Sonnabend der 27. Februar 1773.

[203] Ich erwachte um 6 Uhr, lag mit müder und schwerer Brust noch bis um 7 Uhr unter mancherley guten Gedanken, Empfindungen und stillen Seufzern im Bette. Insonderheit giengen mir die Waisenkinder und die meinigen durch den Kopf. Ich stund um 7 Uhr ruhig auf, und da ich beym Anblicke der verschiedenen Geschäffte, die ich heute vornehmen und abthun sollte, in Unruhe und verdrüßliche Laune kommen wollte, setzte ich mich gleich hin, ein Verzeichniß von allem zu machen, und dann eins nach dem andern mit möglichster Ruhe zu besorgen. Ein Mittel, das mir schon oft zur Besänftigung und Aufheiterung gedient hatte. Ich fieng also ganz gelassen bey der Durchsicht eines Predigtbogens an; schrieb an Herrn Brenner in Basel einen ziemlich weitläuftigen Brief über ein Büchelchen, Weg zum Heil. Das Facit meines Urtheils war: »So wenig ich mir ein gutes Arzneybuch, oder eine gute Anweisung zur Gesundheit gedenken kann, worinn kein Wort von der Gesundheit steht, oder, worinn die Gesundheit nicht als der Hauptzweck zum Grunde gelegt wird, so wenig kann ich das Buch ein seinem Zwecke nach gutes Buch heißen, das als ein Weg um Heil angesehen[203] sehen seyn will, und von der Liebe, als der wahren einzigen Gesundheit und Seligkeit des Menschen, nicht immer, als von der Hauptsache redet, so viel Gutes es sonst auch neben ein enthalten möchte.«

Frau Z. kam mit einem Aufsatze von ihrem Manne, der beweisen sollte, daß Paulus in der Epistel an die Hebräer auf römische Gebräuche anspiele. Ich las ihn, weil sie da war, sogleich durch, um nichts aufzuhäufen. Alles kam mir äußerst gezwungen, und – am Ende – wenn er auch recht hätte – äußerst unwichtig vor. Ich schrieb ihm dieses in einem Billiet, – und empfand die Nothwendigkeit, auf eine andre Beschäfftigung für den redlichen, und sonst verständigen und gelehrten Mann bedacht zu seyn, weil ich wohl sahe, daß er sich sonst von seiner Meynung nicht würde abbringen lassen. Nachher schrieb ich noch ein Billiet an Herrn Ströhlin; ein Briefchen an Hasencamp, »daß ich die Recension seiner Oratiuncula in den Frankfurter Anzeigen für eine Satyre auf den Recensenten ansehe, und es für den Hauptfehler dieser sonst feinen und gelehrten Kunstrichter halte, daß sie sich nicht die Mühe nehmen sich in die Gesichtspunkte der Verfasser zu setzen.« –

Eine arme Frau von W. kam – sich von mir in der Religion unterrichten zu lassen; »sie wollte ein anderes Leben führen.« – – O Gott, wie wenig bin ich noch der Mensch,[204] der mit Kraft und Licht jeden – auch den schwächsten soll zu dir führen! Allemal erschrecke ich, ungeachtet ich mich allemal freuen sollte, so oft ich solche Personen vor mir sehe ... Ich redete indessen so gut mit ihr als ich konnte, und mir däuchte, daß sie doch wenigstens etwas davon verstanden und aufgefaßt hatte. Noch eine andere Frau kam, dem Scheine nach, in ähnlichen Absichten; – ich machte noch mein Tagebuch, und so war der ganze Morgen ordentlich und ruhig vorbey gegangen. – Ueber dem Mittagsessen sprachen wir von Münzsachen; – von dem vielen Unglücke und Leiden eines unserer Freunde. – Ich nahm weniger Antheil daran, als ich hätte thun sollen, und konnte mir doch die Ursache davon gar nicht angeben. Ob das viele Elend, die mannichfaltige Noth, davon ich täglich hören muß, mich vielleicht gewissermaßen abhärtet, oder weniger empfindlich macht? Ich bin mir wenigstens in dem gegenwärtigen Falle nicht der mindesten weder mittelbaren noch unmittelbaren Leidenschaft bewußt. –

Ich berichtigte noch eine Summe Geldes im Namen meines Vaters für Arme, zog mich an, um dem Anlaufe zu entgehen, ward aber noch bis um 3 Uhr aufgehalten. Ich gieng in Schh. las ein paar Briefe auf Pf. Pult; er gab mir ein Billiet von einem verständigen Manne zu lesen, die Schrift von S. betreffend. »Ich ließ mich durch einige vorgegangne[205] Erzählungen – und durch die vorangeschriebne Anmerkung unsers lieben Herrn D.L. in das übereilte Vorurtheil hinreißen: dieser Mann müsse ein completer Fanatiker seyn; allein, da ich den ganzen Traktat, wiewohl mit eilenden Augen, durchlesen, so muß ich gestehen, daß ich mich verpflichtet halte, mein Urtheil zurück zu nehmen, ihn dem Herrn, und dessen allein guten und getreuen Führung und Bewahrung vor Abwegen – – innigst zu empfehlen, und indessen in Gedult abzuwarten, was es mit dieser seiner außerordentlichen Führung ferner für einen Fort- und Ausgang nehmen werde.« Ich trage dieses Billiet zu meiner Belehrung hier ein. Wirklich bin ich noch zu voreilig im Urtheilen, wiewohl ich mich täglich befleißige und übe, es immer weniger zu seyn. Innigst freute mich diese sanfte brüderliche Art zu urtheilen – und es freute mich, daß es mich freute, ungeachtet ich mich schon so entscheidend über diesen Mann herausgelassen hatte.

Man sprach von den bevorstehenden Kriegsrevolutionen. Ich fühlte mich dadurch aufs neue erweckt, es im Ernst mit Gott zu halten, hauptsächlich auch in Rücksicht auf so manche leidende und bedrängte Brüder. – Nun konnte ich ganz einsam und ruhig an meiner Predigt über die Verantwortung der Apostel vor dem hohen Rathe zu Jerusalem (Geschichtb. V, 17-42.) fortschreiben. Es gieng mir leicht[206] und fließend .... NB. NB.!! +e h

Sonnabend der 27. Februar 1773O ethi gOn + z ittern + iethet e ic hgD ettl icheOO srnOng enan. – Ich hatte den Husten stark ... auch dieses war mir Erinnerung und Warnung!

Unter dem Schreiben an der Predigt fielen mir folgende Zeilen bey, die ich sogleich aufschrieb:


Bist du nicht besser, Gott, als ich;

So kann ich dich nicht lieben!

Und bist du besser, Gott, als ich,

Wie sehr mußt du mich lieben!


Um 7 Uhr gieng ich bey sanftem Mond- und Sternenscheine über den Graben heim. Süße Schauer von der Majestät des Unendlichen zitterten durch mich – aber eine Kleinigkeit, die ignes minores des Horaz, die mir beym Anblicke der Sterne beyfielen, entführten mich einige Augenblicke in critische Gegenden. – Ich war aber bald wieder bey mir. Als ich nach Hause kam, blieb ich eine Weile bey meinem Vater – schrieb noch an der Predigt. Ueber dem Nachtessen vom Kriege. Wir lasen im 2. Buche der Könige das 10. Kapitel. Eindruck machte auf mich die Stelle: Doch hielt Jehu nicht, daß er von seinem ganzen Herzen im Gesetz des Gottes Israels wandelte. Ueberhaupt gefällt mir das zweydeutige, falsche, doppelseitige in dem Charakter dieses Mannes gar nicht. Welch ein Gemische von Herrschsucht, und Falschheit, und[207] Gottesfurcht und Religionseifer. Ach! Herr! Läutere, vereinfache mich immer mehr; daß alle meine Gedanken und Wünsche und Handlungen immer mehr auf Eines, auf die reine Liebe deiner in allen Menschen, deiner in Jesu Christo zielen.

Als wir auf unsere Stube kamen, hörten wir unsern Kleinen laut schreyen. Wir giengen in die Kammer. Er war halb im Schlafe, und wußte nicht, warum er schrie. »Es ist der leibhaftige Vater!« sagte meine Frau. Dieses habe ich schon manchmal bemerkt, gezittert schon manchmal bey dem Gedanken – »wenn er so schrecklich viel von Träumen leiden muß, wie ich – und wenn er an die ungeheuern Abgründe von Zweifeln kommen muß, an die ich gekommen bin – O Herr Jesu, was wird er leiden müssen! Aber! Gott hat mir bis hieher so unaussprechlich väterlich geholfen! – Wird er nicht auch meines Sohnes Gott seyn, wie er mein Gott war –? –«[208]

Quelle:
Lavater, Johann Kaspar: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773, S. 203-209.
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