Der Besuch

[849] Einsam in weithin unwirtbaren Gauen

Im Wald wird eine Herberg angetroffen;

Des müden Wandrers stundenlanges Hoffen,

Wie freut er sich, wenn endlich sie zu schauen!


Schon ist es Nacht, das Haus umsaust der Wind,

Drin sitzen Vater, Mutter, Ahn und Kind

Und Knecht und Dirne am Kamin beisammen

Und werfen derbe Scheiter in die Flammen,

In kalter Winternacht geborgen heiter,

Denn willig brennen fort die harzigen Scheiter.


Die Mutter bringt manch Märlein auf die Bahn,

Von Fee und Ritter, Glück und Abenteuer,

Die andern horchen auf, nur nicht der Ahn;

Der kauert dicht und sinnet still am Feuer,

Umstörend in Erinnerungen, alten,

Ob er schon einen Winter solcher Art

Erlebt, wie dieser jetzt auf Frankreich starrt;

Doch keinen denkt er je so grimmig kalten.


Horch! noch so spät, bei solchem Frost, Besuch?

Es pocht an unsre Tür, was mag es geben?

Verrat und Häscher, um uns aufzuheben?

Ists Theodor der Meister, mit dem Buch?


Er ists, er tritt herein ins warme Zimmer,

Doch grüßt er nicht, verstört, so scheints, von Leid;

Er setzet sich, da taut des Reifes Schimmer

Und fließt herab von seinem Winterkleid.


Das Eis von Bart und Wangen niederfeuchtet,

Ins Antlitz scheint das Feuer und beleuchtet

Abscheu und Zorn, entsetzenvolle Trauer;[849]

Und alle faßt um ihn ein banger Schauer,

Wie er ins Feuer starrt, vom Frost gerüttelt,

Vom Aufruhr in der Seele wild geschüttelt.


Lang saß er schweigend so, in sich versunken;

Da plötzlich greift er in die Brust und nimmt

Das Buch und wirft es in die Glut ergrimmt,

Daß in die Stube spritzen helle Funken,

Und ruft: »Unselig Buch! du magst verbrennen!

Aus dir die Menschen eine Bosheit holen,

Wie nicht die Tiger in der Wüste kennen;

Samt meinem Glauben magst du hier verkohlen!

's ist aus! nie ist ein Gott gewallt auf Erden,

Der Mensch im Zorn muß selbst Messias werden!«


Er schweigt und starrt; der Ahn, der greise, frägt:

»Was wirfst du, Tor, die Bibel in die Glut,

Die du so oft, so gern uns ausgelegt?

Was hat so schlimm verwandelt deinen Mut?«


Und Theodor entgegnet: »Alter, höre!

Vergib, wenn ich den letzten Traum dir störe.

Es ist so furchtbar kalt seit dreien Tagen,

Daß tot die Vögel fallen aus den Lüften

Und auf den Schnee wie Steine niederschlagen,

Es frieren schier die Toten in den Grüften,

Was noch lebendig ist, das flieht und hastet

Und keinen Augenblick im Freien rastet;

Ins Herz hinunter stockt der Brunnenquell,

Die Wölfe heulen um ein zweites Fell,

Aufberstend kracht die eisgesprengte Kiefer;

Hart hat der Tod die Erde angepackt;

Zu zittern schien mir Christ am Kreuz, so nackt,

Zur Hölle kriecht hinein der Teufel tiefer.

Er mags; hat er doch manchen Pfaffenmann,

Auf den er sich indes verlassen kann.[850]

Bei solchem Frost hat man – wem sei's geklagt? –

Verbannt die Unsern und hinausgejagt.

Der Bischof ließ sie spüren, ließ sie greifen,

Die Häuser, drin sie übernachtet, schleifen.

Der edle Meister Gerhard sprach in Mitte

Der Priester laut: 'Schuldlos ist unsre Sitte!'

Er sprach im Richtersaal, nein, Tigerstalle:

›Ich bin Apostel, Christen sind wir alle!‹

Das frommte nichts; hinaus in Sturm und Schnee,

Und schweigend trugen sie das bittre Weh.


Hülflose Nacht, es drückt das bange Weib

Umsonst ihr Kindlein an den armen Leib;

Nicht kleckt der Mutterhauch, es warm zu halten,

Verzweifelnd fühlt sie's an der Brust erkalten.


Sie irren in der Schneenacht hin und wider

Und sinken endlich müde, schläfrig nieder;

Sie schlafen ein, und stille wird ihr Schmerz,

Erbarmend legt die Nacht sich an ihr Herz

Und saugt ihm leis unspürbar aus der Wunde

Das Leben aus, wie Gift, mit kaltem Munde.

Ich habe schaudernd im Vorübergehen

Sie dort beisammen liegen sehen.«

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 849-851.
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