21.

[135] Valerius unterrichtete des andern Tages Joel beizeiten, daß äußerlich nichts zu besorgen sei. Dieser war in der erzürnten, halb grimmigen Stimmung, welche jener den Tag vorher mit Eifer entzündet hatte. Sie ist der beste Schutz kräftiger Menschen gegen die unleidlichen konventionellen Übel, und sie ermunterte Joel auch sogleich, wie sein Freund das Regiment zu verlassen. »Wir finden einen freundlichen Tod,« sagte er, »beim alten Dwernicki – dorthin lassen Sie uns gehen, dort gibt's keine Aristokraten für Sie – und für mich – ach, für mich ist's überall gleich, aber die Jugend, die unter Dwernicki fechten will, ist doch besser, ihr Blut ist noch natürlicher, und die Natur kennt keinen Haß.«

Valerius eilte nun zu Stanislaus – er war nicht zu sprechen – der alte Graf ebenfalls nicht – die Fürstin war den Abend vorher zum ersten Male wieder im Salon erschienen. O, in welch einer verworrenen Stimmung eilte er hinweg! Was mußte Konstantie von ihm denken, wie tief mußte sie sich gekränkt glauben. Sollte er schreiben? Nein, das war ihm nicht möglich – das Hoch und Niedrig, Vornehm und Gering sprang so wild in seinem Kopfe herum, daß ihm das Schreiben an die Fürstin wie ein Hinterhalt vor kam, in welchen er mit all seinem Bürgerstolze fallen könnte wie der arme Joel. Sind wir einmal aus dem Regelmäßigen aufgeschreckt, dann sehen wir in allen Ecken Feinde. Und Stanislaus und sein Vater – sie hatten sich sicherlich verleugnen lassen – »wie konnte ich einen Augenblick vergessen, daß sie keine Deutschen sind mit all ihrer Sanftmut!«

Das Leben in diesem Zustande ward ihm unerträglich; wenn sich das Verhältnis zu Stanislaus und seinem Vater[135] so feindlich ausbildete, wie er glaubte, daß es jetzt angefangen habe, so war ihm der Weg zu Konstantien versperrt. Von der Armee hatte er sich geschieden, was hatte er nun in Polen noch zu schaffen? Aber der Gedanke war ihm ebenso unerträglich, jetzt zu entscheiden. Alle Interessen seines Geistes und Herzens hätte er in unvollkommener Halbheit nach Deutschland gebracht.

In dem unbehaglichsten Aufruhr seiner Gedanken und Wünsche kam er in seine Wohnung. Magyac trat ihm mit traurigem Gesicht entgegen: »Herr, Sie wollen nicht mehr mit uns fechten?«

»Woher weißt du das?«

Nach einigem Zögern erzählte er, daß es ihm der Bediente des Grafen Stanislaus gesagt habe. »Er hat den jungen und den alten Herrn Grafen sehr heftig darüber sprechen hören, auch von Joel ist die Rede gewesen, und der alte Herr hat dem jungen heftige Vorwürfe gemacht, daß er unbesonnen sein Vertrauen und seine Freundschaft wegwerfe. Herr, es ist einer wie der andere von unseren Edelleuten, wenn auch in manchen Stunden einer besser aussieht als der andere, und ich würde nicht von Ihnen gehen, Herr, wenn Sie noch mit uns fechten wollten.«

»Du willst mich also verlassen?«

»Ja, Herr, ich bin ein Pole.«

Valerius fühlte eine Art Kitzel der Trauer darin, daß ihm plötzlich alles untreu würde. Er reichte dem Thaddäus die Hand und schenkte ihm seine Börse, ohne zu bedenken, daß es der letzte Rest seiner Barschaft sei.

»Leb' wohl, Magyac, du bist noch der Ehrlichste von allen.«

Thaddäus küßte ihm heftig die Hand, eine ungewöhnliche Rührung trat auf sein Gesicht: »Herr, Sie sind gut, lassen Sie mich so lange hier bleiben, bis Sie aus Warschau gehen, jetzt gibt es doch noch nichts zu tun.«[136]

Diese stillschweigende Voraussetzung des einfachen Bauers, daß sein Herr Warschau verlassen müsse, wenn er nicht mehr fechten wollte, ergriff diesen heftig. Er fühlte sich unglücklich, verlassen, beleidigt, und da er nicht wußte, wen er direkt anklagen sollte, so hätte er am liebsten weinen mögen wie ein ungezogenes Kind.

So schnell wechseln die Dinge, daß er es heut war, welcher Joel aufsuchte, um einen Freund zu sehen. Einer wollte den andern zerstreuen, und sie strichen planlos Arm in Arm durch die Straßen. Stanislaus und sein Vater fuhren rasselnd an ihnen vorüber, Valerius bemerkte sie zu spät, um zu grüßen, sie selbst hatten keine Anstalt dazu gemacht.

»Hoffen Sie wirklich,« sprach Joel, »mit diesen Leuten noch in Verbindung zu bleiben, nachdem Sie sich meiner angenommen, nachdem Sie Ihr Regiment verlassen haben? O wie wenig kennen Sie meine Landsleute, im Patriotismus liegt all ihre Tugend, und wenn sie andere edle Gefühle zeigen, so entspringen diese nur aus einem nahen oder fernen Zusammenhange mit diesem Patriotismus. Alle Nationalität ist eine Gattung Egoismus, und die unsere vollends. Und haben Sie denn vergessen, daß Hedwig des jungen Grafen Verlobte ist? Gewiß, Sie haben es vergessen, weil er keine Zeit hat für das arme Mädchen, weil Sie nie etwas von Lieb' und Teilnahme an ihm bemerkt haben – aber Freund, sie ist seine Verlobte, und Sie haben einen zudringlichen, niedrigen Liebhaber derselben in Schutz genommen, Sie gehen eben mit ihm Arm in Arm über die Straße. Sie haben in seinen Augen ein Sakrileg begangen, Sie haben seinen Stand und die kurze flüchtige Freundschaft verletzt – er kennt Sie nicht mehr, wenn er Ihnen begegnet.«

Joel war stärker geworden, seit er seinen Freund unter Mißverhältnissen leiden sah, in denen er Ähnlichkeit mit den seinen zu finden glaubte. Es war ihm eine Tröstung, nicht[137] allein von der Gesellschaft mißhandelt zu werden, und sein Liebesjammer verstummte vor den Kämpfen um Ehre und Existenz, die ihm Geist und Herz bewegten.

Sie traten in ein Kaffeehaus, überall hörte man Entrüstung über die Untätigkeit der Regierung, alles politisierte, las Zeitungen, sprach vom Kriege. Valerius kam sich vor wie ein abgeschiedener Geist, der nichts mehr mitzusprechen habe über irdische Dinge. In seinem Schrecken ward er jetzt auch inne, daß er von allem Gelde entblößt sei, er mußte Joel in Anspruch nehmen und vorgeben, seine Börse vergessen zu haben. Es fiel ihm plötzlich schwer aufs Herz, was daraus werden solle; Joel hätte gewiß leicht Rat geschafft, aber er konnte ihm nichts sagen. Gerade dessen üble Stellung zur Gesellschaft hielt ihn ab, etwas zu tun, worin er sonst einem Freunde gegenüber nicht das mindeste Bedenken gefunden hätte. Er hat keinen einzigen Freund als mich, dachte er, und der Arme könnte einen Augenblick glauben, ich stünde neben ihm, weil ich sein Geld brauchte.

Es war ein fataler, übertriebener Gedanke, den aber wohl die Situation entschuldigte.

Valerius hatte nirgends Ruhe, und Joels Vorschlag, ins Theater zu gehen, kam ihm gelegen. Er war aus dem Hause getreten und wartete auf Joel. Da ritten zwei Damen an ihm vorüber; es waren Hedwig und Konstantie, an der Seite jener der Graf Kicki. Hedwig nickte freundlich mit dem Kopfe, noch ehe er Zeit gewann, nach seinem Hute zu greifen, Konstantie dankte leichthin seinem Gruße, und es eilte ein stolzer Schmerz schnell wie ein Windstoß über das schöne Gesicht.

»Ach, er ist auch wieder so blaß,« hörte er Hedwig zu ihr sagen, und sie wendete sich noch einmal freundlich nach ihm zurück. Konstantie aber sah nicht mehr rückwärts. Regungslos blieb er stehen. Jenes schöne Antlitz Konstantiens war ihm wohl bekannt, nie hatte er diese verführerische Blässe,[138] nie diesen hohen, tragischen Ausdruck darauf erblickt. Das schwarze, lange Reitkleid, der schwarze Hut mit dem wehenden schwarzen Schleier, erhöhten das Bild einer stolzen Trauer. Einzelne Locken flogen wie sehnsüchtige Gedanken über die Schultern zurück und sprachen stumm von der Achtlosigkeit ihrer Herrin.

»O schöne, schöne Konstantie, warum kann ich nicht zu dir, um dich zu küssen und die törichte Welt in deinen Armen zu vergessen!« seufzte er leise. »Fort – fort,« flüsterte Joel, der gekommen war, »das sind vornehme Leute.«

Valerius sah ihnen aber noch länger nach, und er hatte eine ironische Freude an dem Gedanken, daß er in der fremden, für ihn unwirtlichen Stadt eben keinen polnischen Groschen besitze, während das Weib, das er liebte, und das ihn vielleicht wieder liebte, stolz vorüber ritte, und dem ersten Bettler zuwärfe, was dem Geliebten auf einen Tag das Leben fristen könnte.

»Nicht doch, nicht doch,« rief er aber schnell, »wozu solche Kontraste und Übertreibungen, kommen Sie, Freund, ins Theater.«

Aber auch dort litt es ihn nicht lange. »Überall Enthusiasmus, Patriotismus, Freund Joel, das fängt an mich zu langweilen.«

Joel lächelte und erwiderte gutmütig: »Sie sind schlechter Laune, und Sie sind ein Deutscher: dies Volksleben, dieser Volkslärm war Ihnen willkommen, als er Ihnen neu war, er entsprach Ihren Freiheitsbegriffen; jetzt sind Sie Ihren Launen verfallen, die künstlichen, die erdachten Wünsche an Volksleben schweigen, und die deutsche Gewohnheit macht Ihnen den Lärm lästig.«

»Sie haben recht, man muß über nichts reden, wenn man unfreien Gemütes ist; ich habe den Leuten unrecht getan.«

Joel führte ihn in den patriotischen Klub, aber er hatte[139] nirgends Ruhe. Weiter, immer weiter trieb er, und als er endlich heimgekehrt war, stärkte ihn selbst der Schlaf nicht. Ermattet wachte er am nächsten Morgen auf. Die Sorgen fielen über ihn her, und der völlige Geldmangel war nicht die geringste. Und zwei so verschiedene Dinge sind es gerade, Liebe und Geld, wo keine Philosophie hilft. Er warf sich in die Kleider, um einen Bankier aufzusuchen, von welchem er bei seiner Ankunft in Warschau einen Wechsel bezogen hatte; vielleicht wüßte der Mann Rat zu schaffen. Das Kontor war noch geschlossen, und Valerius hatte Zeit, spazieren zu gehen. Es regnete emsig; die Leute eilten flüchtig durch die Straßen. Vielleicht nimmst du heut Abschied von diesen Orten, dachte er, und der Himmel sorgt dafür, einen letzten trüben Eindruck deinem Gedächtnis einzuprägen. Ob er gehen, ob er nicht gehen würde, das wußte er nämlich selbst noch nicht, die schöne Reiterin von gestern ritt unaufhörlich in Kopf und Herzen auf und ab, und er dachte eigentlich nicht eine Stunde vorwärts, und wenn jetzt eine Stimme in ihm rief: »Heute noch mußt du diese Stadt verlassen,« so sagte er: »Jawohl, jawohl!« und ein leises Geflüster, das von Konstantie erzählte, ward nur von seinem Herzen vernommen. Das Herz aber schwieg still, als kümmerte es sich gar nicht um die Entschlüsse seines Herrn, als hätte es gar keinen Einfluß darauf. So läßt die gebietende Hausfrau den zärtlichen Gatten, wenn er im Zorn oder Sturm einhergeht, alles mögliche beschließen, und wenn das Beschlossene geschehen soll, so sagt sie bloß: »Nicht doch!« und es bleibt beim alten.

Valerius kam wieder zum Hause des Bankiers. Das Kontor war jetzt offen; er traf aber schon einen jungen Mann im eifrigen Gespräch mit dem Herrn. Die Stimme des Mannes, der ihm den Rücken kehrte, klang ihm bekannt, er hatte aber keine Zeit nachzusinnen; der Bankier trat ihm entgegen und fragte nach seinem Begehr. Valerius stellte ihm seine Verlegenheit vor und fragte, ob er einen Wechsel[140] ausstellen könne für jenes deutsche Handelshaus, dessen Anweisung ihm der Bankier vor einigen Monaten honoriert habe; der Graf Topf habe ihn an jenes Haus empfohlen, und für das garantiert, was er entnehme, die augenblickliche Verlegenheit ließe ihm aber jetzt keine Zeit, nach Deutschland zu schreiben und einen rückkehrenden Brief abzuwarten. Der Bankier zuckte natürlich die Achseln und erklärte, sich auf dies Geschäft nicht einlassen zu können.

Auf dem Wege nach Hause fiel es Valerius zum ersten Male ein, daß es auch eine Pflicht sei, Geld zu erwerben. Die Wichtigkeit des Geldes erschien ihm auf einmal nur zu deutlich. Er mußte sich gestehen, daß es unmöglich in der Ordnung sein könne, vom Vermögen seiner Freunde zu leben. Dazu sei die bürgerliche Gesellschaft nicht konstruiert.

Eh' er nach Grünschloß gekommen war, hatte er in kleinen, wohlfeilen Verhältnissen gelebt, einzelne Geistesarbeiten und der jeweilige Zuschuß seines Freundes Hippolyt hatten für seine Bedürfnisse zugereicht. Später hatte ihn die liebenswürdigste Zuvorkommenheit des Grafen Topf nicht mehr an Geld und Gelderwerbung denken lassen, er hatte sich unterdes an die Bedürfnisse der höheren Klassen gewöhnt, und der Gedanke überraschte ihn bei der argen augenblicklichen Verlegenheit nicht eben angenehm, daß er auf diese Weise durchaus nicht fortleben dürfe. »Der Staat ist einmal auf Erwerb gegründet,« sagte er sich, »und du bist ein unnützes, unproduktives Mitglied.«

Es hatte zwar eine Zeit gegeben, wo er in poetischer Ansicht des Lebens solche triviale Staatsforderungen entrüstet abgewiesen hätte, aber ein Augenblick, wo man den Hunger und Mangel vor der Türe sieht, ist der poetischen Ansicht des Staates nicht günstig. Und sein Verlangen nach Selbständigkeit lehnte sich nicht minder auf gegen dies stets abhängige Verhältnis von seinen Freunden.

Bei alledem blieb aber doch seine stolzere und höhere[141] Art, das Leben zu betrachten, mächtig, er verschob diese ökonomischen Untersuchungen auf eine andere Zeit, und schritt stolz die Straße entlang, in welcher die Fürstin wohnte – wohin er gehen wollte, wußte er selbst noch nicht.

Stanislaus trat eben aus der Tür; Valerius ging auf ihn zu. Jener konnte nicht füglich mehr ausweichen, und mußte es anhören, wie ihn Valerius mit freundlichen Worten fragte, ob er böse sei, und warum er sich durch den Bedienten habe verleugnen lassen. Aber die Heftigkeit, welche in dem Polen aufloderte, ließ diesen nicht zu Ende kommen, er überschüttete Valerius mit einer Flut beleidigender Worte, wie er sich des dreisten Juden angenommen, sogar, um seine Familie zu frondieren, Arm in Arm mit jenem frechen Burschen an ihm und seinem Vater vorübergegangen sei, wie er den heiligen Kampf des Landes leichtsinnig verlassen, weil Graf Kicki es nicht in der Ordnung gefunden habe, daß dieser Joel eine edle Familie mit seinen Zudringlichkeiten beschimpfe –

»Schweigen Sie, Herr,« unterbrach ihn Valerius, »der Sie allerlei schöne humane Redensarten im Munde führen, und wenn's zur Sache kommt, die veraltetsten adeligen Unflätereien an den Tag legen. Es ist mir nicht eingefallen, an Sie zu denken und für Sie eine Beleidigung darin zu sehen, wenn ich den unglücklichen Joel gegen Ungebührlichkeiten in Schutz nahm. Er hatte meine Freundschaft in Anspruch genommen, und es war meine Schuldigkeit ihn zu vertreten. Ja, ich würde ihn auch ohne dies vertreten haben, den man wie einen Paria behandelt; gegen tyrannische Unterdrückung zu kämpfen, war ich nach Warschau gekommen, und es ist nicht mein geringster Schmerz, daß ich sie da finde – genug, Herr, Sie Wortheld der Humanität haben sich eben der beleidigendsten Ausdrücke gegen mich bedient und werden mir Satisfaktion geben.«

Diese letzten Worte rissen Stanislaus aus einem Zustande[142] von Beschämung, welche der erste Teil von Valerius' Rede erzeugt zu haben schien. Die Herausforderung schürte seinen Zorn wieder auf. – »Kommen Sie, Herr,« rief er glühend, und trat ins Haus, rief einen Bedienten, sagte ihm einige Worte ins Ohr, und schritt Valerius voraus durch den Hof in den großen Garten, welcher zu dem Palais gehörte. Ehe sie noch den hinteren Teil erreicht hatten, flog der Bediente schon wieder hinter ihnen her, und brachte seinem Herrn einen Säbel. Ein Wink von diesem, der Bediente entfernte sich, Stanislaus reichte seinem Gegner den Säbel, und zog den seinen, sie warfen die Mäntel ab, und hie Hiebe flogen.

Von dem Palais zog sich ein gedeckter Gang an der einen Seite des Gartens hin bis zum Ende desselben. Er glich von außen völlig einem einstöckigen Gebäude, hatte Fenster mit Jalousien und stieß hinten an ein Gartenhaus, das quer den Garten schloß und dessen Front hinten nach einer Straße ging. In dem Winkel, welchen die beiden Gebäude bildeten, war jetzt der Kampfplatz. Die Jalousien des Ganges, die Fenster des Gartenhauses waren verschlossen, von dort aus konnten sie nicht beobachtet werden, eine dichte Gruppe Bäume, wenn auch damals unbelaubt, deckte sie so ziemlich nach vorn zu gegen unberufene Blicke aus dem Palais.

Sie waren beide geübte Fechter, beide noch in der ersten Aufwallung, es regnete von beiden Seiten Hiebe – da flog die letzte Jalousie des Durchganges auf, in deren Nähe sie fochten, und die Fürstin erschien in der Fensteröffnung. Sie hatte vorn am Fenster den Wortwechsel an der Haustüre angehört, hatte sie in den Hof schreiten, den Bedienten mit einem Säbel nacheilen sehen und sich leicht das übrige ergänzt. Der Durchgang führte just in die Zimmer, welche sie bewohnte; in früheren Zeiten hatte sich der Herr vom Hause gewöhnlich darin aufgehalten, und die bedeckte Verbindung mit dem Gartenhause war vielleicht zum Behufe verborgener Zusammenkünfte erbaut worden, wie sie in einem Lande der[143] Unterdrückung nicht selten sind. Die Fürstin war also eilig durch ihre Zimmer die Treppe hinabgeeilt, und das Waffengeklirr verkündigte ihr am letzten Fenster, daß sie hier in der Nähe der Kämpfer sei. Einen Augenblick sah sie mit leuchtenden Augen dem Kampfe zu, als sei sie bloß deshalb herbeigeeilt. Die weibliche Sorge überwog aber doch bald jedes andere Wohlgefallen, und sie rief hastig den Namen ihres Cousins.

Das Öffnen der Jalousie war diesen entgangen, aber die Stimme konnten sie nicht leicht überhören. Beide hielten inne, erhitzt, heftig atmend.

»Schämen Sie sich nicht, meine Herren, ohne Sekundanten und Zeugen wie ein paar Stegreifritter aufeinander loszuschlagen? – So was kann nur in Polen geschehen! Cousin Stanislaus, ist das Zivilisation, Herr von Valerius, sind das Ihre humanen Grundsätze, mit denen Sie sonst das regelmäßige Duell sogar wegräsonnieren mit Stumpf und Stiel?«

Den einen wie den andern trafen diese Vorwürfe: jeder hatte sich von der Hitze fortreißen lassen, und die beiden jungen Männer, rot von der Bewegung und einer leichten Scham, sahen unschlüssig nach dem Fenster, aus dessen Dunkel das blasse schöne Antlitz Konstantiens blickte.

»Ich habe vom Fenster des Salons aus Ihren Streit angehört; Cousin, Cousin, was sind das für fanatische Manieren gegen einen Mann, für dessen Freundschaft Sie noch vorgestern schwärmten. Erlauben Sie, meine Herren, daß ich Sie beide beim Onkel melde, und ihm den Stand der Sachen auseinandersetze – aber haben Sie die Güte, Ihre Säbel einzustecken.«

Sie verschwand nach den letzten Worten. Valerius sah seinen Gegner an und bot ihm die Hand, dieser schlug erst nach einer Weile die Augen auf, um mit einem jener rapiden polnischen Blicke die Stimmung des Deutschen zu erforschen.[144] Als er aber die dargebotene Hand sah, schlug er schnell ein: »Nous sommes d'accord?«

Wenn das Gewissen noch nicht rein ist, und das Herz nicht selbst und mutig spricht, dann reden die Leute in solchen Fällen französisch.

Valerius nickte mit dem Kopfe, und sie gingen langsam dem Palais zu. Jener dachte nur an Konstantie: sie hatte sich vorzüglich an Stanislaus gewendet, und er fühlte wohl, wieviel Vorwurf darin lag, daß sie ihm weniger Vorwürfe machte als diesem, daß sie kein Recht mehr haben wollte, ihn zu schelten. – Aber er hoffte, sie noch beim alten Herrn zu finden, und ihr durch zwei, drei leise Worte sagen zu können, was er empfände. Er wollte deshalb schneller gehen, aber Stanislaus machte keine Anstalt, ihm zu folgen, und so war er genötigt, langsam fortzuschleichen, während sein Herz sprang.

Konstantie war nicht mehr beim alten Grafen. Dieser empfing Valerius mit einer süßen Höflichkeit, welcher man leicht anmerkte, daß sie nur die eines Weltmannes und von der Beredsamkeit Konstantiens erzeugt war. Er bat Valerius, zum Essen dazubleiben, und begann ein Gespräch, über deutsche Literatur; es war nicht zu verkennen, daß er alle früheren Beziehungen geflissentlich umgehen wollte. Valerius fühlte sich gedrückt und ertrug den fatalen Zustand nur, um wieder in die Nähe der Fürstin zu kommen.

»Ich hörte neulich,« hub der Graf an, »hier unten auf der Straße ein Lied von Goethe singen, das ich oft in Deutschland gehört habe. Es sind wohl mehrere Ihrer Landsleute hier?« und die alten tiefen Augen schickten bei diesen Worten einen spitzigen Blick auf den Gefragten – »was machen die Leute in einer solchen Kriegszeit bei uns?«

Valerius war verlegen und beleidigt, aber er mochte nicht reden und zuckte bloß mit den Achseln.

Das Gespräch fügte sich nicht, die Reden und Gedanken gingen nicht ineinander über, und der Vorschlag des alten[145] Grafen, bis zum Essen eine Partie Schach zu spielen, war ebenso natürlich, um das Peinliche des Zustandes aufzuheben, als er dem jungen Fremden angenehm war. Es gibt nichts Drückenderes, als wenn zwei Personen von äußeren Gründen getrieben werden, sich einander zu nähern, und doch keine inneren gegenseitigen Verbindungen auffinden können. Der Wunsch des Alten war nicht zu verkennen: Valerius möchte wieder unter die Waffen treten. Jeder »brave Pole« – so nennen sie vorzugsweise ihre Patrioten – betrachtet sein Vaterland wie eine Familienangelegenheit, und einen Krieger dafür zu gewinnen, war in jenen Tagen Gewissenssache. Zumal hier, wo sich Vater und Sohn vorzuwerfen hatten, daß sie schuld trügen, wenn ihre Sache einen Streiter verlöre an dem Deutschen.

Der Bediente meldete, daß angerichtet sei. »Wir müssen den Schluß unserer Partie aufschieben, Herr von Valerius. Sie machen das Spiel dem Gegner schwierig durch den häufigen Gebrauch der Springer – solch ein Springer macht seine Bewegungen mit einer regelmäßigen Unregelmäßigkeit, die schnell einen ganzen Plan umwirft.«

Der Spott war also schon artiger geworden, aber ohne Hedwigs Gegenwart wäre das Mittagsmahl doch wieder peinlich gewesen. Die Fürstin war völlig schweigsam; Stanislaus machte mehrere Versuche, in den früheren herzlichen Ton mit seinem jungen Freunde einzustimmen, aber trotz dessen Entgegenkommen gelang es nicht. Hedwig nur war unverändert in ihrer alten Heiterkeit. Einmal betrachtete sie ihren Bräutigam und Valerius aufmerksam und mit halb lachendem Gesichte und brach endlich in ein volles Gelächter und in die Worte aus: »Meine Herren, das nenn' ich Sympathie, Sie haben ja beide zerrissene Röcke an! Hier ist ein langer Ritz in der Uniform, und dort – ach, wie schade ist's um ihren blanken schwarzen Rock, Herr von Valerius!«

Diese Erinnerung an den Vorfall im Garten war eher[146] geeignet, die üble Stimmung noch zu erhöhen; der alte Graf nahm aber Gelegenheit davon, sein Glas dem Fremden hinzureichen und auf »frische Tapferkeit« anzustoßen. Dieser begriff zwar leicht, daß es auf seine zu hoffende Tapferkeit gegen die Russen gemünzt sei, aber er stieß an, um womöglich ein fröhlicheres Verhältnis zu erzeugen.

Einem aufmerksamen Beobachter der Fürstin konnte es nicht entgehen, daß sie nicht so ruhig war, als sie schien, daß zuweilen eine schnelle Röte in ihrem Gesichte aufstieg, daß sie mit ungewöhnlicher Teilnahme und Besorgnis auf den Säbelhieb blickte, den Hedwig auf des Gastes Rocke entdeckt hatte. Aber sie sprach nicht, und wenn Valerius sie anredete, und mit weicher, einschmeichelnder Stimme auf diese oder jene Weise in ein Gespräch zu nötigen suchte, so wich sie immer aus, wenn auch gewandt und höflich, aber immer kalt. Ihre schwer ruhenden Blicke, die auf dem jungen Manne weilten, so oft seine Augen nicht direkt auf sie gerichtet waren, bemerkte er leider nicht, von dem mörderischen Kampf zwischen Stolz und Liebe, der in solchen Augenblicken über ihre schönen Züge hinwegbrauste, gewahrte er nichts. Als man vom Tische aufstand, entfernte sie sich sogleich. Auch Valerius ging. »Die liebt mich nicht, ich habe früher recht gehabt, es ist ein gewöhnliches liebelustiges Weib, das eine scheinbare Vernachlässigung nicht vergibt. Still, Neigung, ungestümes Verlangen – hier ist kein Heil für mich, und morgen verlass' ich diese Stadt.« Sein Geldmangel fiel ihm ein, und unruhig und ungeduldig kam er nach Hause. Magyac übergab ihm einen Brief und eine Rolle mit Goldstücken, die angekommen waren. Der Brief war von seinem Freunde Hippolyt, vom Gelde erwähnte er zwar nichts, Valerius kannte aber seine Gleichgültigkeit und sein Mißbehagen, über Geld nur ein Wort zu verlieren, und trug dem Magyac auf, zum nächsten Morgen Postpferde zu bestellen und alles für die Abreise bereit zu halten.[147]

»O Herr, verlaß uns nicht!« bat Thaddäus.

»Ich muß, Magyac, ich muß.«

Und traurig ging Thaddäus ans Packen.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 135-148.
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