17.

[104] Die Vormittagssonne weckte Valerius aus seinen Träumen und brachte ihm, wie sie es stets tat, die Hoffnung auf einen lebendigen, heiteren Tag, auf eine lichte Zukunft. Er schrieb's auch diesen Sonnenstrahlen zu, daß er sein Herz so ahnungsreich und fröhlich bewegt fühlte, als stünden ihm große Freuden bevor. Er hatte es zwar nicht vergessen, daß er sich Briefe bei der Fürstin holen sollte, aber er meinte, diese schöne verführerische Frau habe keinen Anteil an seiner angenehmen Stimmung, und er werde auch heute noch nicht zu ihr gehen.

Mit diesen herumspielenden Gedanken legte er sich ins Fenster, mitten ins Gold der Sonne hinein, und atmete heiter die milde Winterluft. Das Fenster führte nach der südöstlichen Fläche vor Warschau, und die Waffen der manövrierenden Truppen, welche dort herumschwärmten, blitzten weithin wie ein Funkenregen. Noch war auf dieser deutschen Seite der Stadt kein Feind zu erwarten, und selbst Valerius ließ sich die Möglichkeit nicht träumen, daß noch in demselben Jahre von jener besonnten Ebene der neue Untergang des polnischen Volks in die Tore ziehen werde. Seine traurigen Gedanken waren überhaupt in den Hintergrund gedrängt, und er ertappte sich bald nur auf der Frage: »Gehst du heut zur Fürstin, oder nicht?« Er mußte über sich selbst lachen und sich eingestehen, daß es wieder ein Stückchen jenes geheimen Etwas, jener Eitelkeit, daß es Koketterie sei, wenn er nicht hingehe. »Du willst dich rar machen, den Uninteressierten spielen,« sagte er sich spottend. Aber es kam[104] heute nichts Ernsthaftes in ihm auf, die Zeit der Vorwürfe gegen sich selbst schien vorüber zu sein; es ist auch langweilig und abgeschmackt, sich fortwährend zu hofmeistern – dachte er – wir wollen einmal meine Erziehung und die Erziehung des Menschengeschlechts eine Zeitlang auf sich beruhen lassen. Magyac mußte das Pferd satteln, und er ritt spazieren, hinaus in die Sonne, und wenn das Pferd gelaufen wäre bis ins heiße Afrika. O, es entwickelt sich ein so schönes, gesundes Leben unseres Geistes und Herzens, wenn wir zu Wagen oder zu Pferde dahingerissen werden in die reine Gottesluft, Kopf und Herz werden durch keine Mühseligkeit des Körpers gestört und der Mut wächst hoch in die Wolken. Der Mut ist aber der eigentliche Lebensstoff, welcher überall das Größte erzeugt in Taten und Gedanken.

Es flog sein Gaul an einem Phaeton vorüber, aus welchem er seinen Namen zu hören glaubte. Aber es tat ihm weh, dem lustigen Pferde das eiserne Gebiß einzudrücken und seinen Lauf zu hemmen. Wie oft seufzen wir gegen die Macht, wenn sie uns durch Schmerzen zügelt, wo wir mit vollen Segeln dahinstreichen möchten! Und ein feines Gefühl setzt unsere Verhältnisse leicht fort im Umgange mit lieben Tieren. Liegt doch namentlich im Pferde soviel Schönheit und Adel, daß es den Menschen nur zu leicht an ein verwandeltes, unglückliches Geschlecht gemahnt, und seine Freundlichkeit und sanfte Hand in Anspruch nimmt. Valerius kehrte also erst um, als das Pferd seine Lust gebüßt hatte, und suchte nun den Wagen wieder zu erreichen, um zu sehen, ob er sich geirrt habe oder nicht. Dieser schien seine Richtung nach den Truppen hin zu nehmen, welche sich auf der Fläche herumschwenkten. Jetzt hielt er still, Valerius sah einen Reiter mit einem Handpferde ansprengen, ein Soldat sprang aus dem Wagen, bestieg das Pferd, und ritt zu den Truppen. Federn von Damenhüten wehten über das zurückgeschlagene Verdeck der Kutsche, Valerius näherte sich langsam.[105]

»Da kommt der Unartige ganz langsam angeschlichen!«

Das war Hedwig, und die Fürstin saß neben ihr. Sie war Gast im Hause von Stanislaus' Eltern. Dieser war der Reiter gewesen, dessen Regiment hier manövrierte, Konstantie wollte die Truppenbewegungen ansehen.

Sie begrüßte ihren Landsmann auf das freundlichste, ja es lag ein Schmelz von Innigkeit in ihren Fragen, wie es ihm gehe, was er denke, ob ihn der schöne Morgen nicht erquicke? daß auch seine Antworten und Reden zutraulicher und herzlicher wurden als gewöhnlich.

»Ich habe Sie ja noch nie so munter gesehen, Herr von Valerius,« rief Hedwig in ihrer jugendlichen Heiterkeit, »Sie haben sogar einmal rote Wangen – und jetzt noch rötere.«

»Das tut die Sonne, liebes Fräulein, die Sonne.«

»Ja, die Sonne – es hat ein jeder seine Sonne.«

Da brauste das Ulanenregiment vorüber, Graf Kicki in der schimmernden Uniform an der Spitze; er neigte den Degen, als er in die Linie des Wagens kam, und die schlanken Reiter, die flatternden Fähnlein, die blitzenden Waffen, das Gewieher und der Trott der Pferde gewährten den lustigsten kriegerischen Eindruck von der Welt.

»Wie können Sie denn in der Irre herumreiten, schwarz angetan wie ein Trauernder, während Ihr Regiment im bunten Glanze die Revue passiert? Sind Sie denn Ihres Dienstes entlassen?«

»Ja, mein Fräulein Wunderhold, ich habe mich aus dem Waffendienst in den Augendienst begeben, und ich harre der Befehle – man hält mich für unbrauchbar zum Soldaten, und spricht von mir wie Don Juan von seiner verabschiedeten Geliebten: ›Ihr Kopf hat sehr gelitten.‹«

Valerius erkundigte sich nach der alten Gräfin, und hörte, daß sie sich noch ebenso befände, wie sie sich seit einigen dreißig Jahren befunden habe – »aber dieser Krieg,« setzte Hedwig traurig hinzu, »wird wohl das Ende ihres Lebens[106] sein. Siegen wir, so stirbt sie vor Freude, und werden wir von neuem unterjocht, so stirbt sie vor Kummer.«

Es flogen Wolken über den Himmel, die Sonne ward bedeckt, und bald fiel ein trüber Regen. Sie eilten nach der Stadt zurück, Valerius versprach, um die Teezeit seinen Besuch zu machen, und so trennten sie sich.

Dieser plötzliche Wechsel vom schimmernden Sonnenscheine zum grauen trübseligen Regenwetter verdüsterte seinen Sinn, der nur gar zu geneigt war, sich dunklen Ahnungen hinzugeben, wenn der Himmel seine Anzeichen zu senden schien. Sein Geist kämpfte gegen den Aberglauben, aber sein Herz dafür. Von demselben Fenster seiner Wohnung, aus dem er noch vor kurzem die freudestrahlenden Waffen der polnischen Soldaten gesehen hatte, erblickte er jetzt mit Mühe durch die düstere Luft dunkle heimkehrende Scharen; es war ihm einen Augenblick, als weine das ganze Volk, vom Himmel und Glück verlassen.

Er rief Magyac, und fragte ihn hastig, ob er gestern das erstemal im patriotischen Klub gewesen sei. In dem Augenblicke kam ihm erst jene befremdliche Äußerung der Fürstin wieder ins Gedächtnis, die eine Stunde nach seiner Anwesenheit in der demokratischen Versammlung bereits davon gewußt habe. Nichts verstimmt offene, redliche Menschen mehr, als die Überzeugung, umschlichen und behorcht zu werden; es belastet sie wie ein böses Gewissen, und das ist das ärgste, was sie fürchten.

»Nein, Herr,« antwortete Magyac, »zum zweiten Male.« Er versicherte, Valerius gar nicht gesehen, noch weniger gegen jemand seinen Namen genannt zu haben. Dieser hatte Magyac im Verdachte, auch in jenem Stallgebäude gewesen zu sein, und er war im Begriffe, ihn auch danach zu fragen. Aber es hielt ihn eine Art Stolz zurück, nach Geheimnissen zu forschen, die man verbergen wollte. Dies ganze Wesen von heimlichen Umtrieben, das sich um ihn her spann, verstimmte[107] ihn indes immer mehr. Er war gekommen, für dieses Volk zu kämpfen, und nun sah er sich fortwährend wie ein störender Fremder übergangen und doch beobachtet. Bei größerer Unbefangenheit hatte er allerdings keinen eigentlichen Grund zur Klage; es war Torheit zu verlangen, daß die Polen jeden Fremden in ihre geheimsten Absichten einweihen sollten. Aber das Unbehagen war bei einem Charakter wie der seine ebenfalls natürlich.

So verbrachte er in trüber Stimmung den Rest des Tages auf seinem Zimmer. Alle Zweifel über Leben, Völker, Freiheit rüttelten wieder an ihm, und er schalt sich selbst, daß der Gedanke an die glänzende Fürstin zum öftern in ihm aufstieg, und jene finsteren Gestalten mit einem freundlichen Lichte beleuchtete.

Wenn wir einmal ins Zweifeln gekommen sind, so hält kein Glaube mehr fest, und die stärksten Menschen, welche sich auf eigene und neue Wege des Lebens gewagt haben, erschrecken vor ihrer Kühnheit. Sie beneiden dann einen Augenblick die große Masse der Alltagsmenschen, die im hergebrachten Schlendrian einherziehen, dergleichen Zweifel und Sorgen nicht kennen, und in Trübsal immer links und rechts Stützen finden, weil sie nie von der allgemein betretenen Heerstraße gewichen sind. Die Männer neuer Lebensgedanken und einer neuen Zeit werden auch immer die Märtyrer derselben, selbst wenn ihnen die alte störrige Außenwelt keine Kerker öffnet, keine Schafotte errichtet. Ihr Gewissen, das unter den alten Gedanken aufgewachsen ist, hält sie unter einer immerwährenden Tortur, und es ist um so peinlicher als das der andern Menschen, weil es die Verpflichtungen gegen die Gesellschaft tiefer empfindet. Die immerwährende Prüfung hat es spitzer und feiner gemacht. Und der stärkste Mensch mißtraut seinen Kräften, der edelste Reformator fragt sich in stillen Stunden: Bringst du nicht auch Unglück mit deinen neuen Gedanken? Beruht das Herkommen nicht auf der Weisheit vieler Generationen?[108] Ist deine und der Gleichgesinnten Meinung nicht vielleicht unreif, unvollkommen, grün und dreist neben den alten viel geprüften Formen?

Ertappt er sich nun auf einen Irrtum, auf einer Schwäche, sie mögen noch so fern liegen von dem Hauptgange seiner Gedanken, dann ist die allgemeine Unsicherheit da. So ging es auch Valerius. In all seinen Überzeugungen war er schwankend geworden. Nichts war ihm früher klarer und abgemachter erschienen, als das Verhältnis zwischen den verschiedenen Geschlechtern, seine Ansicht über Ehe und Treue. Der Gedanke an die Fürstin weckte dies alles wieder auf, und der quälende Zweifel seiner Seele brachte jetzt alle die Gesichter seiner Ideen über diese Gegenstände bleich und mit verzerrten Zügen vor seine Augen.

Die Dämmerung lag bereits in seinem Zimmer, und noch ging er brütend, prüfend, anklagend, verteidigend, verwerfend in demselben auf und ab. Einem fremden Zuschauer hätte er unheimlich erscheinen müssen, wie er halblaut sprechend mit unsichtbaren Geistern zu verkehren schien. Alle die verschiedenen Meinungen, mit denen er rang, schienen in den Winkeln des Gemachs zu stehen, bald rastete er vor diesem, bald vor jenem, und sprach mit ihnen, und antwortete statt ihrer:

»Wenn ich die gewöhnliche Treue tadle, rede ich nicht der jämmerlichen Liederlichkeit das Wort, die in grauenvollem Egoismus nur ihren Lüsten nachjagt, mag aus den Opfern derselben werden, was da will! Löse ich nicht den Bestand aller Dinge auf, wenn ich den zuverlässigen Glauben auf ihre unwandelbare Stetigkeit hinwegreiße? Sind denn so viele Jahrhunderte im Irrtume gewesen, welche die Treue zu einer Tugend erhoben haben?«

»Aber war nicht die rohe Tapferkeit, der grausame blutdürstige Fanatismus einst auch eine Tugend? Kann die Welt von der Stelle rücken, wenn sich die Gesellschaft fortwährend[109] in denselben Gedanken herumbewegt? Ist es nicht eine förmliche Mordanstalt, jene schwindsüchtige Treue, welche über ihren eigenen Tod hinaus zu bestehen trachtet? Das Interesse, der Reiz, die leiseste Hoffnung von Glück ist oft verschwunden, wenn die Leute ein altes Versprechen einlösen; beide Teile fühlen es, beide wagen es nicht zu äußern, um den Popanz der Treue nicht zu verletzen, beide stürzen sich mit offenen Augen ins Verderben. Das täglich wechselnde Leben, der Reiz, welcher fröhlich vor ihre Augen tritt, predigt stürmend das Gegenteil, aber sie verstocken sich, um ihr Gespenst nicht zu verletzen, sie sündigen gegen die Herrlichkeit der Natur, die sich ihnen in den Schoß wirft, um ein Wort zu halten, das ihnen vielleicht ein Augenblick des Rausches entlockt hat.«

»Sind denn nicht aber wirklich die schönsten Gefühle von tieferer Dauer, von stetem Bestande? Heißt es nicht das Herz verflachen, wenn man die Treue von dannen weist? Verurteilen wir uns nicht selbst dadurch zu jener vorüberfliegenden Unbedeutendheit, die alle Verbindung mit ewigen Zuständen aufgibt?«

»O, erfindet, ihr widersprechenden Geister, ein neues Wort, verdrängt eure tödlichen Bezeichnungen für unwandelbare, unverrückte Zustände, sie sind unserem Blute und unserem Streben fremd, sie sind unnatürlich und erzeugen das Unglück – keine Untreue, nein, sie ist des Herzens unwürdig, aber auch nicht jene Treue, jenes tote, stehende Gewässer.«

»Ich sehe dich, Kamilla, du zürnst mir nicht, wenn ich ein anderes Weib küsse – deine Seele lebt im Grunde meines Herzens, solange ein Tropfen Blutes darin rollt. Und soll ich nicht mehr atmen, wenn es nicht deine Luft ist? – Ohne Weiber ist das Leben arm, arm, sehr arm.«

»Du zürnst mir nicht, aber unglücklich wirst du doch, wenn du's erfährst. Und würdest du einen andern küssen?[110] Hab' ich mehr Recht? – Wahrhaftig, ich habe mehr Recht, und das ist kein törichter Männerstolz, ich werde dir's erklären, aber ein andermal. Jetzt hab' ich genug regiert, genug gearbeitet an der Einrichtung der Welt, ich muß Weiber sehen!«

So hatte er sich endlich in eine humoristische Laune hineingesprochen. Es war selten, daß sie ihn von seinen Gedanken erlöste, aber er nahm sie immer fröhlich auf, wenn sie kam, und tröstete sich dann, wenn die Fragen ungelöst blieben mit Hamlet oder richtiger gegen Hamlet: Die Welt ist zwar aus den Fugen, und ich soll sie einrenken, aber 's muß ja nicht heute sein, Rom ward nicht an einem Tage erbaut, und der Herrgott müsse auch das Seine tun.

Der Teetisch, an dem er Hedwig und Konstantie zu finden hoffte, mochte wohl die Hauptursache dieses seltenen Wechsels in seinem ernsten Wesen sein. Das gesunde Leben behielt sein Recht über das künstliche, und er besaß soviel Instinkt, sich darüber zu freuen und seinen Mantel zu nehmen.

Wie ein Schüler, der aus dem Examen kommt, und nicht eben unter den Besten und Ausgezeichnetsten, aber auch nicht gerade unter den Faullenzern genannt worden ist, schritt er durch die Straßen. Er glaubte, seinen Forschungen und Studien einige Wochen Ferien gewähren zu dürfen, und er freute sich eben auch wie der Schüler auf eine bequeme Zeit, die vor ihm läge.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 104-111.
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