Montag der 18. Jenner 1773.

[141] Der Begräbnißtag meiner Mutter.


Ich erwachte um 6 Uhr, und ermunterte mich mit Gellerts: Meine Lebenszeit verstreicht etc. Ich war entsetzlich träge, und bloß – athmend, als wenn ich keine Seele hätte, lag ich eine Weile da. Der Gedanke an meinen abwesenden Bruder, der nun die Nachricht von dem Tode unserer Mutter vernommen haben, und unfehlbar die bittersten Thränen darüber vergießen würde, – der erweckte mich zum empfinden; zum Gebete für ihn und für mich.

– – – – Ich gieng zu meinem Vater; ... Ein schwerer Tag für ihn; ich wollte ihn vorläufig bereden, daß er zu Hause bleiben möchte, wenn das Wetter, wie es den Anschein hatte, zu schlecht wäre. Er wollte aber nichts davon hören. Er hieß mich aus Weißens Gebettuch das tägliche Morgengebet beten. Einige dunkle Ausdrücke, bey denen ich nur zu gewiß war, daß sie nicht verstanden würden, zerstreuten mich ein wenig ... Nach dem Gebete gieng ich noch zum Sarge, den man aus dem Alcoven heraustrug, und in den Hausgang stellte. Ich deckte das Tuch ab, und vergoß eine kindliche Zähre ... wir ließen[141] ihn noch nicht zuschrauben, weil sie, die Mutter, es auch so mit allen ihren Todten gehalten.

– – – Ich schrieb am heutigen Tagebuche. Man ließ mich zum Frühstücke rufen ... Fast bis zu Freudenthränen gerührt war ich bey der niedlichen Gruppe: Meine liebe Frau im Bette, der kleine Heinrich zu ihrer Linken bey ihr – Nettchen in dem Kinderstuhle auf zween Sesseln vor dem Bette. Sie gab beyden Suppe ... Geschwind nahm ich Bleystift und Papier, und entwarf das Familienstück mit ein paar Strichen ... »Aber Eines, sagte meine Frau lächelnd, vergissest du – Es gehört auch dazu, und hat mit uns Freude ... Nun war meine Freude vollkommen ... Gott segne euch ihr Lieben! der Freudengeber ... Gott ... Gott segne euch« ... Geschwind eilte ich, nachdem ich mein Frühstück genommen, diese Scene mir unvergeßlich zu machen. Es ist gar zu süße, sich an dergleichen Auftritte zu erinnern, besonders wenn sie auf solche Tage fallen, die sich noch durch andere Umstände in unserm Leben auszeichnen.

Ein Billiet an S. nsbctdiskgs. – – – Bey der Tante, die ich besuchte, sprachen wir – von Andachtsbüchern, und Treschos Sterbebibel, die offen auf dem Tische lag. Ich blätterte und las, wo aufgeschlagen war ... Ich urtheile sehr ungern von Schriften dieser Art; ich darf fast keine empfehlen und keine verwerfen. Es ist grausam, einem Kranken ein[142] Buch zu verleiden, aus dem er Trost und Erbauung schöpft; und doch auch sehr bedenklich, ein Buch zu empfehlen, welches so viel dunkle, verworrne, unevangelische, manchen Mißdeutungen ausgesetzte Dinge enthält, und überhaupt nicht in dem gesunden, heitern, männlichen Tone des Geist und Herz zugleich erhebenden Evangeliums geschrieben ist – und doch daneben auch sehr viel Gutes und Vorzügliches enthält, das vielleicht allen besorglichen Schaden überwiegt. – Aber, welches ist vollkommen? Allemal gerathe ich in Verlegenheit, wenn ich diese Frage beantworten soll. Alle die Bücher, die ich in gewissen Absichten mit guter Ueberzeugung empfehlen kann, als z.E. Tobler, Spinkes, ein paar Liedersammlungen, die Unterhaltungen der ascetischen Gesellschaft sind dennoch bey weitem das nicht, was man bedarf und will, und was immerfort sowohl erleuchtet als erwärmet. Es sind so viele Dinge, die sich die wenigsten Kranken mit Nutzen können vorlesen lassen; so viel Untreffendes, oder gar zu Speciales, oder in einer dem Kranken zu fremden oder zu bekannten und geläufigen Sprache. Für Leute, die des Lesens gewohnt sind, sind sie größtentheils vortrefflich – aber unter hundert Kranken sind nicht zween geübte. Man sollte kein Gebet, kein Lied für einen Kranken, keine Betrachtung für ihn publiciren, bis sie sich am Krankenbette bewährt, und[143] wenn ich so sagen darf, bis zum Anpassen abgeschliffen hat. Ich habe schon verschiedene aufgesetzt, und die wenigsten ganz brauchbar gefunden. Auch in dieser Absicht soll ich Gott um Weisheit bitten.

Ich bekam ein Billiet von einem Buchbinder: etwas unwillig über die vermeyntliche Indiscretion, mich an diesem Tage zu bemühen, sagte ich beym Eröffnen: »Hat er denn nicht eher Zeit gehabt, als eben heute! –« Es war aber eine Entschuldigung, daß er nicht zum Leichenbegängnisse kommen könnte; seine Frau sey krank; sogleich änderte ich den Ton und schämte mich ein wenig ... Mittagsessen. Von der lieben Mutter Gleichgültigkeit auf dem Krankenbette gegen alle öconomische Angelegenheiten; von den Geistlichen bey den Sterbebetten; von der Gabe des Herrn Pfr. N. mit Kranken und Sterbenden umzugehen ...

Nach dem Essen gieng ich, um doch eine halbe oder Viertelstunde mich dem Getümmel zu entreissen, in die untere Stube, wo ich ganz einsam war; erst schrieb ich ein wenig am Tagebuche; dann ...

Man machte den Sarg zu. Ich gieng hinab. Sie war noch ganz unverstellt; die Zeichnung ihres Gesichtes schöner und bestimmter, als ich sie in ihrem Leben jemals wahrgenommen habe. Ich legte meine Hand noch einmal ... zum letztenmal auf ihre kalte[144] Stirne ... Mein Bruder stund stille mit nassen Augen an der Seite, ich oben am Sarge; meine älteste Schwester neben mir – und nun verschloß man – Noch einmal schob ich den Deckel zurücke, da die andern weg waren – und nun schraubte man ihn zu; ich stützte mich auf den Sarg, der im Hinterhause auf einem Tische stand ... und dankte Gott mit Thränen für alles Gute, das er mir durch meine in ihm nun ruhende Mutter erzeigt hatte ... ach! wie vielmehr hätte ich ihrs vergelten können ... Vergilt du Erbarmer, und thue, was ich nicht mehr thun kann – Vergieb! Sie hat auch vergeben! ... Das war mein erster Gedanke, und mein zweyter ... »Wann wird man meinen Sarg zuschrauben? wann werden meine Frau, meine Freunde, meine Geschwister um meinen Sarg herumstehen? und was werde ich dann seyn, wenn sie also um mich herum stehen?«


Mein Engel maß mir schon den Ort in Gottes Garten,

Wo mich Verwesungen in tiefer Nacht erwarten;

Vielleicht ist schon der Baum zu jenem Sarg gefällt,

In dem den Meinem mich der Tod zur Seite stellt ...[145]

Mit ihnen auszuruhn, mit ihnen zu erwachen ...

Was Gott unsterblich schuf, wird er nicht sterblich machen.


Man trug den Sarg hervor; bedeckte ihn mit einem weißen und schwarzen Tuche; jeder Nabel, womit man sie aufheftete, gieng der Gedanke nach ... wieder ein Schritt ferner von mir ... So wirst du einst bedeckt werden ...

– – – – – Ich gieng in die Versammlung der Leidtragenden, war still und nachdenkend; aber man sprach von den allergleichgültigsten Dingen; ... traurig gieng ich zwischen den schwarzen Tüchern die Treppe hinunter und starr wie ein Stein – stund ich vor dem Hause; das Wetter war schlecht ... Man brachte die Leiche zum Hause heraus – fast weinte ich vor Unwillen darüber, daß ich bey einem Anblicke von dieser Art nicht aus Liebe weinte. Die Betäubung aber war leicht zu erklären. Ich suchte mich übrigens so wenig wie möglich zu zerstreuen. Ich betete so gut ich konnte in der Kirche und beym Heimgehen.

– – – Bey dem Nachtessen sprach man von der Mutter Krankheit, vom Sterben; von Gerichte nach dem Tode; ... der Gedanke kam mir immer und immer wieder ... »Wir alle ... und dann wandelte mein Blick[146] von einem zum andern ... jedes von uns wird einst an einer Krankheit oder plötzlich, entweder vor mir, mit mir, oder nach mir sterben ... und wie wird dann dem Sterbenden, dem Gestorbnen, den Ueberlebenden zu Muthe seyn! ... Ich betrachtete ein Auge um das andere ... du wirst einst brechen; du dich einst schließen; nicht mehr sehen, und nicht mehr gesehen werden ... sagte ich leise bey mir selber zu jedem – und dann folgte der tiefe Seufzer: O Gott öffne mir doch die Augen, zu sehen, was ich bin, und was aus mir werden soll.« – Wir beteten die Lieder aus der Zollikoferschen Sammlung: Herr, ich hab' aus deiner Treu etc. und, Warum erbebst du meine Seele etc.[147]

Quelle:
Lavater, Johann Kaspar: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773, S. 141-148.
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