27. Hippolyt an Konstantin.

[140] Warum hat die Natur den Menschen nicht größer und stärker geschaffen? Über Berge mag er stolpern können, aber es ist ein Jammer, daß er über jeden Maulwurfshaufen fällt. Solch ein Wicht kann doch eigentlich auch nicht schön sein! Man sollte keine Statuen mehr machen, keine menschlichen Figuren malen, keine Heldengedichte und Dramata schreiben. Die ganze Natur allein verdient so etwas, der einzelne Mensch aber nicht. Nicht das kleine Herz dieses Mädchens kann ich erobern – o, der Mensch ist ein Wicht und nichts weiter.

Valerius scheint die Hauptgefahr überstanden zu haben,[140] indessen ist er noch keineswegs gerettet. Ist so was in Arabien erhört worden? Wie barmherzige Samaritanerinnen sitzen die Weiber um sein Lager herum und sprechen und lesen ihm vor. Selbst die stolze Konstantie fehlt nicht. Der Graf hat dem armen Kranken einen weichen seidenen Patientenanzug geschenkt, in diesem nun liegt Valer wie ein verwundeter Emir, dem die verrückten Kreuzfahrer hart zugesetzt, auf seiner Ottomane und läßt die Houris um sich tändeln. Ihm zunächst sitzt immer die sensitive Alberta, die meine Untreu in seine schönen Augen versenken zu wollen scheint. Meinethalben, das weiche, weiße Kind kann mich nicht ansehen, und nur Valers Nähe scheint sie zu stärken. Die Fürstin übertrifft mich; so groß hab' ich die Geschicklichkeit noch nicht gesehen, kein Gedächtnis zu besitzen. Nach jenem kurzen Wortwechsel über Desdemona schien sie lange Zeit sehr bewegt zu sein. Sie hat lauter stolze Laster, aber auch ihre ebenbürtigen Gegner: stolze Tugenden. Sie schien durch jene Nachricht von Desdemona sehr zu leiden, und von William, dessen Unterwürfigkeit ihrem gesellschaftlichen Sinne am bereitwilligsten entgegenkam, erfuhr ich, daß sie durch ihn die lebhaftesten Anstalten in Wien treffe, Desdemonas Wohl zu befördern. Der junge Pfaff sagte mir das triumphierend und mit scharfen Andeutungen mich anklagend. Ich wehrte ihm diesmal nicht: war ich ein guter Mensch, so ließ ich jene heiße liebedurstige Seele nicht verschmachten und allein ziehen. Aber ich bin nur ein Mensch. Konstantie läßt sich oft stundenlang von William christliche Moral auseinandersetzen und scheint sehr aufmerksam zuzuhören; sie stellt eine Art Examinatorium mit ihm an, und legt ihm schwierige Fälle vor. William ist natürlich entzückt, seinen Kram so anzubringen und wird lächerlich hochmütig; solche Geduld ist ihm lange Zeit von verständigen Leuten nicht geworden. Die Fürstin schloß meist die Gespräche damit, daß sie plötzlich kopfschüttelnd und lächelnd aufstand, vor sich hinsprach: »Ja,[141] ja, das sind schlimme Dinge.« Nur das Lächeln sah William nie, und er fiel natürlich heut aus seines Himmels Wolken, als Konstantie die Sitzung mit den Worten aufhob: »Mein lieber Herr William, das ist lauter Büchermoral, die bestaubt aussieht in dem Sonnenschein, welcher in unseren modernen Zimmern lagert. Unsere Menschen sind nicht mehr die Vordersätze zu Ihren Schlüssen, die Dinge können also unmöglich zueinander passen. Es gibt eine Moral, die in die Poren des leichtsinnigen Burschen dringt; aber die holt man nicht aus dem Grunde eines alten abgestandenen Gewässers, man greift in die Fluten, in welchen jener leichtsinnige Bursch eben treibt; nicht in Syrien heilen kluge Leute den Pariser, sondern in Paris. Ihr Zeug ist langweilig wie alles Unzeitige.« – Beim Zeus, es ist ein verständig Weib, und der Blick, der mich in diesem Augenblicke aus ihren blitzenden Augen traf, erinnerte mich an jene Nächte neben der Bibliothek, an jene Herrscherblicke, mit denen sie mich regierte. Sie sah, was in mir vorging, und wie ein schneller Windstoß flog jene nächtliche Liebe über unsere Augen und Lippen. Wir hätten uns umarmt, wären wir allein gewesen. William stand so zerschmettert da, daß ich ihn das erstemal in meinem Leben bedauert habe. Die Fürstin hatte am Fenster gesessen, er vor ihr gestanden, Julia saß auf dem Sofa und hatte ein großes Gemälde vor sich, nach welchem sie einen Teppich stickte. Ich saß ihr gegenüber am Tisch und erzählte ihr von Spanien, von der Einsamkeit der öden Straßen, von dem romantischen Zauber dieses Alleinseins und dergleichen; sie war freundlicher als gewöhnlich und ließ zuweilen die Nadel ruhen, indem sie forschend auf mich hinsah. Dies träumerische Zuhören gab ihr einen so rührend unschuldigen, harmlosen Ausdruck, daß ich gar zu gern zu ihr gesprungen wäre. Ich wünschte Konstantien und William zum Henker. Bald darauf schloß sich das Gespräch, wie ich Dir erzählte. Die Fürstin ging und gleich darauf auch[142] William. Julia ward unruhig und machte Miene, ihre Arbeit zusammenzulegen und aufzubrechen; sie scheint wie etwas Unheimliches das Alleinsein mit mir zu fliehen. Ich sprang zu ihr, drückte ihre Hand an meine Lippen und bat, wirklich schmerzlich erregt, so sanft als ich konnte, sie möge nicht so hart gegen mich sein, sie möge mich nicht fliehen. Einen Augenblick stand sie unschlüssig mit gesenktem Köpfchen, ließ mir aber ihre Hand, dann sah sie auf, das Wasser stand ihr in den Augen, der alte Hippolyt erwachte, ich wollte sie in meine Arme schließen; sie drückte mir aber die warme kleine Hand ins Gesicht, schüttelte weinend ihre Locken und ging nach der Tür. Wo hätte ich sonst das Abweisen eines Sturmes so ohne neuen Versuch hingehen lassen! Ich blieb starr und traurig stehen. Und dies schien sie zu ermutigen. Sie hatte schon die Tür in der Hand, als sie mit ihrer rührenden Stimme sagte: »Wollen wir einen Gang durch den Garten machen?«

Ich führte sie in eine dunkle Kastanienallee, die aus dem Garten in ein nahes Wäldchen führt. Sanft und mild war sie und sprach mehr als gewöhnlich. Ich faßte ihren Arm, um sie zu führen; sie bebte zusammen, als meine Hand sie berührte. Mein ungeduldiges Herz duldete den Zwang nicht länger, es drängte mich stürmisch, das blühende Mädchen zu umarmen. Ihre klare, durchsichtige Haut war durch die Bewegung auf den Wangen gerötet; es war ein warmer Tag, und sie trug ein leichtes weißes Kleid, ein dünnes rotes Flortüchlein um den Hals, mit dem die Lüfte spielten, und das nicht imstande war, das schöne weiße Fleisch der runden Schultern und des jungen Busens zu verhüllen. Unter einem großen Platanusbaume, der einsam unter den Kastanien stand und seine breiten Äste wie ein gefälliger Liebeshehler ausbreitete, hielt ich plötzlich im Gehen inne, schlang meinen Arm um das heiße strahlende Mädchen – sie wendete sich nicht zu mir und ich konnte nur ihre Seite an meinen glühenden[143] Körper drängen. »Nicht so, Hippolyt,« bat sie innig. Mein gerührtes Herz zerbrach die Sehnen meines Körpers, ich knickte zusammen und mein Kopf sank auf ihre Schulter. Ich fühlte ihre Hand in meinen Haaren und den Hauch eines Kusses auf meiner Stirn. »Leb' wohl, mein Freund,« sprach sie und flog davon. An die Platane gelehnt, sah ich ihr schmerzlich nach. Das mag wohl etwas von Eurer sentimentalen Liebe sein, was mir mit diesem Mädchen gekommen ist; ich wüßte nicht, daß es mir je so ergangen wäre; meine Augen standen in Tränen.

Wie lange ich an dem Baume gestanden, weiß ich nicht. – Prinz Leopold kam aus dem Wäldchen hergeschlendert und weckte mich durch seinen Gesang. Es war eines jener leichtsinnigen deutschen Liebesliedchen, deren die Deutschen so wenig, die Franzosen soviel, die Spanier gar keine haben, in denen Liebe und Liebchen gutmütig verspottet werden. Sie sind die Kritik eines leichten Herzens. Er erzählte mir lachend, daß ihm der Pfarrer und der Förster soeben die Tür gewiesen. Sie waren dahinter gekommen, daß er ein Liebesverhältnis mit den Töchtern von beiden zu gleicher Zeit unterhielte. Der Pfarrer hatte dem Förster und dieser dem Pfarrer vom zukünftigen Schwiegersohne erzählt, und am Ende hatte sich's ergeben, daß sie beide denselben meinten. Darauf hatte ihn der Förster unsanft unter mehrfachen Grobheiten und Flüchen, der Pfarrer mit himmlischem Schwefel drohend unter salbungsvoller Rede jeder aus seinem Hause gewiesen. Er war nämlich zuerst bei letzterem gewesen und hatte sich für solch' Finale rasch bei der Tochter des ersteren stärken wollen, war aber aus dem Regen in die Traufe gekommen. Dem groben Förster hatte er mit seiner Prinzlichkeit gedroht; das hatte aber den nur noch mehr ergrimmt. Hinter dem Hause indes hatte ihm das gutmütige Försterröschen zum Abend um neun noch ein Rendezvous im Walde versprochen, und als er auf dem Rückwege bei der Kirche[144] vorbeigekommen, hatte ihm Juditha, des Pfarrers Töchterlein, einen Abschied abends um elf unter dem Sturmdach der Sakristei zugesagt. Ich mußte über unsern kleinen Detailhändler in der Liebe herzlich lachen. Wenn übrigens der kleine Aff' nicht wirklich der Sohn eines Prinzen ist, so glaubt er doch gewiß bald selbst daran – aus lauter Poesie. Es ist alles an ihm so Duft, Lüge, Traum, daß er am wenigsten darüber Auskunft geben kann, was von seinen Verhältnissen richtig und wahr ist. Ich glaube ihm nicht einen Vorgang, den er mir erzählt; deshalb klag' ich seinen lügenhaften Willen nicht an, er weiß es nicht besser. Jeden Vorfall sieht er mit tausend dichterischen Augen an, er kann nicht dafür, daß er unendlich viel Dinge zuviel sieht. Er hat nicht eine Ader vom Historiker und ein Paar Eimer Blutes zuviel vom Poeten.

Es ist lächerlich, was sich die Leute für Mühe geben hinter das prinzliche Inkognito zu kommen, selbst der Graf verleugnet seinen antizipierenden historischen Charakter und interessiert sich sehr dafür. William ist offenbar in der peinlichsten Verlegenheit, ob er seine frühere fanatisch-sittenrichterliche Rolle dem Kleinen gegenüber mildern oder aufgeben soll, es freut mich aber an ihm, er scheint doch soviel Stolz zu besitzen, daß er sich nicht ganz dazu entschließen kann. Er knurrt und grollt wie ein Kettenhund, der aufgehört hat zu bellen. Fips ist sehr respektvoll gegen den Kleinen, und Konstantie betrachtet ihn so oft lächelnd, so ahnungsreich, sarkastisch und doch komisch gutmütig lächelnd, als sähe sie tief durch ein Gewebe – sie ist ein kluges Weib; Gott weiß, was sie hat, ich bin zu wenig neugierig, um mich darum zu kümmern. Wäre die Sache aber wichtiger, als sie's ist, so könnte sich das Tragische ereignen, daß die in Frage stehende Person über das eigene Ich keine zuverlässige Auskunft geben könnte; denn ich bin fest überzeugt, Dichtung und Wahrheit ist in Leopold über seinen Prinzen[145] bereits so ineinander geflossen, daß er am wenigsten entscheiden könnte, ob er ein Prinz sei oder nicht.

Die Fürstin hat irgend etwas vor, will irgend eine Komödie aufführen; sie lacht den William aus und protegiert ihn offenbar, und hat ihn ernsthaft auf ihr Schloß eingeladen; sie lächelt spitzbübisch über Leopold und will ihn ebenfalls mitnehmen; sie achtet und scheut Valerius, und möchte ihn offenbar auch von der Partie haben. Ich glaube, sie fürchtet am meisten darum für sein Leben. Es ist ein schwer zu ergründendes Weib. An William will sie sich wahrscheinlich einen gläubigen, verehrungslustigen Lamartine erziehen, der sie in Oden und Liedern preist; daß er ein bedeutendes poetisches Talent ist, hat ihr richtiger Takt längst herausgefunden. Und allerdings ist er der einzige, der sich etwa noch zum Hofsänger qualifizierte. Sie behandelt ihn wegwerfend, und doch umstrickt sie ihn mit Aufmerksamkeit, während sie Leopold wie ein Kind behandelt, das man verhätschelt. Ob alles dies, vor allem aber ihre innige Teilnahme, die sie dem Valer an den Tag legt, Oppositionsgeist gegen mich ist, ich weiß es nicht; die Frau weiß die Anfangsfäden so schlau zu verbergen, ist bizarr und affektiert Bizarrerien, so daß man schwer zur richtigen Anschauung kommt.

Du merkst es wohl, daß ich aus Verzweiflung schwatze – umsonst hab' ich Julia gesucht, sie entzieht sich mir geflissentlich. Ich werde Schicksalstragödien lesen, denn ich glaube fast, das Schicksal der Liebe und des Weibes will sich rächen an mir durch dieses schöne Mädchen. Sie ist die erste, der ich meine Liebe nachtrage wie ein Bettler dem hartherzigen Wanderer seine Bitte – und sie ist's gerade, die mich verschmäht. Ist mein Leben verdorrt, mein Blut vertrocknet, mein Geist versumpft? Wo liegt jenes Etwas, jener unerklärliche Hauch der Sympathie, der das verbindende Mittel ist zwischen den verschiedenartigsten Wesen, der sie zusammenzieht? Wo ist jene Elfenbrücke, wo sich des Mannes[146] und Weibes Gedanken im Mondschein finden und miteinander buhlen, eh' Mann und Weib die klare Vorstellung davon haben, und die dann zurückhüpfen in die Tiefen der Herzen, ihre nächtlichen Geschichten erzählen und die Liebe stiften wie ein Gedicht? O ihr Elfenpoeten Julias und Hippolyts, wo seid ihr!

Sieh, es ist so weit mit mir gekommen, daß ich klarer, sonnenheller Mensch dem Mondscheingeheimnis der sentimentalen Liebe nachspüre, daß ich ein blasser Romantiker werde; wo ich früher nichts als das offene Walten der besten Kräfte sah, die sich nach Naturgesetzen anziehen, da such' ich jetzt mysteriöse Sympathie. Es ist weit mit mir gekommen. Ich bin wie ein überschwenglicher Mediziner; wenn seine Therapie nicht mehr ausreicht, da flüchtet er zu den sympathetischen Beschwörungsformeln. Weißt Du keine für meine Julia? O daß wir keinen Teufel mehr haben, dem ich mich verschreiben könnte für das liebreizende Mädchen! – –

Und doch muß ich über die lächerliche Szene, die sich neben mir begibt, lachen. Valerius hat den Provenzalen an den Schreibtisch zitiert, um ihm einen Brief an Dich zu diktieren; Leopold zappelt wie ein Böcklein, und möchte gar zu gern fort, aber Valers Auge und Wort fesselt ihn, er ist wie eine am Magnet hin und her rückende Stecknadel, die gern entweichen möchte, er sieht pudelnärrisch aus.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 1, Leipzig 1908, S. 140-147.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das junge Europa
Heinrich Laubes gesammelte Werke: Band 1. Vorbericht und Inhaltsverzeichnis. Das junge Europa. Band 1. Die Poeten
Das junge Europa. 3 Bde. Bd.1: Die Poeten Bd.2: Die Krieger. Bd.3: Die Bürger.
Das junge Europa

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.

70 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon