ die politisierenden Herren im Zimmer auf und ab gehen und sah bald in die glänzend dunkelblauen Augen Margaretens, bald auf die weiße, schöne Hand der Mutter. Es ist gar kein Wunder, daß sich hier eine Malerschule ausgebildet hat: man findet nicht leicht anderswo ein lockenderes, schöneres Fleisch, eine lebhaftere Inkarnation, und auch das Fleisch hat seine Rechte, ja seine Geheimnisse, es schafft die Form, es sänftigt und hebt die Gedanken, es spiegelt das Blut und Leben des Menschen – die asketischen Leute müssen alle plastische Kunst verdammen, wenn sie konsequent sein wollen. Die Schönheit des Laokoon beruht auf denselben Gesetzen wie die Schönheit der marmornen Venus. Gott soll nun aber durchaus den schönen Leib dafür geschaffen haben, daß er nicht gesehen werde. Die protestantisch-christliche Gesittung hat doch recht viel Ähnliches von einer Pensionsschulmeisterei, wo den Kindern gerade nur soviel frische Luft gestattet wird, als sie zum kümmerlichen Leben durchaus nötig haben.

Worin liegt es wohl, daß ältere Frauenzimmer einen so großen Reiz für jüngere Männer haben? Die Tatsache ist nicht abzuleugnen, daß die jungen Burschen sich zumeist in die Frauen von dreißig Jahren verlieben. Daß ihnen solche weiter und behilflicher entgegenkommen als die blöden Mädchen, löst das Rätsel noch keineswegs. Es muß noch irgend ein Mysterium der Reife darunter verborgen liegen. Ich gehöre doch eigentlich nicht mehr zu den jungen Burschen, und ich kann mich eines großen Interesses für die schöne[26] Frau van Waelen nicht erwehren, obwohl ich Margareten schöner und liebenswürdiger finde. Dieses wunderliche Verhältnis hat auch alle meine Bewerbungen gelähmt, die zweifellose Einheit und Ganzheit meiner früheren Wünsche ist dadurch gelähmt, und sie war's, welche mir immer die Kraft und Zuversicht des Gelingens einflößte. Ich verliere meinen Charakter in diesem Zustande und mit ihm mein Heil, denn dies beruht immer in dem Gleichartigen zwischen unserem Charakter und der daraus fließenden Handlung und Folge.

Nur wenn ich mich recht geläutert und hoch gestimmt fühle, da siegt Margaretens poetisches Jugendwesen völlig. Und so war's an jenem Abende.

Du hast noch kein Bild von ihr, ich wurde damals in der Beschreibung gestört. Sie ist hoch und schlank – was könnte auch eine der gewöhnlichen, zusammengedrückten Figuren für ein Interesse erregen! Der Wuchs ist die Freiheit, ist die Idee des Körpers, er macht aus dem Leibe die schöne Säule, welche in weichen, runden Begrenzungen ringsum und aufwärts nach Luft und Himmel strebt. Und nun sind alle Formen Margaretens, die Schultern, die Hüften und was sonst nach außen strebt, erst so fein, jugendlich, ich möchte sagen unschuldig gerundet, es ist noch keine Spur zu sehen, daß sie einst ebenso überreif, stark, überfüllt aussehen werden, wie dies leicht bei Weibern von üppiger Vegetation eintritt; es ist über das ganze Mädchen noch jener lockende Höhenduft des Lebensmorgens ausgegossen, wie man ihn auf fernen, ersehnten Bergen liegen sieht, daß ich dies süße Kind nur mit einer wohltuenden Sehnsucht erblicken kann, mit einer Sehnsucht von so wunderlichem Gemisch, wie sie mir eigentlich fremd ist. Von jenem keuschen, unschuldsvollen Elemente, das die Deutschen oft im Munde führen und das auch gewiß nur echt germanisch ist, mag etwas dabei sein; von meinen innigen, tiefen Liebesgedanken zu meinem gestorbenen[27] Engel Desdemona regt sich auch wohl etwas in mir, wenn mich Margareta mit ihren dunkelblauen Augen vertrauensvoll anblickt. Aber es sind doch alles dies nur Teile und Anfänge, das unwiderstehliche Etwas, welches keine Wahl mehr überläßt, jenes psychische Mysterium der Liebe fehlt noch. Und so ist es immer nur ein beglückendes Wohlbehagen, das ich an der Seite des Mädchens empfinde, aber wenn ich mich ihm eine Stunde hingebe, dann sehe ich recht, wie dem Kinde die Flügel wachsen, und es wird das blaue Auge glänzender und Wort und Wesen kühner, ich bemerke ein Wetterleuchten an unserem Horizonte und ich glaube manchmal, über kurz oder lang ist das Gewitter da und der Blitzstrahl, dem nichts entrinnen kann, fährt hernieder. Ich habe soviel deutsche Gewohnheit bei Euch angenommen, daß ich diesen unbestimmten Dämmerzustand bereits liebe, wie wenig er auch sonst zu meinem Wesen stimmt, das die Mittelzustände gern überspringen mag. Es sind kleine, niedrige Lehnstühle nach veralteter Form, welche im Salon benutzt werden. Aber es sitzt sich deutsch behaglich auf den rotsamtenen Polstern, und ich saß wie ein wohliger Glückspilz am Teetische zwischen den Frauen, ließ Leopold die Mutter unterhalten und erzählte der Tochter Märchen und Geschichten. Wenn ich mich so recht stark und kräftig fühle, so wild und katalonisch, wie Du's manchmal nanntest, so daß ich den Herrgott herausfordern möchte, die Erde auf meine Hand zu legen, dann gebe ich dem dunkeln, ja dem farbigen Teint des Weibes den Vorzug, dann erscheint mir das nördlich-europäische Weiß schwächlich und krankhaft, ich bilde mir ein, solch ein weißes, blasses Geschöpf hat keinen Gegendruck, keinen Widerstand für meine Kraft, es müsse zerbrechen unter meinen Armen. Aber jene braune, weltstürmende Kraft ist durch Juliens Widerstand gebrochen, ich weiß nicht, ob sie mir noch einmal in ihrer alten Macht und Fülle wieder kommen wird, und der elegische, weiße Teint ist jetzt mächtig[28] über den schwachen Hippolyt. Margaretens Haupt ist durchsichtig wie ein heiterer Abendhimmel, ich sehe den kleinsten Gedanken in ihren Adern hüpfen und dies klare, griechische Antlitz liegt wie ein aufgeschlagenes Buch vor mir. Ihr Haar ist – ja, wenn ich das einfache, platte Wort hinschreibe, so erschrickst Du und die Illusion ist Dir zerstört, die Leute haben sich eingebildet, rotes Haar sei ein für allemal garstig. Die guten Leute! Brandrotes, schattenloses Haar ist allerdings widerwärtig, es verödet das Gesicht. Aber Margaretens Locken, dichte, glänzende Locken, sind aus Gold- und Kastanienbraun so schimmernd gemischt, daß ich nie etwas Schöneres gesehen zu haben glaube. Das farblose matte Blond ist durch die Tiefe der Goldfarbe völlig vernichtet, und das Schattige des Kastanienroten, die dunklen Augenbrauen heben das weißeste Antlitz überaus. Es bleibt ein merkwürdig Spiel der Natur, daß sie das Temperament durch äußere Zeichen ankündigt: hinter solchem Haar muß ein heißes Umarmungsfeuer lodern, ich fühle so etwas von elektrischer Wirkung, wenn ich die weichen Finger dieses Mädchens berühre.

Ich sagte ihr mit halben Worten etwas davon, daß Monsieur Tallon sie in Waterloo entführen wolle. Das Blut schoß ihr ins Gesicht und verließ es plötzlich wieder; sie sah mich mit einem herzdurchdringenden Blicke an, worin allerlei Bitte lag.

Monsieur Tallon aber hatte längst ein Auge auf uns und nötigte mich durch eine geschickte Wendung, an dem politischen Gespräche teilzunehmen.

Du glaubst gar nicht, wie ich all die politischen Redensarten satt habe, selbst wenn ich sie selber mache, selbst wenn ich sie Dir gegenüber mache! Wahrhaftig, aufrichtig zu sein ist doch über die Maßen schwer; es spricht ein gelernter, gebildeter Mensch in uns, der wenigstens bei mir immer noch etwas ganz anderes ist, als ich selber. Ganz eigentlich lebt[29] ein so tiefer bestialischer Drang in mir, der Dich entsetzen würde, fänd' ich einmal die ganz rücksichtslosen Worte dafür. Herrschen will ich, despotisch herrschen, das ist alles, und ich verarge es keinem Staate, keinem Herrn, wenn er für abstrakte Forderungen auch nicht den kleinsten Zipfel seiner Macht hingibt, die Macht ist alles, die Kraft, die Gewalt! Was Gesetz, was Regel! Wenn sie mir in den Weg treten, so sind sie mir im Wege, und ich stoße sie beiseite. Ich lüge mir und lüge Dir, wenn ich mich in Räsonnements ergehe, denn meiner eigentlichen Seele sind sie alle fremd. Aber Ihr Prinzipienmenschen bildet und karrt, Leute meines Schlages genießen, herrschen, leben oder die Kugel trifft sie.

»Warum, Frau van Waelen,« sagte ich leise zu ihr, »kümmern Sie sich um Politik, die Sie mit Ihrer Schönheit, mit Ihrem Herzen Kummer und Leben bereiten können? Erst wenn wir selbst unmächtig werden, fragen wir nach Parteien, eher nicht; nur die Mittelmäßigkeit assoziiert sich, nur die Prosa; warum bleiben Sie nicht allein? Ich bin auch allein.«

»Holen Sie mich heute im Theater ab; den letzten Akt des Stückes liebe ich nicht.«

Es ist ein prächtiger Anblick, diese hohe, volle Frau in den schwer seidenen Gewändern; schweigend ruht die Schönheit ihres Antlitzes wie ein tiefer See, auf dessen Grunde die bewegtesten Geheimnisse und Leidenschaften schlafen; zuweilen tritt solch ein leiser Druck aus unbekannter Tiefe in das schwarze Auge der schönen Frau van Waelen.

Ich werde sie abholen.


Natürlich war ich zeitig im Theater; sie saß in vollem Putze da, ich sollte sie zu einer Soiree fahren, die sie heute abend noch besuchen wolle, eine vornehme irische Familie, die tags darauf Brüssel verlassen werde, empfange zum letzten Male. »Es sind interessante Katholiken, die mein Mann[30] nicht kennt und nicht goutiert – haben Sie Lust, vorgestellt zu sein, man wird Sie als ein spanisches Kind willkommen heißen, und die Leute halten die paar Monate, welche sie hier zubringen, offenes Haus.«

Die Frau glich dem schönsten Rubensschen Bilde von einer spanischen Königin, das er malen konnte, und doch war der prächtige Nacken- und Schulterbau nicht so feist fleischig, wie ihn Rubens leicht machte, und doch war der gesund und kräftig weiße Teint dieser Fratz ebenso schön! Nicht das krankhafte Weiß, das man bleich nennen soll. Und wie üppig, warm und kräftig war die Atmosphäre des Weibes!

Ich drängte zur Abfahrt. Einen so vortrefflichen Bedienten wie jetzt habe ich nie gehabt, die Italiener sind geborene Bediente und Kuppler. Nicht ein Wort hatte ich ihm gesagt, als ich sie in meinen Wagen hob, und er ließ durch alle krummen Straßen Brüssels fahren, die er nur finden konnte, ehe wir zum Hotel der Irländer kamen.

Frau van Waelen kam meiner stürmischen Umarmung weniger stürmisch, aber heiß und fest entgegen, wies indessen mein wildestes Drängen insoferne entschieden ab, als sie mir verhieß, schon morgen zum einsamsten Rendezvous ein Zimmer ihres Hauses zu öffnen.

Was interessierten mich die Irländer und die katholischen Belgier, welche diese Revolutionsspielerei eingeleitet haben! Meine Erwählte war so auffallend schön, daß ich drängte und drängte, um nur wieder im Wagen zu sein und diesen lockenden Leib zu küssen. Eine magere Brüsselerin, die viel mehr Spitzen als Reiz bei sich trug, tippte meiner Dame den Nacken an und belehrte sie lächelnd, daß an der Schultereinfassung hinten etwas zerrissen wäre, ihre Kammerjungfer müsse sehr leidenschaftlich sein.

»Ja, Werteste, das ist sie,« erwiderte lächelnd meine Dame, und wir gingen, dem Zuschnitte der Gesellschaft nach,[31] ungewöhnlich früh; aber die Zeit war lang bis zum andern Tage und mein Blut heiß, und mein Giacomo kannte Brüssel so gut, daß wir erst nach einer guten Stunde vor Waelens Hause ankamen.


Morgen ist morgen, verstehst Du, nach Leopolds Rechnung; zwischen dem Übermorgen, wo sie nach Waterloo fahren, liegt also noch ein Tag und eine Nacht – nun Adieu, der Schlaf soll mich suchen.


Ich schreibe Dir weiter nach mehreren Tagen und zwar aus Ostende, angesichts des Meeres. Höre, wie sich's begab.

Als ich an jenem »morgen« zu Waelens kam, fand ich die schöne Frau vom Hause allein im Salon; es war ein sonniger Herbstnachmittag, Margareta war im Garten, Herr van Waelen auf dem Kaffeehause. Sie winkte mir beredsam mit den großen Augen, und wir stiegen die Treppe hinauf, gingen durch die prächtigen Gemächer des Vorderhauses und rasteten in einem schönen Eckzimmer. Zwei große, üppige Gemälde der flamändischen Schule lachten von der silberweiß tapezierten Wand, der Sonnenschein blitzte nur in einzelnen Ritzen durch die geschlossenen grünen Jalousien.

Hier zeigte sie mir eine unbemerkbare Tapetentür, welche auf einen Korridor des Nebenhauses führt, gab mir die nötigen Instruktionen und verhieß mir zum Abende den Schlüssel, welcher das unbewohnte Nebenhaus und die Türe des Korridors öffne. Wie einst die Burgherren zu ihren Schlössern, so haben heute die lebelustigen Weiber verborgene Gänge und Türen.

Sie war offenherzig und von reizender Innigkeit und vertraute mir unter anderem, daß Tallon früher umsonst lebhaft nach ihrer Gunst gestrebt, die Domestiken bestochen, verführt, und das Ärgste getrieben habe. Ja, sie fühle sich nicht ganz sicher, ob der abscheuliche Jakobiner nicht irgend[32] was näheres ahne von einem geheimen Zugange in diese Gemächer. Da seine Bewerbungen kein Gehör erreicht, so habe sich der gemeine Mensch zu Margariten gewendet, »ein Greuel,« sagte Frau van Waelen, »der mein Innerstes empört; ich hätte den Menschen längst aus dem Hause gejagt, nähme er nicht mein Mann mit seiner jammervollen Politik ein so fanatisches Interesse an ihm, aber ich werde eher das Äußerste tun, ehe ein Mann meine Tochter berührt, dessen Auge erst wohlgefällig auf mir geweilt und gewünscht hat. Wenn ich Waelen betrüge, einen öden, kläglichen Mann, so vergibt mir's mein Beichtvater, aber weder dieser noch mein Herz vergeben mir jene frevelhafte Verbindung.«

Ich hielt es nicht für gut, sie durch Mitteilung des Verdachtes über die Waterloo-Partie zu beunruhigen und war mir genügender Kraft bewußt, solch ein abenteuerlich Unternehmen zu zersprengen.

Ich kam des Abends wieder, fand die Familie, Leopold und Tallon im Saale und suchte emsig ein halbes tête-à-tête mit Frau van Waelen, damit ich die Schlüssel erhielte. Sie schien mir unruhig, und zu meinem Erstaunen wagte Tallon die wunderlichsten Sticheleien, als ob er die gestrige Spitzendame gesprochen und meinen Giacomo ausspioniert habe. Man muß so borniert für nichts Interesse haben als für politisches Gewäsch, wie dieser Waelen, um so unberührt zu bleiben, wie er bleibt.

Endlich konnte mir Frau van Waelen zuflüstern, wir könnten uns nicht sehen, die Schlüssel seien spurlos fort, sie argwöhne alles gegen diesen Tallon, der aus dem Wege geräumt werden müsse.

Wie ein ruhiger feuerspeiender Berg, in dessen Innerem ungesehen fulminante Ausbrüche bereit liegen, erschien mir die Frau.

Am andern Morgen bewaffnete ich Giacomo tüchtig, der sich so ungeschickt anstellte, daß eine halbe Stunde Zeit[33] darüber vertrödelt wurde, nahm einen handfesten Kutscher und fuhr mit Leopold nach der Hügellehne von Waterloo hinaus. Waelens und Tallon waren schon da, wir sahen sie aus der Ferne auf dem Hügel stehen und – zwei Kerle sprangen aus dem nahen Gehölze, hoben blitzschnell Margarita in den Wagen, warfen den Kutscher vom Bocke und sprangen auf den Bock, Tallon machte einige Grimassen mit Armen und Beinen, sprang ebenfalls nach, die Peitsche flog, der Wagen verschwand, und als wir im Karriere oben ankamen, flog er schon weit in der Ebene dahin.

Frau van Waelen schrie mir wie eine Furie entgegen: »Retten Sie mein Kind!« Herr van Waelen schnupfte und schimpfte auf die Straßenpolizei.

Ich befahl meinem Kutscher, im Karriere nachzujagen, er weigerte sich, ich warf ihn Waelens Kutscher nach und jagte selbst die Pferde; durch ein unnützes, unpassendes Zugreifen Giacomos in die Zügel wurden die Pferde plötzlich falsch gewendet, der Wagen stürzte, die Tiere gingen durch, was weiß ich! Auf diese Weise kam ich um die direkte Verfolgung, mußte mühsam ein Städtchen und eine Post suchen, und so hatte der Schurke weiten Vorsprung; ich fuhr lange in der Irre herum, bis mich neue Anzeichen nach Ostende führten. Nach der Küste zu schien der Räuber seine Beute gebracht zu haben, und es kam mir nun schon die lebhafte Besorgnis, er möchte bereits eingeschifft sein.

Du glaubst übrigens nicht, welch eine reizende Figur bei dem allem die geraubte Margarita spielte in meiner Phantasie – das schlanke, noch so mädchenhafte Geschöpf, welch eine ursprüngliche Tragik mußte sich ausdrücken auf diesem zarten, ausdrucksvollen Gesichte, wenn sie gegen die Brutalität eines verhaßten Entführers in Kampf und Sträuben geriet!

Das erste, was mir in Ostende aufstieß, war – ich traute meinen Augen nicht und schlug mir die Täuschung[34] aus dem Sinne – es war Giacomo! Eine solche Erscheinung huschte im Gedränge des Hafendammes an mir vorüber wie ein Schatten, ich griff danach, aber sie war auch im lichtlosen Gewühle der Menge wie ein Schatten verwischt.

In den Gasthöfen, bei allen abgehenden Schiffen erkundigte ich mich umsonst; kindisch, daß ich mich nie in meinem Leben an die Polizei wenden mag – Du hast gewiß recht, daß sie ein heilsam, notwendig Institut ist, so wie die Welt eben steht und liegt; mir widerstrebt aber jedes Institut, das bloß da ist, den natürlichen, ursprünglichen Äußerungen der Menschheit aufzupassen, die immerwährende, lebendige Erinnerung, daß wir nur nach dem Schema leben sollen – lassen wir's, ich bin ein wilder Mensch und Du ein zivilisierter, wir vereinigen uns nicht darüber; kurz, ich fragte nicht und entschloß mich, nach London zu gehen. Das Meer ist weit, solch eine Einschiffung kann einem leicht entgehen, der Abenteurer hielt sich auch gewiß nicht so lange in dem Staate auf, wo er den Gesetzen so sicher entgegengetreten war.

Es war ein nebeliger Morgen, als ich nach dem Schiffe ging, man sah nicht drei Schritte vor sich, da eilt ein Mann in derselben Richtung nach dem Hafen an mir vorüber; der Matrose, welcher meine Habseligkeiten trägt, ruft, ich weiß nicht warum, etwas aus, das ungefähr wie »Vorgesehen!« oder »Attention!« klingen mochte, jener Mann wendet sich um, wir sehen uns, ich schreie auf und stürze nach ihm hin, er wendet sich blitzschnell und geräuschlos wie eine Schlange seitwärts und verschwindet im Nebel, ich hinterdrein, bald hier, bald da werde ich seiner einen Moment ansichtig, aber nimmer lebhaft, da die Finsternis ihn stets mit wenig Schritten seitwärts meinen Blicken entzieht. Plötzlich, als ich ihn wohl zum fünften Male wieder vor Augen bekomme, steht er, ich jage gegen ihn los, er streckt mir ein Pistol[35] entgegen und sagt atemlos, was weiß ich! denn ich beachtete es nicht und griff danach, der Schuß blitzt und knallt vor meinem Gesicht, ich fühle einen Ruck im Arme, seine Kehle ruht aber bereits in meiner andern Hand. Wir waren an eine kleine, abgelegene Strandhöhe geraten, seitab vom Hafen, das Meer rauschte einen Schritt hinter meinem Feinde – »Sag im Augenblicke, wo ist Margarita, oder ich schleudere dich ins Meer!« damit hielt ich ihn bereits halb übergebeugt nach hinten. Er röchelte und winkte, wie bereitwillig mit dem Kopfe, meine Faust ließ kein Sprechen zu, ich lüftete sie ein wenig und er bekannte eiligst das Verlangte. In diesem Augenblicke fühlte ich mich von hinten ergriffen, mein rasches Gegenwirken warf Tallon ins Meer; der neue Gegner war Giacomo, ein Schuft, der mich also immer betrogen hatte. Der, wie ich später bemerkte, getroffene linke Arm versagte mir seinen Dienst, und ich hatte auf Tod und Leben zu ringen, damit ich mich des geschmeidigen Burschen erwehrte, ihn auf die Meerseite drängen und hinabdrücken konnte. Er klammerte sich aber so fest, daß ich das Gleichgewicht verlor und mit hinabstürzte.

Die kalte Woge verschlang und bedeckte uns; hier unter der Wasserdecke mußte ich mich noch zu ein paar verzweifelten Stößen aufraffen, um mich der stets noch festhaltenden Klaue des ergrimmten Italieners zu erwehren. Der Strom riß uns nun auseinander, ich kam an die Luft und wußte nicht, wo Küsten-, wo Meerseite war, da der Nebel nichts sehen ließ; aber die landwärtskommende Welle warf mich, den mit einem Arm Rudernden, glücklich an den Strand. Wie es den Schuften ergangen ist, weiß ich nicht, ich blickte nicht um, sondern stürzte fort, um Margaritens Versteck zu suchen; der Meeresfrost schüttelte mich, warm quoll das Blut aus der Armwunde.

Ein anständiger Mensch mußte sich erst umkleiden, den Chirurgus rufen und nach dem Mantelsacke sehen, welchen[36] der Matrose geschleppt hatte; unterdes wäre eine der Ratten wieder ans Land gekrochen und hätte Margariten beiseite gebracht.

Sie empfing mich mit einer Freude über mein Erscheinen, als ob des Menschen guter Engel plötzlich in die Hölle träte und Himmelsluft und Himmelsglück statt der Verdammnis böte, und mit einem Weh über die Wunde und das Fieber, welches mich befiel, als ob die Sonne nicht mehr aufgehen wollte.

Vergib, ich referiere nicht ganz passend, weil ich momentan in der tollsten Lustigkeit zu Paris sitze und eben aus St. Pélagie komme, wo Leopold der Holde wegen übermäßiger Schulden weilt und eben mit den geistreichsten Schuldenmachern Frankreichs eine Konferenz hielt, wie die Schulden, dieses Negative der Welt, in das Positive, aus der Gefangenschaft in die Herrschaft umzuwandeln seien. Es kamen ausgelassen geistreiche Dinge vor – man ist sehr munter in St. Pélagie – und ich bin von tollen Einfällen völlig turbiert. So will ich einen Preis aussetzen, wie man der Sonne einen Flanellmantel umschlägt, damit sie nicht so dreist und ohne weiteres auf die jetzt so rücksichtsvolle Erde falle.

Aber ich fasse mich. Wie wunderbar gestaltete sich das alles in Ostende! Ein flüchtig wildes Fieber warf mich, Margarita pflegte mein und stand in lodernder Liebe, ich weiß nicht, weil ich ihr Retter war oder um was sonst. Und wie duftend und üppig entfaltete sich diese Knospe! Aber was ich nicht suche, verlange, erkämpfe, was sich mir als unbegehrtes Geschenk in den Schoß wirft, das ist nichts für mich.

Ich sagte, wir wollten nach Brüssel – da schrie sie auf und wehrte ab, und umklammerte meine Schultern und flüsterte: »Die Mutter würde mir mein Glück nicht gönnen.«

Aber was sollte ich auf die Länge in Ostende? Ich bestellte uns Plätze auf einem Fahrzeuge und sagte ihr, wir[37] wollten in die weite Welt – bald trug uns das Meer, das Meer, das ich allein seit meiner Jugend unverändert liebe. Es war ein schlankes, freies Schiff, das mit Wind und Wellen kräftig rang – ich hasse die Dampfschiffe, diese künstliche Vermittlung des Menschen mit dem Elemente, diese repräsentative Schiffahrt, wo das freie, kräftige, gefährliche Ineinander des Menschen und des Meeres gestört ist.

Ich hatte den Verdacht, in einer Spelunke des Schiffes Giacomo gesehen zu haben, nur er hatte solche dolchartige neapolitanische Augen – eines Nachts stieg ich auf das Verdeck, der Mond schien hell, das Meer ging hoch und schäumend, von einem frechen Nachtwinde getrieben, der aus Osten kam und uns nicht an die Küste ließ. Am Bord saß eine dunkle Gestalt, ich sah, daß sie zusammenfuhr, da ich mich nahte, – es war Giacomo.

Ich trat ihm ruhig nahe, fragte ihn nach Tallon und ob er auch entkommen sei aus jenem Bade. Giacomo wußte es nicht; Hin- und Herfragen belehrte mich, daß jener Tallon ein Bruder Giacomos, ein Neapolitaner und wirklich ein Revolutionsabenteurer sei. Übrigens log Giacomo wie immer; von jener Schußwunde ist mein Arm gelähmt, und diese mir ungewohnte Schwäche mag wohl etwas dazu beitragen, daß ich mich feindseliger gegen die Welt fühle, als sonst. Ich faßte den Schurken, eh' er sich dessen versah, bei Schulter und Hüfte und schleuderte ihn ins Meer. Wind und Wellen rauschten hoch, sonst war nichts zu vernehmen. –

Wir kamen abends in Brüssel an, ohne daß Margarita gewußt hätte, wo sie sei; ich ließ beim Hause ihres Vaters vorfahren, und eh' sie zu einer rechten Äußerung kommen konnte, standen wir im Salon vor Herr und Frau van Waelen.

»Du verrätst mich, Hippolyt,« rief sie und sank in Ohnmacht.[38]

Aber so etwas, wie das Antlitz der Frau van Waelen und deren Gebärde habe ich niemals gesehen; ich glaube, es ist das erste gewesen, wovor ich in meinem Leben wirklich erschrocken bin. Die unglücklichen Worte Margaritas mochten ihr eine Geschichte erzählt haben. – »Mann,« schrie sie mir entgegen und streckte die Arme nach mir aus, wie eine Furie, die mich zerfleischen wollte, »Mann, du bringst den Greuel über unsere Familie!« – Herr van Waelen eilte, die Schnupftabakdose in der Hand, zwischen uns, sie schleuderte ihn zur Seite und ich entwich.

Ich bin zum ersten Male entflohen, aber vor einem tollen Weibe. Zufällig, weil die Wogen just hierher trieben, bin ich wieder nach Paris gekommen; hier fand ich Leopold, der sich aus der umgestürzten Kutsche hierher bewegt und hier lustig gelebt hatte. Ach, ist das eine Welt, die es einem so schwer macht, lustig zu leben!

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 3, Leipzig 1908, S. 14-39.
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