18. Hippolyt an Konstantin.

[97] Den 7. August.


Mein Pferd – mein Pferd – a horse, a horse, a kingdom for a horse – ja so hab' ich geschrien, und bin hinuntergestürzt, um fortzujagen nach Paris – lache mich aus, schmähe mich, schlage mich, daß ich nur bis ans Portal des Schlosses kam: Julia stieg aus dem Reisewagen und sah mich neugierig an mit ihren großen Augen, und das große Auge der Weltgeschichte schlug seine Wimpern für mich zu, und ich blieb hier und glühe in Liebesfieber, wie es[97] meine Seele nie gekannt. Vergib mir, ich reiche dem Valer die Feder, er mag weiter schreiben. Ich kann es nicht.


Valerius an Konstantin.

Ich habe sie gelesen jene Worte, Freund, »Sie haben den König verjagt, weil er die Charte gebrochen,« ich habe sie gehört, und mein zitternder Mund hat sie mir hundertmal zum Hören vorgesagt, daß die Eisrinde an meinem Herzen springen und meine liebende Seele, die alles Hoffen verlernt, daran glauben möchte, es gebe noch Recht und Gerechtigkeit in der Welt, und der Freund der Menschen brauche nicht mit gebrochenem Herzen zu sterben. O Berg, der auf meiner Seele lastete, wie hoch flogst du auf, o du schlimmes Jahrhundert, wie hattest du dich verpuppt, daß selbst deine liebendsten Söhne dein Angesicht nicht mehr erkannten. Hätte ich doch einen Franzosen bei der Hand, daß ich ihn küssen, drücken und wieder küssen könnte. Also wieder dieses leichtblütige Volk mußte es sein, das zum zweiten Male die Riegel der Entwicklungsgeschichte hinwegstoßen mußte von der finsteren Zeit, auf daß Licht hereinbreche, strahlendes Licht. O mein Vaterland mit deinen Philistern, nur diesmal nicht wieder den abscheulichen Undank, jene Pförtner der Weltgeschichte, jene rosenroten Franken nicht anerkennen zu wollen. Ach Konstantin, Konstantin, ich habe mich gefreut wie ein Knabe, den man eingesperrt hatte, und nun hinausließ in den Sonnenschein; wie einen unnützen Wanderstab warf ich alle Rücksicht, alle Besonnenheit von mir, fiel dem Grafen um den Hals – wir saßen bei Tisch, als Dein Brief ankam – küßte seine Tochter zwei-, dreimal, küßte Kamilla fünf-, sechsmal, riß das Fenster auf und schrie in den Himmel: »Jetzt, blauer Bogen, behalte Deine Sonne, auf der Erde ist die Freiheit eingekehrt,« und den kleinen Leopold hob ich hoch in die Höhe und drückte ihn dann an meine Brust, und[98] zerquetschte ihm fast den kleinen Schädel und rief: »Nun Junge, sing' mir Freiheitslieder« – ach ich war ein Kind, es war die glücklichste Stunde meines Lebens. Und Dir, Konstantin, vergeb ich alle dummen Streiche und schlimmen Dinge für Deine Schmarre auf der Wange, und glücklich bist Du ja nun auch geworden, es mag kommen was da wolle, Du hast ja bluten, das Leben wagen dürfen für unsern Glauben.

Laß mich schweigen, laß mich schweigen, Freund, ich werde kindisch. Ich werde Dir von unserem kleinen Ameisentreiben hier erzählen, um mich zu sammeln. Wenn's nur gehen wird. Ich bin ganz aus dem Gleise und möchte hinaus in die Welt, um zu helfen am neuen Bau der großen Weltkirche. Die Verhältnisse begannen eben in ihrer Unordnung sich ein wenig zu ordnen, als – ach, ich kann jetzt nicht, die Völker tanzen Arm in Arm auf dem Papier herum, statt der Liebespaare, die es sollen. Morgen, morgen – morgen ist ja auch Freiheit, ich muß mich erst an das Glück, das wie ein Gewitter gekommen ist, gewöhnen. Morgen, übermorgen von unseren kleinen Liebesgeschichten; ich will Parodien von jener begonnenen großen daraus machen, dann wird's am ersten gehen. O Gott, ist denn diese rosenfarbene Welt dieselbe, die noch gestern aschgrau war, soweit ich die Blicke sandte, und Du kleiner Vogel, der sich auf mein Fenster setzt, kommst Du aus dem schönen Frankreich, flogst Du vielleicht über Paris in den letzten Julitagen, hast Du jenes bunte Stück der neuen Welt schon gesehen? Vöglein, willst Du Zucker, bleib' ruhig, ich taste Deine Freiheit nicht an, solch ein Frevler bin ich nicht – nicht wahr, die Freiheit ist das Höchste, da fliegt er fort und lacht mich aus. Bravo, mein Vöglein. Wärst Du doch ein Kutscher, Vogel! – Konstantin, Du siehst, ich werde kindisch, ich muß aufhören. In den Fluß will ich mich werfen, meine Glut zu kühlen, mit den Wellen zu ringen. Mein Körper zuckt nach Tätigkeit, ich muß ihn ermüden, sonst bringt er mich um. –


[99] Den 8. August.


Nichts davon heute. Wie meine heiligste Liebe will ich es einschließen in mein Herz. Von Grünschloß aber will ich erzählen, es wird wie ein grünes Idyll in Dein rotes Epos treten.

Du erinnerst Dich, daß mir der Graf Topf rätselhaft war. Ich glaube jetzt etwas mehr auf dem Reinen mit ihm zu sein. Vor einiger Zeit kam ein Graf Fips hier an, ein Ohrfeigengesicht, offenbar um des Grafen Tochter Alberta zu freien. Ich schrieb nach der Stadt einem jungen Manne aus den sogenannten vornehmen Ständen, der sich immer sehr freundschaftlich gegen mich bewiesen hatte, und bat um Auskunft über diesen Herrn Fips, und was man von unserem Grafen sage. Der junge Adelige schrieb sehr unbefangen und wie es schien, sehr genau unterrichtet. Fips suche eine reiche Frau; außer diesem Wünschen sei nichts an ihm: das war leicht glaublich. Das Urteil über den Grafen klingt bizarr, ist aber so mit richtigen Details unterstützt, und paßt im höheren Stile wirklich zu dieser originellen Figur.

»Graf Topf« – sagt der Briefsteller, – »ist von Jugend auf ein Mann der Mode gewesen, aber immer der neuesten, so daß er seinen Umgebungen immer voraus war, und darum stets wunderlich erschien. Als die Mode aufkam, nach Italien zu reisen, ging er auf mehrere Jahre hin und errichtete in Florenz ein glänzendes Haus für alle Künstler, die bei ihm wohnten und lebten; er war bald eine Behörde der dortigen Kunst. – Als die Franzosen vertrieben waren, und alles gegen sie schimpfte, war er der erste Napoleonspoet, und verteidigte ihn gegen alle Welt. Zur Zeit der europäischen Kongresse begann die Aristokratie ein neues übermütiges Leben, ihr Muster war Graf Topf, der schon ein halbes Jahr vorher in der Residenz den Grandseigneur spielte, von dem man damals glaubte, er ruiniere sich aus eitel Hochmut. Damals lebten ab und zu in seinem Hause die bedeutendsten Schriftsteller der Reaktion. Herr von Haller[100] war viel willkommen, Kotzebue sehr wohl aufgenommen, Herr von Stourdza hatte sein Absteigequartier beim Grafen Topf, und Frau von Krüdener trank alle Tage Tee bei ihm und segnete die Teegesellschaft. Nur die Turnzeit, das altdeutsch gebundene Gesangbuch der Reaktion, hat er beinahe verpaßt. Das allzu Demokratische daran mochte ihn eine Zeitlang abgehalten haben, sich damit einzulassen, und wahrscheinlich hoffte er, die Richtung werde bald vorübergehen. Dennoch erinnern sich noch sehr viele lebhaft, daß er einer durchziehenden Turnerbande ein großes altdeutsches Mahl gerüstet, und weil er nicht schnell genug einen deutschen Rock bei der Hand gehabt, mit bloßem Halse und halb entblößter Brust dem alten Jahn gegenüber im Schlafrock präsidiert habe. Man erinnert sich noch eines lebhaften Streites, den er mit jenem geführt, ob Kastanien eine echte deutsche Frucht seien. Jahn verneinte es zürnend, und warf eine große hölzerne Schüssel, – denn Topf tat nichts halb, und alles Geschirr war antik – voll Kastanien an die Erde, obwohl seine Turner sich ein wenig opponierten, weil ihnen die schmackhaften Maronen behagten. ›Eicheln, Topf, wuchsen im Teutoburger Walde, Eicheln, nicht aber diese welschen überalpigen Gewächse, mit denen wahrscheinlich Hannibal seine Truppen zu Capua verweichelte. Tu mir nicht ein Gleiches mit meinen jungen Söhnen Teuts, Topf, ich beschwöre Dich bei Hertas weißen Rossen.‹ Der Graf argumentierte eine Zeitlang mit dem Nibelungenliede, dann gab er gerührt nach, und umarmte Jahn mit den Worten: ›So retten wir Deutschland vor ausländischem Tand. – Jahn, keine Kastanien!‹

Als der spanische Corteskrieg ausbrach, hatte er sich wahrscheinlich mit dem englischen Unterhause in Rapport gesetzt, kurz mehrere Tage vorher, eh' Canning zu St. Stephan sich erhob und seinen liberalen Donner über Europa schleuderte, hielt der Graf Topf bei einem Gastmahl eine ähnliche Rede, und ward so lange für verrückt gehalten, bis die Zeitungen[101] aus England ankamen. Lang vor der Schlacht bei Navarin war er der renommierteste Philhellene im ganzen Lande und teilte oft englische Griechenlieder mit, welche ihm sein Spezialissimus Lord Byron geschickt haben sollte. Noch ehe der Kaiser Nikolaus daran dachte, den Verdienstadel gegen den Erbadel zu erheben, verteidigte er mit steigender Beredsamkeit diese Idee und focht gegen die Türken und gegen den Halbmond, eh' die russischen Truppen dazu kommandiert wurden. Seine unverkennbare Absicht ist immer dahin gegangen, den weitsehenden Politiker, den Mann der modernsten Bildung zu spielen; man weiß nicht, ob er je ein wichtiges Staatsamt gesucht, oder nur den Titel eines Gonfaloniere der Zeit erstrebt; aber trotz seiner extremen Handelsweise, die ihn oft vorübergehend lächerlich gemacht hat, steht er in dem Rufe großer Klugheit, und alle Welt ist der Meinung, daß er sich jetzt mit jungen Geistern Ihrer Art umgibt, damit er der Zeit vorausgehoben werde. Nach dem, was jetzt in Frankreich vorgefallen, scheint es ihm wirklich wieder gelungen zu sein, denn ich kenne ja Ihre liberale Richtung, die wahrscheinlich auch Ihre Freunde teilen. Man spricht neben der Julirevolution nur vom Grafen Topf und seinem historischen Treffer, und Sie werden wahrscheinlich bald mehrere der hiesigen Notabilitäten auf Grünschloß sehen, welche das Terrain rekognoszieren wollen. Das wird des Grafen größte Freude sein. Sein Vermögen ist zwar durch seine kühne Art zu leben ein wenig erschüttert, aber noch keineswegs zerrüttet, und er wird bei der Vermählung seiner Tochter keiner andern Rücksicht folgen, als sie dem historisch modernsten Manne zu geben. Stand, Vermögen wird gar nicht in Betracht kommen, schon weil es jetzt Mode wird, die sogenannten geistigen Vorzüge im Gegensatz zu den herkömmlichen allein zu beachten. Von dieser Seite also, werter Freund, steht Ihnen gar nichts im Wege, wenn Sie Absichten auf die schöne Alberta haben – davon ist man[102] jetzt nach den Julitagen allgemein überzeugt, daß Graf Fips nicht reüssiert.« –

Soviel aus jenem Briefe. Denke Dir nun den Grafen als einen Fünfziger, als einen Mann von den feinsten Sitten, dem gebildetsten, artigsten Betragen, der in allen Dingen Kenntnisse, und für alles große Empfänglichkeit besitzt. Es ist wahr, sein Wissen ist meist oberflächlich; er hat die Klassiker gelesen, aber nicht empfunden, er kokettiert mit den Griechen und ein abgeschmackter hohler Römer läuft ihm hie und da dazwischen; er hat Geschichte studiert, weil er sie aber oft an so verschiedenen Fäden aufgereiht hat, so sind seine Ansichten verworren geworden. Er hat von allen Religionsphilosophemen genippt, ist abwechselnd Atheist, Deist, Protestant. Quäker und Pantheist gewesen und wie alle extremen Geister, die in der eigenen Positivität keinen Haltpunkt finden, am Ende romanischer Katholik geworden, der aber noch immer mit Aufmerksamkeit Religionsgespräche anhört. Sein Äußeres ist imponierend. Von hohem starkem Wuchse hat sein Gang jene adelige Gemessenheit und Sicherheit, die wir noch in unserer frühen Jugend so oft an den damaligen Grafen und Baronen gesehen. Die Gebärden, Gestikulationen, Bewegungen sind weit, breit, aber sicher gerundet. Du siehst, wieviel auf den ersten Tanzmeister ankommt, denn ich bin überzeugt, daß sich der Graf viel Mühe gegeben hat, die modernen, kürzeren Bewegungen zu erlernen. Natürlich geht er ganz modisch gekleidet. Sein lockiges Haar ist noch voll und dicht wie das eines Jünglings, aber schneeweiß. Das gibt dem ganzen Gesichte, welches sich ebenfalls durch einen sehr weißen Teint auszeichnet, etwas Geisterartiges, und die unsteten schwarzen Augen irren wie heimatlos umher. Der Schnitt des Gesichts ist edel; eine Römernase erhöht diesen Eindruck. Nur der etwas breite eingekniffene Mund und der untere Teil des Kopfes deutet darauf hin, daß der Mann schon viel gelebt hat. Die Faltenlinien von[103] den Nasenflügeln aus drängen die untere Wange tief hinab nach dem Kinn. Dieser untere Kopf hängt nur, und hat die Spannkraft verloren; er ist das Bild seiner Charakterlosigkeit; Er redet fast alle Sprachen und dem Anschein nach alle gut, wenigstens versichert es Hippolyt vom Spanischen, William vom Englischen, Leopold vom Italienischen, und ich höre es am Französischen, das er keineswegs so altmodisch wie die meisten unserer Aristokraten redet, die wie der junge Anacharsis plappern. Eines ist überaus liebenswürdig an ihm: sein Sinn für jede Art von Poesie. Der Mann verdaut mehr Verse in einem Niedersitzen, als ich einen ganzen Monat lang imstande bin zu verbrauchen, und hört Räsonnements über Poeterei an, bis der Räsoneur heiser ist. Ich glaube, er hat viel geliebt; er kostet das kleinste Lied durch und durch und hat wirklich ein so ausgebildetes Gefühl dafür, daß ihm nicht die kleinste Andeutung oder Beziehung entgeht. Dies ist denn auch das schöne Band, welches ihm seine Tochter fest am Herzen erhält. Ich glaube wirklich nicht, daß er ihrer Neigung nur im entferntesten in den Weg treten würde, sie müßte denn auf einen ganz veralteten jungen Mann fallen. Aber ich habe nichts als Besorgnis mit der schönen Alberta. Seit einiger Zeit neigte sie sich offenbar mit großer Vorliebe zum altertümlichen William, diesem altenglischen Stockjobber, wie Ihr ihn zu nennen beliebt. Ich glaube, sein gläubiges Christentum fesselte die weiche furchtsame Seele. Da kam Hippolyt, das reizende böse Geschick der Weiber, und nun ist die Verwirrung vollständig. Es ist eine sehr schlimme Sache mit Hippolyt. Wie oft hab' ich es ihm vorgestellt, daß es gar kein Rechtsverhältnis sei, in das er sich Frauenzimmern gegenüber begebe. Er geht jede Verbindung ein, ohne von seiner Seite auch nur irgend etwas anderes zu gewähren, als daß er genießt, solange es seine Laune so will. Auf meinen ernsten Tadel und meine ebenso ernste Versicherung, daß ich ihn einsperren[104] lassen würde, hätte ich Gewalt über ihn, erwiderte er lachend, daß er nie von einem Frauenzimmer Liebe verlangt, noch irgendeiner mehr als augenblickliche Neigung versprochen habe. Es sei ein rechtliches Kontraktsverhältnis; daß man von der anderen Seite oft mehr präsumiere, wäre nicht seine Schuld. Was soll ich mit ihm anfangen? Soll ich ihn der Polizei anzeigen? Die betrachtet bloß die moralisch Buckligen, Lahmen usw.; sie ist nur für äußere Übel da, die jeder andere Mensch auch sieht; soll ich ihm unaufhörlich Steckbriefe schreiben und seine Umgebungen vor ihm warnen, wie ein Gendarm mit blanker Klinge neben ihm herreiten? Wenn ich ihn nur überzeugen könnte, daß er unter unseren bürgerlichen Konstellationen unrecht habe, daß man dem Verbande einer Gesellschaft vielerlei, so auch dieses zum Opfer bringen müßte. Solange das Verhältnis zwischen Mann und Weih noch nicht anders geordnet ist als wie jetzt in das traurige Einmaleins der Ehe, solange erfordert die Verpflichtung gegen die neben mir Stehenden meine Aufmerksamkeit, Schonung, Vorsicht, ja Entsagung; Hippolyt kennt aber nur Verpflichtungen gegen sich, darum ist er eigentlich für keinen zivilisierten Staat zu brauchen. Die persönliche Freiheit ist bei meiner Theorie durchaus nicht gefährdet, aber die Freiheit sieht, nur die Schrankenlosigkeit ist blind. Das Weib, das gleich mir die Ehe nur für eine Krücke der tausend Schwachen, nur für ein leider noch immer notwendiges Hilfsmittel der Gesellschaft ansieht, das Weib, das sich stark genug fühlt, die äußeren Nachteile der Gesellschaft zu ertragen, sobald diese den Betrug gegen sich entdeckt – dies Weib ergibt sich mir mit Freiheit, und sie freut sich oder leidet wie ein selbständig freies Wesen, je nachdem unsere Verbindung Freud oder Leid bringt; dies Weib such' ich zu gewinnen, sobald sie mein Interesse für sich erregt. Aber den Galeerensklaven von Freiheit und Genuß zu reden, ist grausam; ein Weib, das in den gewöhnlichen Banden der Gesellschaft[105] Notwendigkeit sieht, Befriedigung, Genüge findet, in Opposition gegen sie also zugrunde gehen müßte, ein solches Weib an sich reißen und doch ihre Ansichten vom bürgerlichen Leben nicht annehmen wollen – das ist Laster. Und in solchem Falle ist Hippolyt. Die Welt um ihn lebt im rechtlichen Friedenszustande, er aber zieht umher wie ein außerrechtlich erobernder Krieger, das ist eine unverschämte Bevorzugung des Individuums gleich dem Absolutismus, die ich verabscheue, und doch kann ich mich nicht zu dem philisterhaften Handwerk entschließen, Alberta, seine sichere Beute, vor dem Unglück, das ihrer harrt, zu warnen. Weiß ich denn auch, ob das Mädchen nicht glücklich ist, wenn sie nur eine heiße Stunde unter den Strahlen ihrer Liebessonne ruht? Wie ist sie glücklich, wenn sie ihn nur sieht, träumerisch geht sie mit uns umher, lächelt schmerzlich, spricht wenig und ist innig, weich wie ein Blumenblatt. Mit allen Waffengattungen ist die Liebe in ihr sanftes Herz gezogen und hat alles zum Kriegsstande ausgerüstet; wenn der Feind der Liebeshindernisse in unseren Gesprächen zum Vorschein kommt, da hebt sie das schöne Köpfchen plötzlich mutig, und ihr Türkenbund, den sie um den Kopf trägt, wirft sich in den Nacken, und sie fordert kühn alle Welt heraus. Alle Scheu ist von ihr gewichen in solchen Momenten. In einem ähnlichen Gespräche redete ich ihr in diesen Tagen – wir promenierten in einem entfernten Teile des Gartens – aus vollem Herzen und mit inniger Überzeugung von der Freiheit jeder Art. Sie horchte mir mit gesenktem Haupte zu, plötzlich blieb sie stehen, sah mich mit den rührenden Blicken eines Engels, dem das Gefühl die Brust sprengen will, lange und innig an, faßte auf einmal mein Gesicht in ihre beiden Hände, legte das Köpfchen auf meine Brust und sprach: »Sie sind ein guter Mann« – dann flog sie schüchtern wie ein Reh von dannen. Wenn Hippolyt mit ihr sprach, so schauerte sie in Liebeslust; ich hab' immer gefürchtet, sie werde ihm[106] einmal öffentlich um den Hals fallen. Graf Fips läßt immer neue Krawatten und Fracks aus der Stadt kommen, ich glaube aber, er fängt allmählich an zu verzweifeln, wenigstens spricht er schon sehr lange von der Abreise. Er ist in einer sehr üblen Stellung, und ich bewundere aufrichtig die Schafsgeduld dieses Menschen, dies Treiben mehrere Wochen mit anzusehen. Uns bürgerliches Pack verachtet er natürlich im Grunde seines Herzens, und in Verzweiflung richtet er hie und da das Gespräch an den legitimen William, das ist der einzige Knopf seines Rocks, auf den er sich verlassen kann. Der Graf sucht das Gespräch immer allgemein zu machen, und das liebt Graf Fips nicht; die Unterhaltungen, welche er mit den Damen anknüpft, schnappen auch stets in großer Geschwindigkeit ab; bei Hippolyt muß er befürchten, gar keine Antwort zu bekommen. Leopold, den er manchmal gern zum besten haben möchte, verwickelt ihn in poetische Gespräche, aus denen er keinen Ausweg findet; mich hat er nie recht leiden mögen, nach einem neulichen Gespräch über Adel, seine Manieren usw., was ich Dir später mitteilen werde, hat er über mich unzweifelhaft entschieden; er läuft wie ein verlorener Gedanke aus vergangener Zeit unter lauter fremden Büchern herum, rückt seine Brille, zupft den braunen Frack in die Taille, ist ein Lasse – das sind seine Vergnügen. Seit wir ein demokratisches Treiben bei Tisch vorgeschlagen haben, ist er ganz sprachlos. Man aß früher an langer Tafel, und in den Sitzen herrschte eine Art Rangordnung. Wir stellten dem Grafen vor, daß alles Schöne und Große rund sei, alle Ecken würden heutigentages abgeschliffen – den Tag darauf speisten wir an einem runden Tische und setzten uns, wie's eben kommt. Der Graf hat sich nur ausbedungen, daß ich immer neben ihm sitze, und da wir immer zusammen schwatzen, so sitzt Kamilla fast immer zu meiner andern Seite, sie müßte denn böse auf mich sein. Sie ist ein sehr liebenswürdiges Wesen, hat viel[107] Verstand, faßt sehr schnell und ist munter über und über. Du weißt, wie ich das liebe. Sie stellt sich zwar, als schnelle sie die Gefühle mit dem Finger fort, ich glaube aber aus einzelnen Gewitterschlägen ihres Wesens schließen zu können, daß sie der tiefsten Leidenschaft fähig ist, da sie zu den verschlossenen Gemütern gehört – verstehe mich recht: zu denen, welche alle Türen des Wesens offen halten, die innerste Herzenstür aber nur allein unter Tränen der schönsten Freude oder des tiefsten Leides öffnen, sonst aber so verstellen, daß man gar keine Tür ahnen, und alles an ihnen zu wissen glauben möchte. Da sie ein solch verstocktes Gemüt ist, so wird sie einst unendlich reicher als tausend andere beglücken können, aber auch unendlich glücklicher oder unglücklicher sein. Alle innersten Herzenskräfte harren nämlich noch ungeschwächt ihrer Befreiung. Sie ist hoch und sehr schön gewachsen und hat ein äußerst liebreiches Gesicht, lächelnde schalkhafte Augen, eine zierliche Stumpfnase, einen kleinen üppigen Mund, der viel schwatzt und lacht und blendend weiße Zähne zeigt. Ihr volles lichtbraunes Haar flattert in zurückgestrichenen Locken in einen vollen, feisten, schneeweißen Nacken, der wie zum Köpfen gemacht ist. Ich nenne sie darum oft Ludwigs Frau, und erkläre ihren öfteren Eigensinn und ihre Hartnäckigkeit daher. Das tu ich oft, weil sie mich dabei immer auf den Mund schlägt. Wie ein bunter Vogel geht sie gekleidet; ich habe sie mehrmals darüber verhöhnt und bin deshalb von ihr ausgelacht worden, weil ich so wenig Farbenschönheit und Farbenverhältnisse begriffe. Und sie hat den Sieg davongetragen, hat sich mehrmals einfarbig gekleidet, und ich habe zugestehen müssen, daß es nicht zu ihrem bunten Wesen passe.

Noch an jenem Abende, wo Alberta so erregt war, daß sie mich fast mit ihrem Geliebten verwechselte, fand sie sich mit Hippolyt zurecht. Ich sah zufällig der Szene zu, es war wirklich ein artiges Bild. Neben dem großen Saale,[108] wo wir oft sind, ist nur durch eine Glastür getrennt und mehrere Stufen tiefer das Gewächshaus, wo ein Teil der Orangerie steht, der nicht Raum genug vor dem Schlosse haben oder vielleicht die deutsche Luft gar nicht vertragen mag. Ich suchte Kamilla, die sich nirgends sehen ließ – der Saal war leer; ich gehe bis an die Glastür und sehe in der Tiefe der südlichen Bäume Alberta sinnend und träumend die Hände in den Schoß gelegt unter einem Feigenbaume sitzen. Sie sah wie Preziosa aus, die mit gebrochenem Herzen nachsinnt, ob ihr wohl Alonso aus Madrid nachfolgen werde. Da öffnet sich die Tür an der anderen Seite der Orangerie und einen Fandango singend kommt Hippolyt herangestürmt. Wie im Traum springt das Mädchen auf und hebt die Arme. – Hippolyt, den nichts überrascht, faßt ihre Hände, sie sinkt ihm an die Brust und umschlingt ihn; er hebt mit beiden Händen ihren Kopf in die Höhe und küßt sie. Die fremden Bäume und ich hinter der Glastür, wir sahen still zu; mal es aus das Bild.


Später.


Der Graf holte mich gestern vom Schreiben zum Spazierengehen ab. Ich bin sehr verdrießlich, Freund, über all die Dinge, die sich hier zusammenfädeln; es ist lächerlich, daß ich sie Dir erzähle, der Du auf dem Markte der Welt Dich herumbewegst. Aber ich denke, dieser Mikrokosmos soll Dich doch unterhalten, ich fürchte, er wird nur zu bald sehr interessant. Der Graf war so unsicher, er fühlte so hin und her nach diesem und jenem an mir und Hippolyt, daß ich nicht weiß, wie ich Dir's beschreiben soll. Mir ward ganz heiß dabei, – es wurde alles so heiratlich, so bürgerlich ernsthaft, daß mir bald kein Zweifel blieb, der Graf wolle unserem Weibertreiben ans Leben gehen. Ich konnte nicht klar heraustreten mit meinen Antworten, weil er es mit seinen Fragen nicht tat und ich solchergestalt leicht eine Betise begehen konnte; indes ließ ich ihn doch nicht undeutlich[109] merken, wie diese ganze Wendung der Fahrt nicht in meinen Kram passe, mir sogar sehr unangenehm sei. Die Welt ist doch wahrhaftig eine so große Heiratskanzlei, daß man nur in ein Haus treten darf, worin ein weibliches Wesen wohnt, um beim Herausgehen Heiratsfragezeichen auf dem Rücken zu haben. Wird nicht alle Geselligkeit dadurch zugrunde gerichtet! Sieh unser Schloß an, wie ist alles durch diese verzweifelte Einzäunung zerrissen, zerteilt! Graf Fips reist schon seit vierzehn Tagen ab und ärgert sich alle Tage dreimal, daß er noch da ist, und beschließt zehnmal, morgen werde er reisen und immer nur einmal, daß er noch einen Tag warten wolle. Wenn die Sonne aufgeht, da ist die Erde unschuldig und der unglückliche Liebhaber hofft das Beste – dieser Fips ist ein Maulaffe, aber er fühlt seinen traurigen Schmerz, einen Korb am Frackschoß zu tragen, so gut wie einer. Was ihm an Gefühl zur Empfängnis dieses Schmerzes fehlt, das ersetzt die Eitelkeit; ich glaube, er wartet bloß, weil er sich fürchtet, leer in der Stadt anzukommen. Leopolds leichter Sinn ist sogar gebrochen, er hinkt wie ein lahmes Füllen hinaus ins Feld; man ist ihm zu ernsthaft geworden, sein Scherz erschrickt vor den verkauften oder verschenkten Augen, die keinen Blick für ihn haben. Für ihn ist mir zwar am wenigsten bange; er ist wie der Flußreiher in der Fabel, er nascht am Besten herum, bis ihn der Liebeshunger drängt, mit einem Gründling vorlieb zu nehmen. Ich höre, er hat sich beim Pastor und Förster bekannt gemacht, und er tändelt wahrscheinlich bereits von der Waldmaid zum Gotteslämmchen. Aber William ist mir ein Greuel, seine eigene philisterhafte Absonderungswut rächt sich fürchterlich an ihm; weil er alles, die ganze reiche schöne Welt zu zwei und zwei abschachteln möchte wie in eine traurige dumpfe Arche Noäh, so ist er nun selbst ein verlassenes, trostloses Wesen. Seit sich Alberta so entschieden mit allen Kräften zu Hippolyt wendete, ist dieser William ein wahrer Cromwell,[110] der alles malträtieren möchte. Er ist ingrimmig, grob, ungezogen, ja boshaft wie ein verwöhnter Knabe. Er ärgert alle. Das ist nun jene christliche Liebe, welche der Mann auf der Lippe trug. Weil er keine Freiheit kannte im Glauben und Gefühl, so weiß er nun auch keine zu gestatten. Er ist auch in der Eifersucht Fanatiker und Schwärmer; er ist sehr unangenehm. Es ist kein Schmerz in ihm, sondern Grimm. Ich selbst bin aus meiner Ruhe aufgestört, weil ich die fröhliche Kamilla täglich mit verweinten Augen sehe, weil ich kein heiteres Wort mehr von ihren Lippen höre, weil mich das gute Mädchen innig dauert und ich durchaus nicht weiß, was ihr fehlt. Sollte das unglückliche Mädchen etwa auch den Mörder Hippolyt lieben?! Nun sieh, was sind das für Dinge, was ist das für unnütze Verwirrnis, die das Leben unklar, unerquicklich macht. Ach, ich bin ärgerlich! Als gäb' es auf der Welt keine andern Beziehungen mehr als zwischen Mann und Weib! Ich bin der traurigen Kamilla selbst so gut geworden, daß ich in mir selbst Verwirrung fürchte. Und nun führt das Geschick die Gräfin Julia hieher, und das Haus wird ein Tollhaus. Ich will die Sache erst noch etwas reifen lassen, eh' ich Dir breiter davon spreche. Wir geben uns alle mögliche Mühe, wichtige, spannende, ja verletzende Gespräche über allgemeine Gegenstände aufs Tapet zu bringen, sobald wir bei Tisch oder beim Tee alle versammelt sind, damit die große Spannung und Zerrissenheit der Gesellschaft zugedeckt werde. Höre eines derselben.

»Der Adel,« nahm Hippolyt das Wort, »hatte eine in der ganzen Konstruktion der Gesellschaft begründete Stellung, er war ein integrierender, lebendiger Teil des Staatslebens, mit einem Worte, er war Leben, als es nur Herren und Sklaven gab. Die herrschende Klasse, die aus den Anführern oder den Kriegern oder den Eroberern bestand – denn nur das Schwert war das Kriterium – wurde der Adel; er gestattete einem, Fürst zu sein, und hielte ihn nur so weit in Zaum,[111] daß er seiner Teilnahme am Herrenrechte nicht zu nahe trete. Allmählich machten sich aber die Sklaven durch ihre heranwachsende Masse, durch Erfindungen, durch Gelehrsamkeit geltend, das Schwert reichte nicht mehr ganz aus; da sprach der Adel die Vergangenheit um Hilfe an, er erfand die Stammbäume, die Ahnen; an die Stelle des Schwertrechts trat das historische. Der Vorzug des größeren Besitzes machte es ihm noch lange Zeit möglich, eine höhere Klasse zu repräsentieren. Der spekulative Geist des Bürgers riß nach und nach einen großen Teil dieses Besitzes an sich, die Gelehrsamkeit wurde immer flüssiger, man fing an, die Bestandteile der Gesellschaft zu prüfen, der Adel war genötigt zu glänzen, weil sein Kern verdorrt war. Alle höheren Tätigkeiten des Menschen drängten sich allmählich in einen Früchteknoten zusammen, es entstand die Bildung, und sie stürzte den Adel, weil sie das Kriterium des Schwertes und der Ahnen vernichtete. Die Allgemeinheit ward vernünftig, und es wurde ein lächerlicher Begriff, auf eine höhere Stellung in der Gesellschaft Ansprüche zu machen, weil es die Vorfahren getan.«

»Aber mein Gott,« begann Graf Fips, »es muß doch ein Unterschied existieren.« Er erhielt lange keine Antwort, weil jeder lachte. Das Gespräch schien abgebrochen, und der kleine Leopold knüpfte es spaßhaft mit einer Antwort für Fips wieder an. »Allerdings,« sagte er, »ein Unterschied zwischen Klugen und Dummen, und der existiert noch.« Der Graf Topf schwieg. William aber erhob seine Stentorstimme und verteidigte das Mittel der Erinnerungen, was Tausende aufreize, besser zu sein, als sie ohne selbiges sein würden. Er sei nicht eben für den Adel, aber wenn man solches Verhöhnen alles Herkommens und historischen Rechtes zugäbe, so bräche das jakobinische Vernunftrecht unheilvoll über alles herein und nichts stünde mehr sicher. Ich erwiderte ihm, daß nichts bestehen solle, was nicht vernünftig sei, daß darüber kein Zweifel mehr obwalte und man nur über die Art und[112] den Weg, alten Schutt wegzuräumen, uneins wäre. Die gemäßigten Reformer wollten kein Privatrecht verletzen, um allgemeines Recht zu erzeugen. Der Adel selbst aber sei nicht einmal ein Privatrecht, sondern nur ein usurpierter Titel einer alten Gewalt, die Gewalt sei aber gestürzt, und ein König ohne Land sei ein Narr, wenn er sich noch König nennen und von Hofzeremonien umräuchern lasse. Der Adel sei für wahnsinnig zu erklären – fuhr Hippolyt fort – wenn er noch in Generalsuniform einhergehen wolle, während er längst mit der großen Menge in Reih' und Glied marschieren müßte. »Wollen Sie nicht ›schwach‹ sagen?« schaltete Graf Topf ein.

Du siehst, wie gereizt das Gespräch wurde. Ich versuchte einzulenken, und setzte hinzu: »Es ist aber auf der andern Seite etwas, was der Adel aus seiner Herrscherzeit behalten hat, und was wir ihm immer noch nicht haben gleich tun können, das ist die leichte Art zu leben. Er lebt geflügelter, freier, weil er sich hoch gestellt glaubt, seine Geschäfte sind ihm Nebensache, der Genuß des Lebens aber Hauptsache. Er weiß mehr zu genießen, weil er mehr sucht. Die Mühen der Jahrhunderte, durch welche wir bis hieher gekommen sind, lasten noch lähmend auf unseren Schwingen. Der Adel hat keine Mühen gekannt, darum ist sein Wesen leichter, darum verfällt er nicht in den Irrtum, das Geschäft für den Zweck anzusehen, wie es z.B. unser Kaufmann tut. Der Adel lebt leichter, weil er von Jugend auf sorglos ist. Er kennt unsere Hypochondrie, die Krankheit der Mühe, nicht. Indes, der Sieg ist schon lang erkämpft, und die Not des Kampfes wird bald vergessen sein, dann erwerben wir auch diesen Vorzug, dann wird der Adel nicht nur getadelt, er wird verlacht werden, wie jeder bankerotte Kaufmann, der noch nach Goldstücken rechnet.«

»Aber der Menschen Sinn trachtet nach Bevorzugung –« Hub Graf Topf an – »nur das moralische Streben bändigt ihn; unter den Siegern über die historische Klasse bildet sich[113] wieder eine Aristokratie, die Phasen der Geschichte sind nur ein Wechsel der herrschenden Klassen, aber kein Aufhören derselben; der neue Feind ist die Geldaristokratie, und wahrlich, meine Herren, sie ist noch platter und prosaischer, sie hat nicht einen Funken von Poesie, und gerade das Extrem des Adels, das trostlose Geschäft, schwingt sich im Gewande der Industrie auf den Thron; mir schaudert vor dieser neuen, bloß rechnenden Herrschaft, wo die Herzen nichts mehr gelten.«

Ich gab ihm recht und gestand zu, daß wir sehr auf der Hut sein müßten, uns den Sieg nicht stehlen zu lassen, den Sieg der Bildung. »Immer aber,« fuhr ich fort, »ist das doch ein großer Schritt weiter, wenn der Erbaristokratismus gestürzt ist, und wir vielleicht leider beim Geldaristokratismus angekommen sind, so ekelhaft dieser auch sein mag. Die nächste Morgenröte kann mir das Geld, einige Jahre können mir die Gelehrsamkeit, das Wissen bringen – keine Ewigkeit, kein Gott kann mir eine Vergangenheit, lächerliche Ahnen geben, wie sie der Adel verlangt. Und darin liegt das Fundament zukünftiger Zeit, die vielleicht jetzt in Frankreich beginnt. Alle Wege müssen offen sein zu allem – nicht unbedingte Gleichheit, aber unbedingt gleiche Befugnis zu allem, das ist die Losung des neuen Jahrhunderts.«

»Erbt nicht der Sohn des Millionärs auch die Million?« warf abgehend von meinem Schlußsatze der Graf ein. Hippolyt antwortete für mich: »Er kann sie morgen ganz oder zum Teil verlieren, und sein Nachbar kann sie gewonnen haben. Sie können Ihre Ahnen nicht verlieren, kein Nachbar kann sie gewinnen, darin ruht der Widerspruch mit der neuen Theorie: alles muß für alle erreichbar sein.«

Graf Fips meinte, ich hätte der feinen Manieren nicht erwähnt, die würden nach diesen barbarischen Ansichten ganz zugrunde gehen. Ich erwiderte ihm, daß ich die feinen Manieren allerdings für ein Produkt der Zivilisation ansähe, daß ich aber keineswegs an ihren Untergang ohne den Adel[114] glaubte. »Manches von dem,« fuhr ich fort, »was Sie, Herr Graf von Fips, so nennen, dürfte allerdings verloren gehen; manches von dem, was der Adel darunter versteht, der aber nur eine Frucht mit schöner Schale will, die ihren Zweck durch ihr Aussehen erreicht habe, nimmer aber geöffnet zu werden brauche – die eigentlichen feinen Manieren sind ein Ergebnis der höchsten Kultur, und die meisten feinen Leute kennen sie nicht, weil sie eben nicht kultiviert genug sind. Es handelt sich dabei natürlich nicht um ein Kompliment oder diese und jene Floskel, das ist nichts als Turnüre, die durch einige Übung wie das Tanzen von jedem erlernt werden kann und erlernt werden soll, denn sie ist die Bedingung des Erscheinens, und das Erscheinen soll schön sein. Es handelt sich aber um das höchste geistige Verständnis und um die schönste und gewandteste und geeignetste Erscheinung des Geistigen. Es kommt dem sogenannten feinen Menschen nicht im geringsten darauf an, die geistigen Interessen einer Gesellschaft vor den Kopf zu stoßen, wenn er das nur mit einem zierlichen Komplimente tut – man spreche das Wichtigste, erzähle, lese das Interessanteste: ein gesellschaftliches Unding, das sich eben ereignet, bricht es ab, stört, und kein Mensch mit feinen Manieren fragt, welcher Gedanke, welche Folgerung unterbrochen worden sei – darum weil diese Manieren ihnen nur der Form, nicht der Gedanken halber da sind; der Gedanke erzeugt bei ihnen nicht die Form, sondern die Form den Gedanken. Darum ist ihr Gipfel die Förmlichkeit, und nur die Auserwählten werden das, was die Römer formosi nannten, äußerlich schön, mehr aber nicht. Jedermann aber weiß, daß Roms größte Männer nicht die formosi gewesen sind.

Das ist z.B. gute seine Manier, um Ihnen durch ein Beispiel anzudeuten, was ich darunter verstehe, dem andern durch alle Schlangenwindungen des Gedankenprozesses zu folgen, wo er strauchelt, ihm die Hand zu reichen, wo er eilt und fliegt, nachzueilen, nachzufliegen, und wenn's wirklich[115] geflogen ist und man artig sein will, dies bemerken – alle geistigen oder sonstigen Interessen des anderen zu den eigenen machen und mit Teilnahme verfolgen, der geistigen oder moralischen Atmosphäre, die um ihn ist, ungeteilte Aufmerksamkeit schenken – da kann manches Äußere, eine herabgefallene Nadel, ein Zwirnknäuel übersehen werden; wenn man dem Besten des Menschen sich anschmiegt, so hat man die besten Manieren, alles andere ist angenehme Zugabe.« »Wird es aber zur Hauptsache gemacht –« setzte Hippolyt fort, – »so wird es Leerheit, Abgeschmacktheit, Unkultur, und die feinen Personen, die sich immer und nur darin wohlbefinden können, dürfen nicht zu unseren gebildeten Ständen gezählt werden, weil sie von Bildung nichts wissen und an hohlen Spielereien, an Firlefanz und Puppenkram genug haben. Und meinen Sie denn, daß jene feinen Manieren ein Prärogativ des Adels seien? Wir haben solcher bürgerlichen Affen genug. Es ist eine lächerliche Schwäche von uns, daß wir den arroganten Titel ›Adel‹ noch immer gestatten, daß wir ihn selbst in unserer Polemik noch immerge brauchen; man nenne es ›Junkerei‹ oder ähnlich.«

Man war still, wir hatten zu heftig gesprochen; ich fürchte, unsere hiesige Gesellschaft ist der Auflösung nahe.

Ich sehe durch meine Glastür Kamilla einsam wandeln – leb' wohl für heute, ich will ernstlich zu erfahren versuchen, welcher Kummer das liebe Mädchen drückt, ich habe sie sehr gern. Leb' wohl!

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 1, Leipzig 1908, S. 97-116.
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