Erster Gesang: Allgemeines Lob des menschlichen Herzens; Summe des ganzen Gedichtes

[249] Gepriesenstes von Allem, was die Sprache

Der Erdensöhne sang! Dich wählt mein Lied

Dich, Menschenherz! Für Dich besayt' ich meine

So lange nie berührte Leyer, suche

Den Goldklang, welcher Dir geziemt, du Wunder

Der Schöpfung! Kern der Menschenbrust! Du Eins

Voll Unausdenkbarkeit! Des Lebens Quelle!

Du, des Bewußtseyns Sitz! Du liebend Leben!

Du Welt der Welten! Herz! Du Innbegriff

Der Wirklichkeiten all'! Die Tief' und Höhe

Vereinigt sich in Dir! Es findet jeder

Erhabne Himmelsfürst in Dir sich selbst!

Es findet sich die Gottheit selbst in Dir!

O Menschenherz! Geheimniß! Offenbahrung!

Der Menschheit Ruhm! Du Krone des Geschlechtes,

Dem keines gleicht! Du Urkraft aller Kräfte!

Der Gottheit gleich, verborgen und gewiß!

Ein unermeßlich Reich, gedrängt von Reichen,

Die unermeßlich sind! Du unerforschtes!

Du innig Nahes, Fernes, Allbekanntes,

Das tausend Namen nicht, das zehentausend

Nicht nennen! Du, dir niemals gleiches Selbst!

Du Eins und Alles! Lied der Lieder Du!

Gesang der Sänger all', an deren Stirne

Ein Strahl des Urlichts brach, auf deren Scheitel

Die Hand des Genius, die Weyherinn

Zu ewigen Gesängen, segnend ruhte!

Wem gab der Himmel je nur Eine Sayte,

Die nicht für Dich erklang? Doch, welcher[249]

Der Sterblichen vermißt sich je zu sagen:

»Ich sang das Menschenherz«!


Wie zahllos sind des Mayenthaues Tropfen!

Des Frühlings Blumenheer' und Halm' und Blätter!

Doch, größer, Menschenherz, ist deiner Kräfte

Unausforschbare Zahl! Der Pfade sind

Und Höh'n und Tiefen mehr in Dir als Pfade,

Als Höh'n und Tiefen sind, als Flüß' und Bäche

Du zeigst und birgst, o baumgeschmückte Erde!

Ich sehe mehr der Krümmungen in Dir,

Als aller Ströme, die aus fernen Öden

Durch Städte sich und Länder, Thal' und Felder

Ergießen! Labyrinthe viel! Wie schrecklich,

Zu schau'n der tiefen Unabsehbarkeit!


Ich wende mich, ihr Labyrinth' und Tiefen!

Am Eingang schon verlischt die Fackel mir.

O wendet, wendet euch, ihr reinen Blicke,

Mit Licht und Tag vertraut! Kein Faden leitet

Hinein, hinaus! Dich sing' ich nicht, verkehrtes,

Verworfnes Menschenherz, ohn' Licht und trugvoll.

Nur schnell geworfne Züge, bebend nur,

Wird selten zwahr mein Lied zu zeichnen wagen,

Daß Schatten nicht dem lichten Bilde fehle.

Ein böses Herz entsagt der Menschheit Namen;

Ich mag nicht dein! Nicht quäle sich mein Herz,

Dich zu beschau'n! Vergött're du dich selbst

Und zaubre dir Satane her zu Sängern!

Du magst die Stimmen leih'n zum Wuthgesange,

O Abgrund, wo bey Bosheit Bosheit brüllt!

Gieb zum Gemähld', o Hölle, Farben her!

Ihr Eisgebürge, die kein Sonnenstrahl

Zerfließen macht, die kein Jahrhundert schmelzt!

Ihr leiht dem Bild und Liede Todeskälte!

Ich weile nicht, ich trett' und schmettre nieder!

Dich sing' ich, Menschenherz, der Menschheit Ehre!

Der Menschlichkeit und eines Gottes froh[250]

Und reiner Geisterwelt und lichter Zukunft!

Dich, edles Herz, allein des Namens werth,

Besingt entzückt mein heiliger Gesang!


O Menschenherz! Allmächtiger als Alles!

Bezwingst du nicht die Herrscherinn Vernunft?

Und führt ein Pfad zu ihr so schnell wie Du?


O Menschenherz! Bist Du nicht Meisterinn

Der Königinn von zehen andern Kräften?

Beherrschest Du nicht die Verrätherinn

Von ihr, die allverrufne Phantasie,

Die jeder Weisheit, jeder Jugend Larve

Sich vorzuhalten weiß, die Allgestalterinn,

Die nie noch hoch genug gepriesne Mittlerinn,

Ach! ohne die der Mensch nichts schönes kennt –

Die nie genug verfluchte Zaubrerinn,

Die Heuchlerinn von Dir? Bezwingst du sie

Nicht schneller stets, als die Vernunft sie zwingt?


Genie des Herzens! Dir ist kein Genie gleich!

Du bist, so schwach Du bist, ein Held durch Liebe!

Dein Muth verachtet tief Gefahr und Leiden!

Vor deinem Blicke schwinden Schrecknisse!

Die Mitternacht wird Tag! Ein Thal die Höhe;

Gebürge sinken Dir zu breiten Bahnen!

Gestirne selbst entfliehen unter Dich –

Du dringst in Höh'n, die nie kein Flug erreicht!

In Tiefen hin, wo der Gedanke nur –

Den Finger auf dem Mund – entfernt und bebend

Dir nachschaut. Allso dringt krystallne Fenster

Der Stral hindurch und läßt die Luft zurücke.


Quelle:
Johann Kaspar Lavater: Ausgewählte Werke.Band 3, Zürich 1943, S. 249-251.
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