Den 19. May 1773.

Liebe.

[275] Liebe, was bist du, o Liebe; wer aller Liebenden spricht je

Deine Herrlichkeit aus?

Geben, belehren, erfreun, erquicken, helfen und warnen,

Soll das Liebe schon seyn?

Oder dem Feinde verzeihn, dem Hasser wohlthun, dem Flucher

Segen mit Thränen erflehn?

Oder verarmen dem Freund, und ohne sein Wissen ihm sterben,

Ist dieß Liebe vielleicht?

Völkerelend ergreifen und auf die Seele sich bürden

Jedes Menschengeschlecht?

In die Himmel hinauf und in die Tiefe der Tiefen

Schwingen und stürzen sein Herz?

Mitentzückung im Himmel und mitverworfen im Abgrund

Jedes Jeglichen seyn;[275]

Leben in andern nur, wie das Herzensblut in den Gliedern,

Ist dieß Liebe vielleicht?

Red', antworte mir, Liebe! du schweigst und lächelst, dein Lächeln,

Himmlische Liebe, was sagt's?

Alles in Allen bin ich, bin unaussprechlich wie Gott ist,

Unerreichbar wie Er.


Quelle:
Lavater, Johann Kaspar: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773, S. 275-276.
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