5.

[23] Die Operation war glücklich vollendet. Joel lag am Ofen und. war vom Schmerz erschöpft eingeschlafen. Manasse saß neben ihm an der Erde und bewachte aufmerksam seinen[23] Schlummer. Er hatte noch immer keine Nahrung genossen und verlangte noch immer keine. Seine Augen ruhten nur auf den Zügen seines Sohnes. Es ward allmählich dunkel in dem Raume, und der schwarze, magere Alte mit der Habichtsnase, dem schwarzen Käppchen auf dem Haupte, glich in seiner zusammengekrümmten Stellung einem alten Raubvogel, welcher sein Junges hütet. Das unsicher flimmernde Licht aus den Ofenritzen erhöhte das Phantastische des Anblicks.

Der Hauswirt, welcher öfter als nötig war an der Gruppe vorüberging, fragte endlich leise Valerius, ob der Schlafende ein Verwandter Manasses sei. Bei der Antwort schwieg er. Nach einer Weile trat er an den Alten hin und sagte leise: »Ist des Rabbi Manasse Fleisch ein Krieger unter den Nazarenern?«

»Sprich nichts Unnützes!« erwiderte hastig ebenso leise der Alte, »bis dazu kommt die gelegene Zeit.«

Der polnische Bauer hatte sich unterdessen an Valerius gemacht und ihm mitgeteilt, er wolle Soldat werden, ob ihm dieser nicht sagen könne, wo er polnische Truppen fände. Valerius erkundigte sich nach seinen näheren Umständen, und der Bauer gab ihm in wenig Worten Auskunft. Er heiße Thaddäus Magiak und sei drüben aus Wawre, wo die Russen stünden. Eigentlich habe er nicht viel Lust zum Kriege gehabt, als er aber die Russen gesehen habe, da sei ihm den Groll gekommen, und er sei zur Hintertür hinausgesprungen, um die Soldaten seiner Landsleute zu suchen. »Was soll ich auch daheim,« setzte er hinzu, »Arbeit gibt es während des Krieges nicht, der Herr ist fort, den Feinden mag ich keinen Handgriff tun, und die Russen hassen wir alle. Es sind mir viel Kameraden begegnet hier herüber, die auch davongegangen sind; allein kommt aber jeder am besten durch – die Weichsel ist breit, und unsere Lanzen sind lang. Als die Moskowiter gestern zurückkamen, haben wir's wieder erfahren, – helft mir zu einer Lanze, Herr.«[24]

In diesem Augenblick stürzte der jüdische Wirt mit dem Geschrei in die Stube: »Die Russen! die Russen! Ich höre ihr Geschrei im Walde.« Im Nu hatte Manasse seinen Sohn auf den Armen und stürzte hinaus zum Wagen. Thaddäus war auch wie ein Blitz bei der Hand und zäumte den einen Gaul, der Alte schrie: »Genug, genug,« sprang auf den Wagen und wollte fort, eh' Valerius noch eingestiegen war. Der flinke Bauer riß ihm aber die Zügel aus der Hand, stieß ihn rücklings in den Wagen sprang selbst hinauf, hob Valerius zu sich, entriß dem Alten die Peitsche und jagte in den Wald hinein.

Hier hielt er still, zäumte rasch auch das andere Pferd, gab Valerius die Zügel, horchte einen Augenblick und sagte dann: »Der Jude hat nicht gelogen, das ist Kosakengeschrei. – Wohin willst du?« fragte er den Alten kurz.

Manasse nannte den Namen eines Städtchens, wo er zu Hause sei.

»Wenn die Kosaken hier sind,« erwiderte Thaddäus, »so sind sie auch längst in Eurem Orte.«

Manasse seufzte tief. Joel, der aufgewacht war, nannte das Schloß eines Grafen.

»Ich weiß,« rief Thaddäus, und fort ging's im Galopp. Es war finster geworden, der neue Kutscher schien aber des Weges vollkommen sicher zu sein; Valerius kroch aus Frost mit in den Wagen und sank in Schlaf.

Als er wachte, war es schon heller Tag, und das Fuhrwerk stand still. Manasse und Joel waren schon abgestiegen, die Pferde waren ausgespannt und Thaddäus wartete seiner, am Kutschersitze stehend. Die vernachlässigte Wunde hatte sich gerächt und machte ihm große Schmerzen, ja, als er sich aufrichten wollte, verlor er das Bewußtsein.

Da er wieder zu sich kam, fand er sich auf einem harten Bett in einem großen Gemache; die Sonne schien hell durch schmutzige Fenster, von Möbel fiel ein glänzender Sekretär[25] von Mahagoniholz in die Augen, daneben stand aber ein fichtener Schemel, und ein grober, gewöhnlicher Tisch war an das Bett geschoben. Die Decke, welche auf ihm lag, war von dunkelroter Seide und auf das sauberste gearbeitet. Man sah an allen Winkeln des Zimmers, daß es lange nicht bewohnt worden sei.

Thaddäus stand neben dem Tische und sah mit fröhlichen Augen auf den sich bewegenden und ermunternden Kranken. Valerius blickte ihn lange an, der frische Polack mit dem roten, frischen Luftgesicht war ihm eine tüchtige Verheißung der Gesundheit. Thaddäus war auch wirklich ein Repräsentant jenes schlanken und doch fleischig und saftigen polnischen Nationalkörpers, an dessen Bewegungen man überall Kraft und Geschmeidigkeit erblickt. Er mochte sechsundzwanzig bis achtundzwanzig Jahre alt sein, das lichtbraune Haar hing ihm glatt geschnitten um den Kopf, die blaugrauen Augen sahen verschlagen unter langen Wimpern hervor, ein weicher Bart, der nie geschoren sein mochte, lag auf Lippen und Kinn, und der nackte Hals sah wetterhart aus dem schmutzigen Pelze. Er sprach nicht eher, als bis Valerius ihn fragte. Dann unterrichtete er ihn, soweit er es vermochte. Sie seien auf dem Schlosse eines reichen Grafen, welchem die ganze Umgegend zugehöre. Als man gehört, daß Valerius ein Freiwilliger aus Deutschland und bei Grochow verwundet sei, habe man ihn auf das bereitwilligste empfangen. Manasse habe ihn verbunden und sei alsdann nach seinem Städtchen gewandert, um seine Habseligkeiten zu schützen. Joel sei noch da, und könne schon am Stock umhergehen; das ganze Haus lebe übrigens in großer Fröhlichkeit, weil nach allen Nachrichten und den Bewegungen der Russen kein Zweifel obwalte, daß die Schlacht bei Grochow von den Polen gewonnen worden. Er selbst – Thaddäus – sei zu Valerius' Pflege dageblieben, weil die meisten männlichen Domestiken Soldaten geworden, und weil die Wunde des Herrn aus Deutschland[26] nach Manasses Versicherung ihm bald gestatten würde, den Thaddäus mit nach Warschau zu nehmen.

Valerius konnte bald das Bett verlassen, der Graf ließ sich entschuldigen, daß er dem Gast nicht aufwarte – das Podagra fessele ihn an sein Zimmer. Er eilte ans Fenster, um sich zu orientieren. Das Schloß schien ein großes Gebäude zu sein, es war aber offenbar schlecht erhalten, der Putz war an vielen Stellen abgefallen, die Stufen, welche zum Portal führten, waren schadhaft oder fehlten ganz, die Rinnen hingen zerstört von der Traufe, auch das Dach mußte schadhaft sein, denn im Zimmer des Valerius, das sich im zweiten Stock befand, war ein Teil der Decke so mit Feuchtigkeit angefüllt, daß er jeden Augenblick herunterzustürzen drohte. Die Aussicht vom Fenster führte auf den nahen Wald. Wirtschaftsgebäude und Scheuern lagen zerstreut umher und gewährten einen unerfreulichen Anblick. Sie waren nachlässig aus Lehm gebaut und mit Stroh gedeckt. Hie und da bemerkte man große Lücken in Dach und Mauern. Die dünne Schneelage, welche alles bedeckte, schmolz eben unter der hervortretenden Sonne, und das Ganze bekam ein schwarzes, unwirtliches Ansehen.

Valerius stand mit untergeschlagenen Armen am Fenster, und ein tiefer Seufzer drang aus seinem Herzen. Er war aus Deutschland gekommen, um diesem tapferen Volke zur Erkämpfung der Freiheit seinen Arm zu leihen. Mut und Patriotismus ohnegleichen hatte er allerdings gefunden, sonst aber alles in traurigem Zustande. Hohe gesellige Kultur neben aller Vernachlässigung des häuslichen Lebensmaterials, Ehrgeiz ohne Maß und ohne Berücksichtigung der Allgemeinheit, keine Spur von deutscher Häbigkeit und Wohlfahrt. »Es ist ein ander Volk, ein ander Land,« sprach er oft zu sich, »du mußt dich einleben, es nicht nach andern Formen bemessen.« Aber froh wurde er doch nicht.

Wir glauben es nicht, wieviel äußere Freiheit wir entbehren[27] können für den zierlichen und behaglichen Herd, für die anregende und befriedigende Gesellschaft. So daß die gesellige Kultur oft mächtiger erscheint als der Drang nach Freiheit. Dies macht es auch allein erklärlich, wie ganze Völker ohne Klage in den erniedrigendsten Regierungsformen fortleben, ja sich befriedigt fühlen können.

Die Behaglichkeit eines heimlichen, hergebrachten Zustandes ist die größte Macht des Bestehenden, da immer nur der kleinste Teil des Volkes von Ideen angeregt wird und aus dem warmen Bett in die kalte Luft hinausspringt.

Joel kam herbeigehinkt und unterrichtete den Kranken über Personen, Eigentümlichkeit und Zusammenhang des Hauses.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 23-28.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das junge Europa
Heinrich Laubes gesammelte Werke: Band 1. Vorbericht und Inhaltsverzeichnis. Das junge Europa. Band 1. Die Poeten
Das junge Europa. 3 Bde. Bd.1: Die Poeten Bd.2: Die Krieger. Bd.3: Die Bürger.
Das junge Europa

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Herzog Theodor von Gothland. Eine Tragödie in fünf Akten

Herzog Theodor von Gothland. Eine Tragödie in fünf Akten

Den Bruderstreit der Herzöge von Gothland weiß der afrikanische Anführer der finnischen Armee intrigant auszunutzen und stürzt Gothland in ein blutrünstiges, grausam detailreich geschildertes Massaker. Grabbe besucht noch das Gymnasium als er die Arbeit an der fiktiven, historisierenden Tragödie aufnimmt. Die Uraufführung erlebt der Autor nicht, sie findet erst 65 Jahre nach seinem Tode statt.

244 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon