29.

[235] Der Saal war leer. Durch die dem Eintretenden gegenüberliegende Tür eilten eben noch ein paar Gestalten, wie es schien, von den beunruhigenden Gerüchten davongejagt. Valerius hörte aber dennoch deutlich die muntere, lachende Stimme Konstantiens. Er trat tiefer ins Gemach und erblickte nun einen Balkon, der auf den Garten hinaus ging, ein leichtes, flatterndes Dach von gestreiftem Stoffe beschattete ihn. Dort saß die Fürstin halb nach der Gegend, halb nach dem Saale zugekehrt, wenn sie die Augen wendete, so mußte sie gerade auf Valerius blicken, der schweigend, in ihrem Anschauen verloren, stehen geblieben war. Der weißseidene leichte Schal flatterte wieder um ihre Schultern, aber heute war er keine Freudenflagge. Vor ihr saßen zwei Männer[235] mit dem Rücken nach dem Innern des Saales. Das Gespräch zwischen den drei Personen bewegte sich in jenen kleinen französischen Kreisen um ein holdes Nichts, das die Konversation dieser Art mit zierlichen, antithetischen oder sonst kokettierenden Phrasen behängt. Es war das Spielen mit den Schalen und Hülsen der Sprache, wie sich's die sogenannte gute Gesellschaft angeeignet hatte. Da man diesen höheren Geselligkeitston zumeist aus Frankreich entlehnt hat, und er dort unter einem Regenten seine höchste Ausbildung erhielt, welcher alle Tätigkeit und Macht des Staates in sich vereinigte und jedes Mitdenken und Mitwirken der übrigen, selbst der höheren Mitglieder des Staates, ausschloß, so hat er vielleicht schon von daher diesen Charakter der Unbedeutendheit mitgebracht. Es war eine Unterordnung oder gar eine Schmeichelei gegen die Despotie, eine Konversation zu erfinden, die sich mit nichts beschäftigte und doch geistreich schimmerte. Die Bemühungen der Fronde lösten sich in Epigramme auf, und diese Epigramme zerflossen endlich in den charakterlosen Esprit. Dieser Esprit hat in Frankreich selbst mit der wiedererrungenen Selbständigkeit der Individuen schon lange den verlorenen Charakter reklamiert, die großen Beziehungen der Sprache sind dort längst wieder bis in die kleinsten Spielereien derselben zurückgekommen, aber die französierenden Ausländer treiben noch immer das alte leere Spiel mit den Glasperlen des großen Ludwig.

Valerius hörte mit Verwunderung zu, wie die geistreiche und energische Fürstin sich in solcher Unterhaltung gefallen konnte. Aber Erziehung und Gewohnheit sind bekanntlich die zweiten Schöpfer, und die schöne Frau war ganz à son aise – da fiel ihr Blick zufällig in den Saal, und sie sah den Geliebten stehen. Ein hohes Rot bedeckte ihr Gesicht, und sie erhob sich wie unwillkürlich von ihrem Sitze. Die beiden Herren sprangen erschrocken auf und fragten, – Valerius sah zum ersten Male William wieder.[236] Er war einer von den beiden. Konstantie trat rasch in den Saal. – »Wie kommen Sie hierher?« und ohne Antwort zu erwarten, setzte sie mit leiserer Stimme hinzu: »Wann bekamen Sie meinen Brief?«

»Im Angesichte des Feindes, den wir eben angreifen wollten.«

»Und der Angriff war Ihnen wichtiger?«

Die beiden Männer waren unterdes ebenfalls herangetreten, das leise Gespräch mußte aufhören, Valerius und William begrüßten sich mit einem wunderlichen Gemisch von Frostigkeit, alter Freundschaft und landsmannschaftlichem Interesse. Die Fürstin stellte Valerius dem andern Herrn vor, er überhörte den Namen des polnischen Fürsten.

Man ging im Saale auf und ab. Das Gespräch hatte ein gespanntes, zerrissenes Wesen. Valerius fühlte sich verletzt von dem stolzen, kalten Benehmen Konstantiens und setzte ihm alle schroffe Entschlossenheit entgegen, welche ihm eigen war. Nur einen Moment kam eine gewisse Wärme in Konstantiens Ton, als sie auf den Arm im schwarzen Tuche deutete und nach seiner Verwundung fragte. Um seine Anwesenheit zu rechtfertigen – denn er hätte in diesem Augenblicke selbst Konstantien nicht zugestehen mögen, daß er zum Teil ihretwegen da war – erzählte er kurz, was man in Warschau befürchte.

»Man ist nicht streng genug gegen den Pöbel gewesen,« sagte der Fürst.

»Die dreist gelösten Verhältnisse,« setzte William hinzu, »deren innere Heiligkeit der freche Geist des Jahrhunderts überspringt, rächen sich früher oder später überall.«

Valerius verging vor Pein, er schützte Befehle vor, die ihn nach Warschau riefen, und empfahl sich. Einen Augenblick schien die Fürstin bestürzt zu sein, aber der alte Stolz trat schnell wieder auf ihre Lippen, sie entließ ihn stumm und zeremoniös.[237]

Er warf sich in den Wagen, und von allerlei Qualen gemartert kam er nach Warschau. Ob es Eifersucht allein, oder auch gekränkter Stolz war, was ihn peinigte, das wußte er selbst nicht zu sagen. Die Straßen waren von Menschen erfüllt, die in der Dunkelheit des Abends drohenden Gespenstern gleich hin und her zogen. Er eilte zum alten Grafen, um vielleicht dort etwas Näheres über die getroffenen oder zu treffenden Maßregeln zu erfahren, denn daß Kasimirs Vermutungen nur zu richtig gewesen, zeigte ihm jeder Schritt. Die durch die Straße wogende Menge befand sich zwar größtenteils in einem dumpfen Schweigen, aber hier und da hörte man doch den drohenden Ruf: »Nieder mit den Aristokraten, nieder mit den Russenfreunden!« »Nieder mit den Russenfreunden!« rollte dann gewöhnlich wie eine Lawine durch die ganze Straße hin.

Er fand den alten Grafen in einer Aufregung, wie er sie nie an ihm gesehen. »Da haben Sie den patriotischen Klub,« rief er ihm entgegen, »da haben Sie die gepredigte Zügellosigkeit, das kommt von dem demokratischen Unsinn. – Kanonen, Kanonen, Kavalleriechargen gegen die Canaille: Grand Dieu, und nun ist kein Militär da, und was da ist, wird von diesem gleißnerischen Schurken, dem Krukowiecki, kommandiert! In solchem Augenblicke solch ein Gouverneur der Stadt!«

Der Graf, welcher einen Angriff auf sein Haus selbst zu fürchten schien, bat den Deutschen, dazubleiben, die Bedienten bewaffnen, postieren zu helfen, und was der Sicherheitsmaßregeln mehr waren. Valerius aber, in seiner ohnehin gereizten Stimmung durch die Ausdrücke des Grafen noch mehr verletzt, lehnte es ab. Er glaubte die vom Affekte überraschte echte Gesinnung des Grafen in dieser aristokratischen Berserkerwut und Besorgnis zu erblicken; alle die schönen Worte, welche er früher von ihm vernommen, schienen ihm jetzt angelernte Floskeln, von denen das Herz[238] des unverbesserlichen alten Adelshelden nichts gewußt habe. Ein altes schreckliches Wort Hippolyts fuhr ihm durch den Sinn: Diese Erben des alten Systems sind durch und durch infiziert und durch nichts zu heilen, sie müssen aussterben. Niemand kann sie ändern.

So ging er entrüstet von dannen, und es war ihm, als höre er einen entsetzlichen Fluch des alten Edelmannes hinter sich her. Aber er mochte es nicht glauben, daß sich ein so ausgebildeter Mann zu solcher Roheit fortreißen lasse, und schob's auf einen Irrtum, auf seine eigene erhitzte Phantasie. Die Menschenmenge auf den Straßen war zwar nicht geringer geworden, aber ihre heftige Gärung und Bewegung schien nachgelassen zu haben. Man sah sie mehr in Haufen zusammengedrängt und einzelnen Rednern zuhören, welche ihnen mit der nationalen Lebhaftigkeit die Verhältnisse auseinandersetzten. »Unsere Sache ist eine heilige,« schloß ein solcher Redner seinen Vortrag, zu dessen Gruppe der junge Deutsche eben trat, »unsere Sache ist eine heilige,« wiederholte er mit größtem Nachdruck, »und wir brauchen sie nicht zu verbergen vor dem Sonnenlichte – am hellen Tage, im Angesichte von ganz Europa wollen wir Gericht halten über die Verräter. Wie? haben wir nicht alles in die Schanze geschlagen, um die Freiheit für unser Vaterland zu erwecken? Was wüßten denn diese vornehmen Herren von der glorreichen polnischen Revolution ohne uns? Als wir unsere Köpfe gewagt hatten, als die Russen aus Warschau hinausgeworfen waren, da kamen die vornehmen Herren erst zum Vorschein. Was? Ist unser Blut nicht so rot wie das ihre, ist es nicht ebenso polnisch wie das ihre? Und wohin haben sie uns geführt? Ist der Bauer frei geworden? Ist der Russe geschlagen? Nicht doch. In wenig Tagen wird der Russe vor Warschau stehen, und seine Spione, von denen wir umgeben sind, werden ihm die Stadt verraten. Warum hängt man die Spione nicht?[239] Weil die vornehmen Herren es nicht zum Äußersten kommen lassen wollen, weil sie immer noch ein Brückchen zur Rückkehr haben möchten. – Wollen wir eine Rückkehr?«

»Keine, keine,« schrie der Haufe.

»Keine Rückkehr, ihr echten Polen,« fuhr der Redner fort, »Freiheit oder Tod! Da drüben sitzen die Verräter Jankowski und Bukowski, welche unsere Armee verraten haben. – Bleibt, meine Freunde, unsere Sache ist eine heilige, sie scheut den Tag nicht, sie sucht ihn vielmehr. – Die helle Sonne des Freiheitssommers soll unsere Rache bescheinen, morgen sollen die Verräter am hohen Mittage sterben, damit die Aristokraten erkennen, es gibt ein Volk, wenn sie sich zur Tafel setzen. Freiheit oder Tod!«

Donnernd wiederholte die Masse den Ruf, und nachdem der Redner einigen der Zuhörer noch leiser etwas mitgeteilt hatte, zerstreute sich der Haufe. Valerius sah beim Schein einer Laterne das Gesicht dessen, der eben gesprochen hatte, es war ein blasses, entschlossenes Gesicht, ein junger Mann von hoher, schlanker Gestalt. – Eine Patrouille kam die Straße entlang, und im Nu war der Redner samt allen Zuhörern verschwunden.

Die Nacht verging ruhig, und als der Morgen des 15. August anbrach, glaubten viele, das Ungewitter sei vorübergezogen. Valerius war nach dem, was er den Abend vorher gehört hatte, nicht der Meinung. Er ging zeitig aus, um dem Grafen Anton Ostrowski mitzuteilen, was er gehört. Er fand ihn nicht, alles war schon in Bewegung, es war ein Festtag, Mariä Himmelfahrt, alle Straßen waren angefüllt, ein unheilvolles Murmeln lief durch die Straßen. Valerius sah mit Entsetzen, was es heiße um einen Volksaufstand. Gerechte Klagen, törichtes, ausschweifendes Verlangen, blutdürstige Drohungen drangen in buntem Gemisch zu seinem Ohr. Wo ist die Möglichkeit, dachte er, hier aufzuklären, zu belehren, das Übertriebene vom Richtigen zu[240] sondern! Welch ein entsetzliches Mittel, gesellschaftliche Verhältnisse umzugestalten, bleibt der Aufruhr! Alle Zivilisation ist wieder dem Chaos anheimgegeben.

Graf Anton Ostrowski kam mit einer Abteilung der Nationalgarde daher. Man machte ihm Platz, ja man rief: »Es lebe Ostrowski!« Aber wenn er die Leute ermahnte, nach Hause zu gehen, den Ruf der gerechtesten Revolution nicht zu beflecken, da scholl es von allen Seiten: »Die Köpfe der Verräter! Die Köpfe der Verräter!« und sowie er mit den Truppen vorüber war, schloß sich die geöffnete Gasse wieder brausend. Die Nationalgardisten selber schüttelten den Aufrührern im Vorüberziehen die Hände; es war leicht einzusehen, daß mit dieser Macht der Aufstand nicht unterdrückt werden könne. Hoch über den Köpfen der Menge sah man hier und da Hände sich emporstrecken, welche einen Strick in der Luft schwenkten, und »Hurra! Halsbänder für Verräter! Halsbänder für Aristokraten!« schrien rauhe Kehlen von allen Seiten. Valerius bemerkte, daß der letztere Ruf seltener war, und bald erblickte er auch in seiner Nähe den gestrigen Redner, von welchem besonders die tödliche Drohung gegen die Aristokraten auszugehen schien. Der Volksaufruhr galt wirklich nur den Russenfreunden.

Ein wilder Bursche, der neben Valerius stand, fragte diesen plötzlich, warum er nicht mitrufe. »Du gehörst wohl auch zu den lauen Brüdern, die sich allenfalls mit den Russen vertragen!« Dadurch wurde die Aufmerksamkeit aller Umstehenden auf den Deutschen gerichtet, und dieser befand sich wirklich wegen einer Antwort in der größten Verlegenheit. Daß hier nicht der Ort sei, persönliche publizistische Ansichten zu entwickeln, sah er wohl ein, und doch vermochte er es nicht, in den blutdürstigen Ton einzustimmen. Ein wohlgekleideter Bürger kam ihm mit der Bemerkung zu Hilfe: »Siehst du nicht, Thomas, daß der Herr verwundet ist, die Türken werden ihm den Arm nicht zerschossen oder zerhauen haben, nicht wahr, Herr?«[241]

»Nein, mein lieber Freund,« erwiderte Valerius schnell, der sich durch diese Wendung des Gesprächs aus der peinlichen Situation zu befreien hoffte, »es hat's eine russische Kugel bei Ostrolenka getan.«

»Siehst du, Thomas, du bist immer unbändig.«

»Sachte, sachte, Meister Warçow, es haben manche verdächtige Leute unter Madame Skrzynecki gefochten, und solch eine dumme Kugel weiß den Teufel, ob sie an den Rechten kommt. Der junge Herr spricht mir auch so ein fremdes Polnisch, und ich seh's ihm an, daß ihm meine Frage garstig in die Quere kommt. Heut denken die Vögel, sie seien im Haufen am sichersten. Wer weiß auch, ob unter dem schwarzen Tuche eine Wunde steckt, und warum trägt denn der junge Herr keine Uniform, schämt er sich unserer Uniform, he?«

In dem Augenblicke brüllte wieder der ganze Haufe: »Tod den Verrätern!« und ein naher Strick flog Valerius um den Kopf. Valerius, der in einem gewissen Starrsinn nicht mitschreien mochte, obwohl er einsah, daß es am besten sei, mit den Wölfen zu heulen, und daß er durch sein Schweigen eine wirkliche Gefahr für sich herbeiziehe, sah, wie der wilde Thomas die Hand nach ihm ausstreckte, hörte, wie er mit dröhnender Stimme schrie: »Hoho, ein Verräter!«

In diesem Augenblicke aber rückte die Volksmasse mit einem mächtigen Stoße vorwärts, ein entsetzliches Gebrüll erscholl, sie machte den Angriff auf das Gefängnis der verdächtigen Generale Jankowski und Bukowski. Dadurch ward Valerius von dem wilden Aufrührer getrennt, und er hielt es nach seiner Erfahrung für rätlicher, sich aus der Menge zurückzuziehen. Da der Hauptdruck sich entfernt hatte, so war es dünner und lichter um ihn geworden, er gewann eine Querstraße und entschlüpfte. Die nächste Hauptstraße war indessen wieder mit Menschen angefüllt, und die Lesselsche Konditorei, zu welcher ihn die Woge trug, war ihm ein erwünschter[242] Posten, auf den er sich zurückziehen wollte. Der gestoßene Arm schmerzte ihn sehr, und er bemerkte es in solchem Zustande gar nicht, daß gerade vor diesem Hause das Volk in dichtester Reihe aufgepflanzt war und nur auf einen Impuls zu warten schien, um in die Tür zu dringen. Im Innern fand er alles gefüllt und drängte sich mit Mühe bis in die hinteren Zimmer, weil er dort mehr Raum und Ruhe zu finden hoffte. Hier begegnete ihm Leopold, der sich in großer Heiterkeit über diesen Volkssturm hin und her bewegte. »Man sieht doch, daß sie Blut in den Adern haben, das sind natürliche Urzustände, die Polizei hört auf, die Poesie beginnt.«

Valerius setzte sich auf den einzig leeren Platz im dunkelsten Winkel des Gemachs. Ein modisch gekleideter Mann saß neben ihm. Es war dem Deutschen, als ob er dies blasse, gedunsene Gesicht schon gesehen habe, und zwar in der Heimat. Leopold, der ab und zu ging und rapportierte, klärte ihn bald darüber auf, indem er den Nachbar anredete: »Herr von Wankenberg, Sie sind wohl krank? Ich habe Sie ja in meinem Leben nicht so blaß gesehen.«

Der Angeredete machte eine verneinende Bewegung und bat Leopold mit leiser Stimme, seinen Namen nicht so laut zu nennen. Jeder Name, der nicht polnisch klinge, setzte er hinzu, sei in diesem Augenblicke verdächtig.

»Ich glaube, Sie haben mit dem Ihrigen besonders recht,« sagte der kleine Mediziner mit der gewöhnlichen Schalkhaftigkeit, »es sind da draußen ganz fatale Sprachforscher, und wenn ich mich nicht irre, war Ew. Hochwohlgeboren werter Name auch der Gegenstand ihrer Studien.«

»Nicht doch!« stammelte Herr von Wankenberg und versuchte zu lächeln, aber die zitternden Zahnreihen ließen es nicht dazu kommen.

»Die deutschen Namen,« fuhr jener fort, »scheinen den Herren da draußen besonders unangenehm zu sein, das Wort[243] Lessel werfen sie mit allerlei mörderischen Zungenkünsten umher; wie ich aber bemerke, hat sich der ehrenwerte Besitzer dieses anstößigen Wortes den Blicken entzogen. Das ist die angeborene Höflichkeit eines Kaffeewirts, er will durch seine Gegenwart keine Veranlassung zu Mißfälligkeiten geben. Ich fürchte nur, Herr von Wankenberg, dort unter dem Ladentische, oder oben auf dem Boden ist er vor diesen gründlichen Forschern durchaus nicht sicher, sobald sie einmal ernstlich an die Entscheidung ihrer grammatischen Streitigkeiten gehen, aber sagen mir doch Ew. Hochwohlgeboren, wodurch Sie sich das Mißfallen dieser Generation zugezogen haben; es ist zwar nur Pöbel, Volk, und daher kommt es wohl.«

»Ich verehre das polnische Volk über alles,« erwiderte dieser hastig, gleich als ob ihn diese Versicherung retten könnte, »ich liebe jede Volksherrschaft, wahrhaftig, auf Ehre, ich liebe das Volk,« und dabei perlte der Angstschweiß in großen Tropfen auf seiner Stirn.

Valerius erinnerte sich jetzt deutlich dieser Person; es war in Deutschland eine renommierte Figur. Auf der einen Seite galt er für einen Spieler und für einen charakterlosen, käuflichen Menschen, der für Geld zu allem brauchbar sei; auf der andern Seite war er in der höchsten adeligen Gesellschaft aufgenommen, galt für einen Esprit, und ward als ein unterrichteter Verteidiger des russischen Systems gerühmt. Ein unparteiischer Beobachter hatte Mühe, mit diesem Menschen aufs reine zu kommen, denn bei näherem Umgange fand er ein weiches, poetisches Gemüt in ihm, das zarter, höherer Empfindungen fähig war, sich selbst in schwachen Stunden ein verlorenes Geschöpf nannte und in Tränen ausbrach. Valerius vergegenwärtigte sich jetzt alles, was er auf Grünschloß von ihm gehört hatte, wo man diesen Herrn von Wankenberg kannte; und nach dem, was er sah und hörte, schien es ihm nicht zweifelhaft, daß sich dieser Überrest aus[244] der französischen Royalistenzeit für russisches Gold auch zu Machinationen gegen Polen bereitwillig gefunden habe.

Es war ein auffallender Zug in dem Gemüte Valerius', daß er ebensowenig einem dauernden Hasse sich hingeben, als einen wirklich verächtlichen Menschen völlig verachten und wegwerfen konnte. Er klagte es oft als eine Schwäche seines Charakters an, und doch widerstrebte ein Etwas seines innersten Wesens, wenn er sich zu diesen sogenannten Kraftäußerungen der Seele anspornen wollte. Es gibt ein bekanntes Wort: »Wer nicht recht hassen kann, vermag auch nicht recht zu lieben«; aber er kam nie recht zum Glauben an diesen gebieterisch klingenden Satz. In der Forderung dieser Kraftextreme lag ihm stets eine kultivierte Roheit, und so unangenehm ihn auch die Schwächlichkeit berühren mochte, sie durfte sich nun in Taten oder Maximen äußern, so wenig konnte er sich doch den rücksichtslosen Kraftprinzipien anschließen. Alle Systeme mit starrer mathematischer Konsequenz schienen ihm der unerschöpflich mannigfaltigen, immer neu und unerwartet sich entwickelnden Menschennatur zuwider, feindlich, verderblich zu sein. Namentlich führten ihn geschichtliche Studien von allem Unbedingten zurück, und seine eigenen, früheren Ansichten flößten ihm oft ein Grauen ein vor jeder starren Einseitigkeit.

So mißfällig ihm also das erschien, was er von seinem jetzigen Nachbar wußte, so fühlte er doch eine Art Mitleid mit dem gefährlichen Zustande, in welchem sich dieser wirklich befand. Die Todesstrafe jeder Art, wie sie von Menschen über Menschen verhängt wird, hatte immer etwas Entsetzliches für Valerius; er war sich zu tief dessen bewußt, wie Moral und Gesetze und Zustände aller Art dem lebhaftesten Wechsel unterworfen seien, er hielt es immer für eine martialische Aushilfe der Gesellschaft, sich über das Leben eines Menschen das Recht anzumaßen.

Während solchergestalt die Gewitterwolke über Lessels[245] Konditorei hing und jeden Augenblick sich zu entladen drohte, schlug sie bereits mit mächtigen Streichen in die Gefängnisse der beiden verdächtigen Generale. Die Regierung war machtlos, solche Exzesse zu hindern ohne den Gouverneur, und der Gouverneur war Krukowiecki. Es ist nicht zu leugnen, daß er eine außerordentliche Tätigkeit an diesem verhängnisvollen Tage entwickelte, er war überall, und überall war er tätig. Glührot vor Zorn und Eifer stürzte er in das Zimmer, wo sich die fünf Mitglieder der Regierung versammelt hatten, und berichtete, wie der Aufstand von Minute zu Minute wachse und ein immer drohenderes Ansehen gewinne, wie die Gefängnisse der Generale bereits erbrochen seien, und er nichts hindern könne, wenn man ihm nicht größere Vollmacht erteile. Die vier Regierungsmänner machten dem fünften unverhohlen die lebhaftesten Vorwürfe über die Szenen. »Das sind die Taten des Klub,« rief Vinzenz Niemojewski, »den Sie protegieren, das ist die Manifestation Ihrer gepriesenen Demokratie.« Der lange blasse Mann, an welchen diese Worte gerichtet waren, zuckte mit einiger Schüchternheit die Achseln, und, seinen schmalen Kopf auf die Brust herabneigend, sagte er mit halber, aber wohl verständlicher Stimme: »Das ist nicht das Werk der Demokratie, meine Herren, sondern des halben, zögernden Systems, das die Regierung befolgt hat. Ich habe bisher umsonst meine schwache Stimme dagegen erhoben, jetzt sehen Sie in den Straßen der Hauptstadt selbst die Folgen davon. Übrigens glaube ich nicht« – und bei diesen Worten zog er einen Moment die Wimpern in die Höhe und fuhr mit einem seiner blitzenden Blicke an der breiten, hohen Gestalt Krukowieckis in die Höhe, bis seine tiefliegenden, stechenden Augen den verschmitzten, lebhaften Blick des Generals getroffen hatten und ihn festzuhalten schienen; man hätte hinter der Schärfe dieser vier blitzenden Pupillen bei leidenschaftsloser Betrachtung ein Lächeln entdecken können – »übrigens glaube ich nicht, daß[246] die wackere Nation jemand anders ein Leid zufügen wird, als Personen, die mit der Schmach von Vaterlandsverräterei gebrandmarkt sind.«

»Es ist Anarchie, gleichviel, wohin sie sich richte,« entgegnete zornig Niemojewski.

Lelevel, denn das war der schwarzgekleidete, blasse Mann, gegen den sich die Vorwürfe gerichtet hatten, zuckte abermals die Achseln und spielte mit den weißen, mageren Händen an der Kette seiner Uhr, die er vor sich auf dem Tische liegen hatte.

Krukowiecki erhielt die Vollmachten, eilte fort, schwang sich aufs Pferd und sprengte in die Straßen hinein. Ein wilder Tumult wälzte sich über den Platz, auf welchem der General eben ankam. Die Aufrührer waren in das Gefängnishaus eingedrungen, und jetzt schleppten sie die Schlachtopfer daher. Die Generale waren nur halb bekleidet, der Tod lag bereits auf ihren blassen Gesichtern, der Strick um die Nacken; ein mörderischer Lärm brauste durch die Luft, halb im Sprunge stürzte die zum Blutdurst erhitzte Menge nach den Laternenpfählen, die an der Häuserreihe standen, und die dem Tode Geweihten mußten die schnelle Bewegung mitmachen, wenn sie nicht sogleich von den angezogenen Schlingen erwürgt werden wollten.

General Krukowiecki, der von seinem Pferde aus die Szene übersehen konnte, strich sich wohlgefällig den grauen Knebelbart und redete leise zu einigen verwegenen Gesichtern, die sich neben ihm eingefunden hatten. Als der erste Unglückliche am Laternenpfahle zappelte, wendete er sein Roß und ritt zurück nach dem Regierungshause, den Vorfall zu berichten und neue Vollmachten zu verlangen.

Die Nachricht von der vollzogenen Exekution rannte wie ein Tier der Wüste blitzschnell durch alle Straßen, und die vor Lessels Hause noch zögernden Demagogen erhoben ein wildes Geschrei und stürzten sich nun unaufhaltsam in[247] die Türen. Wie bei allen Dingen, so vornehmlich bei einem Aufstande ist der Anfang, die erste Tat das Schwierigste, was den Entschlossensten erheischt. Die rohesten Leute sind so bis ins Innerste von der Ordnung, dem bestehenden Gesetz umschlossen, daß sie mit der größten Wut alles vorbereiten können, die Schranken zu durchbrechen, und dennoch an der äußersten Grenze unentschlossen stehen bleiben. Ist nun aber angefangen mit der wirklichen Tat, dann schwinden alle Bedenklichkeiten, der erste hat gleichsam die Verantwortung für alle übernommen, und die Wut, welche sich bei ungesetzlichen Handlungen oft so grell herausstellt, ist nur ein Kind des Rausches. Die Übertreter sind einmal über das Gewöhnliche hinausgegangen, der ungewöhnliche, gesteigerte Zustand befängt sie; was einmal mit Gefahr begonnen ist, soll nun auch erschöpft werden, damit man der etwa folgenden Strafe, auch allen Genuß vorweg abgekauft habe, alle prüfenden Gedanken werden als unbequem in den Hintergrund geschoben.

Die eindringenden Männer des Aufstandes schrien einstimmig nach Lessel, dem Spione, dem Russenhunde, wie sie ihn nannten. Er war nicht zu sehen, und nach allen Treppen hinauf und hinunter verbreiteten sich die Rachedurstigen. Daß er in ein anderes Haus entflohen sein könne, befürchteten sie nicht; am Morgen war er noch dagewesen, und kein Warschauer, sagten sie, hätte an diesem heiligen Tage der Rache einen Flüchtling verborgen.

Es war ein erschütterndes Geschrei, das in dem Hause hin und wieder flog, und Valerius, den die ganze Szene entsetzte, verwünschte den Gedanken, hier eingetreten zu sein. Ans Hinausdringen war aber nicht zu denken, die Zimmer waren so gefüllt, daß er regungslos neben dem von Todesschauern geworfenen deutschen Edelmann sitzen bleiben mußte. Leopold war durch das Gedränge von ihnen getrennt worden.

Valerius konnte übrigens schnell erkennen, daß der Aufstand keineswegs eine bloße Sache des Pöbels war. Anständig[248] gekleidete Männer, jung und alt, füllten das Gemach, nur hie und da streckten sich die braunen, nackten Arme eines rohen gemeinen Burschen oder eines alten bärtigen Tagarbeiters in die Höhe, um einem wilden Fluche gegen die Russen und ihre Freunde die nötige Gebärdenbegleitung zu geben. Die flüchtig gewechselten Worte der drohenden Gesellschaft überzeugten ihn ebenso schnell, daß man nichts wolle, als die zögernde Gesetzeshandhabung gegen die Feinde und Verräter des Vaterlandes beschleunigen. Es lag eine tödliche Ruhe des Revolutionsrechts in den wenigen Worten, die er vernahm.

»Der deutsche Spion ist im Hause,« schrie plötzlich eine durchdringende Stimme aus dem andern Zimmer, und Valerius schrak nicht viel weniger zusammen als der Edelmann neben ihm, denn er hatte diese Stimme schon gehört, obwohl er im Augenblick nicht wußte, wo. Die Stimme kam immer näher, der Rufer brach sich eine Gasse durch die Menge, und plötzlich stand der blasse Volksredner, dessen Peroration Valerius den Abend vorher auf der Straße gehört hatte, vor den beiden Deutschen. Eine sekundenlange Totenstille trat ein. Alles wartete auf die Bezeichnung des Schlachtopfers. Valerius fühlte sich von dem entsetzlichen Gefühle durchdrungen, wie das Individuum in Zeiten der Anarchie jeder Willkür des einzelnen ebenso preisgegeben sei, wie in den Zeiten eines unbeschränkten Despotismus. Wirklich richtete auch der Demagoge seine tödlichen Blicke bald auf Wankenberg, bald auf Valerius, und auf diesem sie ruhen lassend, sprach er plötzlich: »Sie standen gestern abend bei einer Gruppe Patrioten, die einem Volksredner zuhörten und zujauchzten, Ihr Mund aber blieb stumm und Ihr Gesicht drückte eine Mißbilligung dessen aus, was Sie sahen und hörten.«

Bei diesen Worten griffen jene braunen, nervigen Arme nach Valerius, und die weiter Zurückstehenden, welche die beiden sitzenden Deutschen nicht sehen konnten, erhoben einen[249] wilden Lärm: »An die Laterne, an die Laterne mit dem Verräter!« Der Volksredner drängte aber den Angreifenden zurück, und auf Wankenberg zeigend, rief er den auf der andern Seite Stehenden zu: »Greift den Spion!« Darauf wandte er sich um und verlor sich unter der Menge, gleich als habe er noch viel dergleichen Geschäfte zu verrichten und könne sich nicht mit dem Detail abgeben. Zwei junge, fein gekleidete Männer, die zunächst an dem deutschen Edelmanne standen, ergriffen ihn mit Wut, spuckten ihm ins Angesicht und warfen ihn mit den Worten: »Da habt ihr einen niederträchtigen, ausländischen Verräter für die Laterne!« den Vorderen zu. In diesem Augenblicke drang ein wütendes Hallo von der Treppe herunter, man hatte Lessel ergriffen. Eine offen stehende Tür des hinteren Zimmers, in welchem das Bisherige vorgefallen war, ließ von da aus die Treppe und den Hausflur erblicken, man sah den kleinen, magern Konditor von Faust zu Faust herunterfliegen. Dies Ereignis setzte alles in eine neue Bewegung, dadurch wurden die Personen ineinander geschoben, und in einem Handumdrehen, war keiner der Männer mehr in der Nähe, welche Wankenberg arretiert hatten. Obwohl sich alle Augen nach der bekannten und allgemein verhaßten Person Lessels hinkehrten, so wurde der deutsche Edelmann doch noch immer festgehalten, er war traditionell von einer Hand in die andere übergegangen. Er machte sich aber mit großer Geschicklichkeit den wütenden Tumult zunutze, der auf dem Hausflur ausgebrochen war, suchte ein Lächeln auf sein Todesgesicht zu heften und erklärte den Inhabern der Fäuste, welche ihn eben schüttelten, sie seien an den Unrechten gekommen. »Seid ihr des Teufels,« sagte er hastig, »einem der eifrigsten Patrioten die Kehle zusammenzudrücken! Auf diese Weise entwischen eurer Blindheit die ärgsten Verräter – dort, dort, seht hin, dort ist er wieder still auf seinen Stuhl geschlüpft und wartet die Sache ab in aller Sicherheit!«[250]

Bei diesen Worten deutete er auf Valerius.

»Strafen mich alle Heiligen,« schrie eine rauhe Stimme, »nach dem Burschen hab' ich heute morgen schon einmal die Hand ausgestreckt, ich erkenne solch einen Vogel auf den ersten Blick.« Es war der wilde Thomas, der mit blutdürstigen Augen und Händen nach Valerius griff. Dieser schlug ihn jetzt ohne weiteres ins Gesicht, daß er zurücktaumelte. Der Zorn über diese schauderhafte Wirtschaft hatte sich seiner völlig bemächtigt und alle Besorgnis vertrieben. »Schämt ihr euch nicht, Polen, eure edle Sache durch solche plumpe Tölpel zu beflecken, die Handhabung der Strafen dem Zufall preiszugeben? Ich bin Offizier im Kickischen Regimente, mein Arm ist noch wund von Ostrolenka.«

»Holla ho! das ist ein Vogel für uns, Thomas, du hast einen richtigen Treffer,« rief plötzlich eine neue Stimme, und Valerius sah den ungestümen Slodczek auf sich eindringen. Vor dem großen Lärmen waren die Verteidigungsworte des Deutschen nur den nächsten Umstehenden verständlich geworden; diese sahen ihn unschlüssig an. »Überall ist dieser aristokratische Spion herumgeschnüffelt,« fuhr Slodczek zu einigen Bauern fort, die hinter ihm standen, und zu Thomas, der sich das Blut aus dem Gesicht wischte, »in Warçows Scheuer hat er unseren Klub behorcht, erst gestern kam er wieder aus dem großen Hause eines alten, gefährlichen Edelmanns, dem er unser heutiges Fest verraten hatte, heut rettet dich der alte Florian nimmermehr,« und damit fiel er mit seinen Genossen über Valerius her, welcher sich fruchtlos gegen die Menge verteidigte und fortgeschleppt wurde.

Vor der Haustür kam er mit Herrn Lessel zusammen. Die Volksmasse drängte sich so ungestüm herbei, daß die Urteilsvollstrecker und die Gefangenen stillstehen mußten. Valerius versuchte es hier noch einmal, den Leuten in betreff seiner Person ihren Irrtum verständlich zu machen, aber das erschütternde Geschrei von Schimpfreden und Verwünschungen[251] ließ ihn nicht zu Worte kommen. »So geht es denn,« dachte er, »mit deinem Zivilisationslaufe unerwartet schnell zu Ende. Du hast die Revolution verteidigen helfen, um in ihren zweischneidigen Armen ermordet zu werden.«

Sein Blick fiel auf Lessel. Es ist wunderbar, wie dem Menschen in den entsetzlichsten Momenten, wo man die ganze Seele gefesselt und untätig denken sollte, Gedanken und Bilder entstehen, die man nur den ruhigen Lagen des Lebens natürlich glaubt. Valerius sah ein altes Bild vor Augen, das ihn oft in seiner Kindheit erschreckt hatte. Der Teufel war darauf konterfeit, wie er einen Bösewicht zur Hölle abholt. Diesen Kandidaten Urians glaubte er jetzt in Lessel zu erblicken; das Gesicht des Konditors war weiß wie die Kalkwand, die kleinen Augen waren fast ganz zurückgetreten hinter die Augenknochen, ein leerer weißer Strich starrte nur gespensterhaft hervor. Der Unglückliche sank einmal über das andere in die Knie und bat in den jämmerlichsten Ausdrücken um sein Leben.

»Vorwärts! Vorwärts!« schrie man von allen Seiten. »Platz für den Henkersgang der Verräter!« Es ward ein schmaler Raum offen, man setzte sich in Bewegung, und jetzt, da es direkt zu dem schimpflichsten Ende ging, überfiel Valerius eine unnennbare Angst, deren sich sein Mut und Verstand umsonst zu bemeistern suchte.

»Platz für die alte Gräfin! Platz für die beste Polin!« rief man auf einmal von vielen Seiten, und die meisten Anwesenden entblößten ihre Häupter. Ein Wagen rollte langsam durch die Menge, Valerius erkannte die alte Großmutter Hedwigs in ihren schwarzen Gewändern – Hedwig selbst saß neben ihr. Sie erblickte ihn, schrie laut auf, sprang aus dem Wagen, eilte zu ihm, griff nach seiner Hand. Aber seine Arme waren von Slodczek und Thomas fest nach hinten gedrückt. – »Polen, seid ihr rasend,« rief sie, an die Menge sich wendend, »dieser Mann ist einer eurer tapfersten Soldaten,[252] von untadelhaftem Patriotismus!« Ein drohendes Murren erhob sich, eine Stimme nach der andern stieg auf: »Er ist ein Verräter, ein russischer Spion!«

»Großmutter, sprich ein einziges Wort, aus deinem Munde wird es genügen, sage diesen betörten Patrioten, daß du den Herrn kennst, daß er uns, unser Vaterland verteidigt hat, daß er kein Verräter ist!«

Ein langgewachsener Bauersmann mit kurzem rotleinenem Kittel trat mit entblößtem Kopfe an den Wagen, machte eine tiefe Verbeugung und sagte: »Wenn die gnädigste Frau Gräfin ja sagen will zu den Worten der schönen Dame, so wollen wir den Verräter laufen lassen.«

Hedwig, Valerius, alle richteten ihre Blicke auf die alte Frau. Unbeweglich, steinern blieb ihr blasses Antlitz, die Augen sahen starr und teilnahmslos in die Luft, man konnte glauben, sie bemerke gar nichts von dem, was vorgehe. Ringsum war alles still.

»Großmutter!« unterbrach endlich Hedwig die Ruhe mit flehendem Tone. Da machte die Alte eine Bewegung der Unzufriedenheit mit der flachen Hand; das Volk nahm dies für ein Zeichen der Verneinung, tosend brach der unterbrochene Lärm wieder aus: »An die Laterne mit den Verrätern! An die Laterne!« und fort ging's mit den Gefangenen nach der Seite hin, von wo der Wagen gekommen war. Alles Volk stürzte nach. Der lange Bauer hatte Hedwig schnell in den Wagen gehoben, und auf der leer gewordenen Seite der Straße rollte dieser rasch von dannen.

Valerius, erbittert durch diese Szene, hatte seine Kraft im Zorne wieder gefunden. »Nichtswürdiges, undankbares Volk,« murmelte er vor sich hin und warf mit einem plötzlichen Rucke die beiden Begleiter von seiner Seite. – »Ich will frei zum Tode gehen. Ihr Schurken, soviel Recht hab' ich mir erworben durch die Schlachten, die ich für euch gefochten habe – zurück, oder ich schlag' dir den Schädel ein!«[253]

Der verwundete Arm war aus dem Tuche gerissen, das Blut lief strömend über die Hand; dieser Anblick und der stolze Ausdruck seines Gesichts, das Kriegsehrenzeichen, das beim Verschieben des Armtuches zum Vorschein gekommen war, wirkten auf seine Häscher, die vielleicht einen Augenblick selbst irre wurden. Sie ließen ihn frei einhergehen.

Er glaubte in diesen Augenblicken, der Tod selbst sei ihm nicht so furchtbar als die Schande; so sehr er auch Ruhm und Ehre oft verspottet hatte als von Menschen gemachte Puppen, so waren doch im Grunde die innersten Fäden seiner Seele daran geknüpft. Und alle Fenster waren geöffnet, Damen jung und alt sahen herab auf die Exekution, schwenkten die weißen Taschentücher, klatschten dem Volke Beifall zu, daß es die Nation von dem Auswurfe befreie und riefen: »Pfui und Schande über die Verräter!«

Das Herz im Leibe wurde dem unglücklichen Deutschen zusammengeschnürt. Das Ziel war erreicht. Wo in die große Straße eine Quergasse mündet, standen zwei tüchtige Laternenpfähle am Eingange der kleinen Gasse, so daß des Abends ihre Leuchten einen Teil der großen und die ganze Länge der kleinen Straße erhellen konnten. Diese Ökonomie wollte man sich zunutze machen, mit reißender Schnelligkeit ward Lessel aufgeknüpft, Leiter und Strick waren längst bereit gewesen. Der Scherge eines erbitterten Volkes stieg langsam die Sprossen herab und starrte wohlgefällig in das vom zurückgepreßten Blute dunkel werdende Gesicht des Konditors; die Reihe kam jetzt an Valerius, Slodczek schickte sich an dazu. Es schien, als ob das stolze Wesen ihn völlig eingeschüchtert habe, die Bewegungen des wilden Burschen hatten all ihre sonstige Entschiedenheit verloren, – da sprangen plötzlich diejenigen Zuschauer und Teilnehmer der Strafhandhabung, welche sich in den Eingang der kleinen Gasse gedrängt hatten, in die Hauptstraße zurück. »Platz für die Cholera!« hörte man rufen, und zwei jener schauerlichen[254] Tragbahren erschienen unter dem verscheidenden Lessel. Obwohl diese Pest nirgends so gering geachtet wurde als in Warschau, weil dort alles um Tod und Leben spielte, so trieb doch der Instinkt die Leute, einem solchen Ungeheuer auszuweichen, wenn es ihnen gerade in den Weg trat. Die Exekutionsordnung verschob sich, alles drängte sich beiseite, und Valerius, von der glühendsten Sehnsucht nach dem Leben erfüllt, glaubte diesen Moment zu einem Entweichungsversuche benutzen zu können. Es war wenig Hoffnung da, in der um und um aufgeregten Stadt den vielen tausend bereitwilligen Händen zu entschlüpfen, aber der Schiffbrüchige greift zu dem letzten morschen Brette. In seiner Jugend hatten noch die letzten Reste des Turnwesens in Deutschland geblüht, Laufen und Springen konnte er noch aufs beste aus jener Schule, die Todesangst verdoppelte seine Kräfte, und mit einem mächtigen Satze flog er über das im Wege stehende Cholerabett hinweg, flog in die enge Quergasse hinein.

Ein donnerndes Geschrei und die nächsten seiner Henker stürzten hinter ihm drein. Ihr Nachsetzen schien nicht so gefährlich als ihr Geschrei: »Haltet auf, haltet auf! ein Spion! ein Verräter!« Die nächste Straße war indessen still und einsam, es hatte sich alles Volk nach den Orten gedrängt, wo unmittelbar gehandelt wurde. Aber diese Einsamkeit war bald durchrannt, er mußte in eine andere Straße einbiegen, in welche soeben von mehreren Seiten ein Teil der Volksmenge eindrang, die von der Hinrichtung der Generale zurückkam. Er hörte das Geschrei hinter sich, sah, wie die neue Volksmasse stutzte und sich anschickte, ihn aufzufangen – er gab sich verloren und rannte wie wahnsinnig die ersten über den Haufen, welche sich ihm entgegenstellten.

Da donnerten die Hufschläge einer Kavallerieabteilung herbei und sprengten das Volk auseinander. Es war Kasimir[255] mit einer Abteilung Ulanen, der eben ankam, als Valerius erschöpft in die Knie gesunken war.

Jener, der mit einem Blicke und durch das Geschrei der Menge vom Stande der Dinge unterrichtet war, wendete sich rasch zu einigen Männern, deren Äußeres und Wesen andeutete, daß sie keineswegs zum Pöbel gehörten. Sie schienen dem Offizier bekannt zu sein und ihn ebenfalls zu kennen. Er rechtfertigte nicht ohne Heftigkeit Valerius und schloß mit den Worten: »Wohin soll es führen, wenn wir auf diese Weise unsere gerechte Entrüstung auch auf unsere wackersten Krieger ausdehnen – da habt ihr ein Beispiel dessen, was ich euch vorher verkündigte, als ihr auf rohem anarchischem Wege Besserung der Verhältnisse suchen wolltet. Ich habe leider recht gehabt, entfesselt sind alle Leidenschaften, und das Gute wird mit dem Bösen zertrümmert.«

Die angeredeten Männer schwiegen still, und auf ihre Handbewegungen zerstreute sich der Schwarm allmählich. Nur Slodczek, der unterdes vom Verfolgen wieder zu Atem gekommen war, wollte seine Beute nicht so leicht fahren lassen. Es hätte ihm jetzt noch klarer sein müssen, daß der Verfolgte nicht zu denen gehörte, deren Bestrafung das Volk mit Recht verlangen konnte, aber bei wilden fanatischen Gemütern ist es leider nicht selten, daß sie um so hartnäckiger auf einem Verlangen bestehen, je unstatthafter es ihnen dargestellt wird. Er rief die leinenen Kittel um sich zusammen, winkte Thomas an seine Seite und forderte mit polternder Stimme, hinter welche sich gewöhnlich ein unsicheres Gewissen versteckt, die Auslieferung des Verräters von Kasimir.

Dieser war nicht so geneigt, diese Abteilung des Aufstandes mit Worten zu beruhigen und befahl trocken einigen Ulanen, den Burschen festzunehmen. Slodczek fand es nicht geraten, den Verlauf dieser Sache abzuwarten, und sprang davon. Die leinenen Kittel folgten seinem Beispiele, aber[256] die kommandierten Ulanen begnügten sich mit diesem Erfolge nicht, sondern sprengten hinterdrein, den Wortführer im Auge behaltend.

Kasimir begleitete den erschöpften Valerius bis in die Nähe der Straße, wo dieser wohnte, erzählte ihm, daß er zur Armee abgeschickt gewesen sei, um Truppen gegen den Aufstand herbeizuholen. »Glücklicherweise,« setzte er hinzu, »kam ich mit meinen schnellen, vorauseilenden Ulanen noch zu rechter Zeit, Sie zu befreien. Schreiben Sie Ihre abscheuliche Gefahr nicht den Patrioten zu, von denen ich einige in Ihrer Nähe fand; die Absicht des Aufstandes selbst war die gerechteste von der Welt, aber wir sehen aufs neue und deutlichste, welch ein entsetzliches Mittel die Empörung ist. – Ich besuche Sie bald!«

Damit sprengte er fort. Valerius schleppte sich mühsam bis in sein Haus und rastete eine Weile auf der Treppe, wo ihn die Kräfte zu verlassen drohten. Da stürzte ein Mensch ins Haus, schoß an ihm vorüber und flüsterte: »Verbergen Sie mich, ich werde verfolgt.« Die Hufschläge von flüchtigen Pferden näherten sich. Treppe und Saal, die zu Valerius' Zimmer führten, waren dunkel, und erst als dieser dem Flüchtenden seine Tür öffnete, erkannte er – Slodcek. Dieser stürzte auf die Knie, als er des Deutschen ansichtig wurde, Sporen und Säbelscheiden klangen auf der Treppe. Valerius schob den Verfolgten in das Schlafzimmer und zog die Schlüssel ab.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 235-257.
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