89. Ob die Menschen die Artzney-Kunst von den Thieren gelernet.

[496] Es pflegen etliche Aertzte fürzugeben / als solten wir Menschen unsere Artzeney-Kunst in vielen Stücken von den unvernünfftigen Thieren gelernet haben / welche aus angebohrner natürlicher Zuneigung zu erkennen und zu gebrauchen wissen / was ihnen gesund und nützlich ist / als 1. der Esel / wann er kranck /suche und esse Hirschzungen. 2. Die Schlangen /wann sie wieder aus der Hölen kriechen / heilen ihre verdunckelte Augen mit Fenchel. 3. Die Rebhüner und Krähen purgiren sich im Vorjahr oder Frühlinge mit Lorbeer-Blättern. 4. Die Schwalben heilen ihren geblendeten Jungen die Augen / und machen sie wiederum sehend mit Schelkraut oder Goldwurtz / und des Dinges häuffig mehr. Ist alles nur erdichtet / und alter Weiber-Geschwätz. Dann belangend das 1. so wächset die Hirschzunge an wenig Orten / und selten anderswo / dann auf hohen Klippen / oder in abgelegenen Wäldern / dahin des Müllers Esel[496] nimmer kommet. Man hat zum offtermalen unterschiedlichen krancken Eseln Hirschzungen fürgehalten / sie haben sie nich anrühren wollen. Zum 2. sind in Teutschland hin und wieder etliche tausend Schlangen / wo finden die Fenchel in abgewichenen und abgelegenen Orten? Es ist solches niemals von keinem Menschen gesehen oder erfahren. Fürs 3. wirff du den Rebhünern oder Krähen Lorbeer-Blätter für im Frühling oder sonsten /wirst bald sehen / daß es falsch sey. Wir haben ja täglich beydes bey der Hand / Rebhüner und Lorbeer-Bletter: Ist Wunder / das man so grosse Lügen schreiben darff. Letztlich zum 4. haben die Schwalben ja keine Vernunfft / daß sie wissen / ob ihre Jungen blind oder sehend seyn / sie seyn zufrieden / wann die Jungen ihre Schnäbel weit auf thun / ihnen Speise darein zu schütten / die todten werffen sie zum Nest hinaus. Uber das / so ist der Safft von Goldwurtz so scharff / daß er die Augen vielmehr verletze / als heile. Die Erfahrenheit bezeugets / wann den Schwalben und den Fincken die Augen sind verdorben oder gestochen / daß sie offtmahls von sich selber wieder genesen. Hiervon hat vorlängst der Celsus geschrieben: Wann also den Schwalben auswendig die Augen verletzet werden / so bekommen sie nach etlicher Zeit ihr Gesicht wieder / daher ist die Fabel entsprungen /daß durch Hülffe der Goldwurtz geheilet werde / was von sich selber gesund wird. Brassavolus ein glaubwürdiger / wolbekannter und sehr erfahrner Artzt /schreibet in seinem Kräuter-Examen folgende Wort: Fabelwerck ists / daß zu unser Zeit (vielleicht aus dem Dioscor,) die Leute fürgeben / wann man den jungen Schwalben die Augen aussteche /[497] (doch also /daß der Nerv nicht verletzet werde /) so heilen die Alten ihre Jungen wieder mit Schwalben-Kraut. Ich aber habe solches versuchen wollen / und 5. jungen Schwalben die Augen ausgestochen / ja auch den Nerv nicht verletzet / des andern Tages habe ich zwar die Jungen frisch und gesund gefunden / aber keine Schwalbenwurtz im Neste.


Grosse Meister geben wol Lügen für. Wer allem gläubet / wird mehrmahls betrogen. Der ist weise / der die Natur selber erforschet.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 496-498.
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