Beschluß dieses Monats.

[176] Also ist auch dieser für mich so wichtige Monat vorbey. Wie viel Leiden, wie viel Erlösung! wie viele Schwachheiten! wie viele Gnaden – was habe ich vorgeschlagen? – Lebendigeres Andenken an meinen immer nähern Tod! Mehr Ruhe, mehr Freyheit des Geistes, mehr Kindlichkeit in Absicht auf Gott. – Aber, noch immer zu sinnlich, zu träge, zu eigensinnig, zu bequem bin ich. Ich überlasse mich noch zu leicht meinen Launen und Einfällen; aus Gefälligkeit gegen andre, aus Schwachheit, aus Eitelkeit, aus Bequemlichkeit behaupte ich meinen Charakter, meine Grundsätze noch zu wenig, zu zweydeutig. Ich bin bey weitem noch nicht das, was ich in meinen Umständen, mit meinen Fähigkeiten und Kräften doch wirklich seyn könnte. Mein eigenes Ich ist noch viel zu lebendig in mir, oder mit andern Worten: meine Liebe ist noch nicht rein, nicht herzlich, nicht thätig, nicht leidend, nicht allgemein genug; – ich dürfte weder alle meine Worte hören, noch alle Gedanken und Empfindungen meines Herzens sehen lassen; fast alle Nächte erzittere ich noch vor mir und meinem eignen Herzen, wenn ich – aus allem betäubenden Geräusche herausgehoben – mich bloß vor dem Allwissenden richte ... Noch keinen Tag dieses Jahres konnte ich vollkommen mit mir zufrieden seyn;[176] und ich fordre doch keine idealische, keine unmögliche Vollkommenheit von mir; keine als die von meinem Charakter, meinen Umständen erwartet werden darf. Ich weiß, was der menschlichen Natur, und was mir möglich ist. Ich weiß es nicht aus Büchern; aus eigener, unmittelbarer häufiger Erfahrung, Gott Lob! weiß ichs. Weil ich wahre Liebe kenne, so kenne ich auch der Liebe Leichnam; das mechanische der Tugend – Ich weiß, daß unsre Empfindungen nicht immer gleich stark und lebendig seyn können – aber den stärkern, edlern, menschlichern Empfindungen nicht Raum geben wollen; sie von seinem Herzen wegzulenken suchen; mehr sinnlichangenehmen nachsinnen und nachhaschen – wenn wir mit wirklichen Einladungen zu edlern und bessern umringt sind, ach – wie will ich mirs verheelen, daß dieses nicht recht, nicht zu verantworten sey?

Nein! genug kann ich mirs nicht wiederholen: Ich muß mich üben, es mehr, es unmittelbarer mit Gott zu halten. Ich muß meinen Glauben an ihn und seine Fürsehung – durch Aufmerksamkeit auf seine Werke, seine Führungen, seine Offenbarungen, lebendiger und wirksamer zu machen suchen. – Aufmerksamkeit aber fordert Stille; – und Stille – wird durchs Gebet feyerlich – und zur Aufmerksamkeit begeisternd. Ich muß stiller, ruhiger werden. Ich bin es,[177] Gott Lob, schon zum Theil geworden; aber bey weitem noch nicht genug. Je mehr ich an Gott glaube; je anschauender ich das Unsichtbare durch die Vernunft und den Wahrheitssinn, oder auch durch das moralische Gefühl erkenne; je mehr der Allerliebenswürdigste, das unmittelbarste Ebenbild Gottes, der Innbegriff aller menschlichen und göttlichen Vollkommenheiten – Jesus Christus, meinem Gemüthe gegenwärtig, je näher er mir ist, desto lieber wird er mir seyn, desto lieber alles, was er will, was ihm ähnlich ist, was seines Geistes ist.

Meine Freunde – ob die in diesem Monate immer mit mir werden zufrieden gewesen seyn, weiß ich nicht; oder vielmehr: ich weiß es, sie sind es, aber ich verdiene es nicht. Wenigstens habe ich Ursache, es mit ihnen zu seyn; aber ganz gewiß sind sie doch noch viel zu nachsichtig gegen mich. Ich überlasse mich zu leicht ihrer Güte, und bin zu bequem, zu nonschalant, ihnen das zu seyn, was ich ihnen seyn könnte und sollte. Ich wüßte ihnen oft manches zu erzählen, oder sonst zu sagen, das ihnen angenehm, interessant, und vielleicht auch nützlich wäre; aber – ich bin zu bequem, zu träge – und wenn ichs ihnen gestehe; so kommen sie mir mit dem allzugütigen Compliment entgegen: Du heißest Müdigkeit – Trägheit – ruhe nur; rede nichts, wir sind zufrieden – bleib nur sonst bey uns[178] wem sollte das nicht schmeicheln? – Aber wen sollte es nicht zugleich aufwecken, ihre Güte mit thätiger Güte zu vergelten; und bin ich nicht im eigentlichen Sinne undankbar und niederträchtig, daß ich mich durch ihre Nachsicht so einschläfern lasse? – Es ist vielleicht ohne Beyspiel, was unsere Freunde und Freundinnen, diesen und den vorigen Monat meiner kranken Frau für Dienste geleistet haben – Ich weiß, sie wollen keinerley Art von Vergeltung, keinen Dank – aber, mit wie leichter Mühe – könnte ich ihnen so manche herzliche Freude mehr machen, als ich wirklich thue? – O verzeihet mir, liebe Seelen ... und wenn ihr einst, nach meinem Tode auch dieses Tagebuch finden, und zu dieser Stelle kommen werdet – so nehmet dieses Bekenntniß meines öftern Kaltsinnes, das ich euch schon oft gethan, und itzt mit vieler Schaam meinem Herzen vor Gott ablege, – weil ihr doch alles, auch das geringste von mir für Etwas anzunehmen gewohnt seyd – auch für Etwas an.

Ich muß noch ein paar Anmerkungen machen.

Ich habe diesen, und so viel ich weiß, den ganzen vorigen Monat, etwa eine Vorrede, oder ein Blättchen ausgenommen, keine Zeile für das Publicum geschrieben ... und ich sehe dennoch so viel angefangene, unvollendete, wie ich glaube, äußerst wichtige Werke vor mir, die ich vor die Hand nehmen sollte. Wenn[179] ich alle Tage nur eine Stunde früher, als gewöhnlich aufstehe; und das würde meiner Gesundheit nicht nur ganz unschädlich, sondern unfehlbar sehr vortheilhaft seyn; denn wirklich schlaf ich noch viel zu lange: So kann ich mit leichter Mühe so vieles nachholen, das mir sonst durch den Kopf kreuzt, mich zerstreut und beunruhigt. Wenn ich nur so viele Festigkeit hätte, dieses ins Werk zu setzen, so bin ich vollkommen überzeugt, daß ich mit jedem Tage ruhiger werden würde, wofern ich nämlich dabey zugleich die Entschlossenheit hätte, – Nichts neues anzufangen, es sey denn, daß ich einen unmittelbaren besondern Beruf dazu erhielte. Begränzen sollte ich mich mehr; nicht ausbreiten; ich könnte treffender, entscheidender – und eben dadurch mehr wirken, je weniger ich zu wirken scheinen würde ... Lieber mein Tagebuch unterlassen, oder nur mit wenigen Worten und Zeichen hingeworfen, als von dem etwas versäumt, was ich nun zu machen und zu vollenden Beruf – oder bereits ein ausdrückliches Versprechen gethan habe. Dahin will ich nicht das Gedicht von der Ewigkeit rechnen: das mag immer unvollendet bleiben – aber was ich für andere bereits übernommen habe; was immer vor meinen Augen liegt; wovon der bloße Gedanke: Es sollte gemacht seyn, und ist nicht gemacht, mich beunruhigt, mich in üble Laune, wenigstens augenblickliche hineinwirft; in eine[180] ähnliche Empfindung stürzt, als den Schuldner überfallen muß, wenn er seines Gläubigers ansichtig wird – das sollte nach und nach vorgenommen, davon wöchentlich etwas abgethan werden.

Zu diesen beunruhigenden Gedanken, die meiner Tugend, meiner Geistesfreyheit, Ruhe, Freudigkeit, Energie so offenbar nachtheilig sind, kommt noch die Unordnung in meinen Briefschaften und Manuscripten; die ich nun aber ohne weitern Aufschub, so gut wie möglich aufzuheben, und durch eine beßre Einrichtung fürs künftige zu verhüten suchen werde. Wenn ich nur mit dieser weitläuftigen, ermüdenden, aber für mich und andere, und insonderheit für mein Herz und meine Tugend äußerst wichtigen Arbeit nicht aussetze, nicht müde werde, bis sie vollendet ist!

In diesem Monate hat sich meine liebe Frau von ihrer gefährlichen und schmerzhaften Krankheit wieder vollkommen erholet – und auch die Beschwerde an meiner Backe, die mir bald peinlich genug hätte werden können, hat sich gänzlich verloren; ich preise dich auch dafür besonders, allsegnender Vater – und danke dir noch mehr, als für diese Errettung – für die sanfte Zufriedenheit, womit du am Ende des vorigen, und am Anfange des gegenwärtigen Jahres unter einigen schweren Prüfungen, mein Herz erfülltest – wirklich schien es mir, daß ich zu jeder Resignation bereit[181] gewesen sey. Nicht stolz war ich deswegen; aber eine stille Freudenzähre entfloß mir, da ich so stark an dich glaubte – daß ich keinen Willen mehr hatte, als den deinigen.

Dieser Monat ist mir besonders durch den Tod meiner Mutter wichtig. Einen Menschen sterben zu sehen – wer, als ein Leichtsinniger, kann hierbey gleichgültig seyn? und wenn dieser Mensch unter allen Menschen auf dem Erdboden der war, mit dem wir im allergenausten Verhältnisse stehen, der mit vielen guten und liebenswürdigen Eigenschaften, so viele Menschlichkeiten auch mit unterlaufen seyn mögen, noch das verbindet, daß er uns – zum Theil sein eignes Leben mitgetheilt hat – was für einen tiefen Eindruck sollte sein Hinschied auf uns machen! ... Ich habe ein zartes, empfindliches Herz – und dennoch ist mir der Tod meiner Mutter, die eine so vorzügliche Liebe zu mir hatte, nicht sehr tief zu Herzen gegangen. Ich suchte mich zwar damit zu beruhigen, daß die großen Beschwerden, und die fast unerträglichen Schmerzen, von denen sie durch ihren Tod erlöset worden, die Ursache meiner mir selbst so überlästigen Kaltsinnigkeit seyn; allein, wenn ich auch gleich dieses in Anschlag bringen will; so hätte ich mich dennoch bey einem solchen – in seiner Art ganz einzigen Vorfalle, mehr dem Nachdenken überlassen sollen! Mehr das Gute übersehen, und mir vorzählen sollen, daß mir die väterliche[182] Güte Gottes durch sie mehr als 30 Jahre lang schenkte. Ich hätte ihre unläugbar guten Eigenschaften und ihre Verdienste um uns, deren Andenken doch so oft in mir aufstieg, mehr hervorziehen, und den Meinigen anpreisen sollen; das hätte, ohne Schaden für irgend ein anderes nützliches Geschäffte, oft und leicht genug geschehen können. Ich überließ mich zu sehr der wollüstigen Ruhe, die aus der Freyheit von den drückenden Gedanken an ihre Leiden, die mir oft auch mehr nur Empfindlichkeit und bloße Nervenleidsamkeit, als wahre Zärtlichkeit zu seyn scheinen wollten – entsprang. Vielleicht wirkte auch die stille Ahndung mehrerer Freyheit mit. Kurz, mein Ich war auch in diesem Falle noch zu lebendig1[183] Ich bin mir noch zu sehr Absicht, Ziel, Augenmerk, Mittelpunkt. Und das ist doch einmal unwidersprechlich die Hauptquelle aller meiner Unruhe. Je weniger ich in mir lebe; desto mehr leben andre, lebt[184] die Liebe, lebt die Gottheit in mir ... dieses sage ich nicht andern nach. Ich habe es erfahren. Ich weiß es, so gewiß ich weiß, daß ich gesunder bin, wenn ich nicht zu viel esse, als wenn ich unmäßig bin .....

Diese stillen Betrachtungen, Vater der Wahrheit – o möchten sie mich dir und meiner völligen Freyheit von der Sünde, die mir um und um anliegt, näher bringen! – Möchte ich mehr auf dich, und weniger auf Menschen sehen – mehr hören und weniger reden; mehr lernen und weniger lehren! mehr glauben, um mehr zu lieben – Amen.

Fußnoten

1 Hüte dich, christlicher Leser, das, was der Verfasser hier und bey andern Gelegenheiten von dem allzugroßen Einflusse sagt, den die Rücksicht auf ihn selbst in seine Empfindungen und Handlungen habe, zu mißbrauchen oder falsch zu verstehen. Lerne Selbstliebe und Eigenliebe wohl von einander unterscheiden, und verdamme nicht jene zugleich mit dieser. So strafbar diese ist, so unschuldig ist jene. Von meinem Ich oder von mir selbst habe ich die unmittelbarste klarste Empfindung: alle übrige Dinge, die außer mir find, sind mir fast nicht anders bekannt als in so weit sie in gewissen Verhältnissen gegen mich stehen. Welch eine unnatürliche, und welch eine vergebliche Bemühung würde es denn nicht seyn, wenn ich mich selbst gleichsam vergessen oder nach dem Ausdrucke einiger sogenannten Mystiker mein Ich tödten wollte? Nein, auch die heiligste Moral kann und darf mit unsern natürlichen Empfindungen und Neigungen nicht streiten: sie soll dieselben nur gehörig einschränken und ihnen die beste Richtung geben. Wir können nicht immer unmittelbar und mit Absicht gemeinnützig denken und handeln; aber wir können niemals an unsrer eigenen wahren Vollkommenheit und Glückseligkeit arbeiten, ohne zugleich dadurch die Vollkom menheit und Glückseligkeit anderer mittelbarer weise zu befördern. Bloß für sich und in sich, und bloß für andere und in andern leben und glücklich seyn wollen, sind beydes Abwege, vor welchen wir uns hüten müssen: jenes ist niederträchtige Eigenliebe, dieses ist unmögliche und unnatürliche Uneigennützigkeit. Der Tugendweg liegt auch hier in der Mitte. Anmerk. des Herausgebers.


Quelle:
Lavater, Johann Kaspar: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773, S. 185.
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