Erste Szene

[76] Die Schule. Läuffer. Marthe, ein Kind auf dem Arm.


MARTHE. Um Gotteswillen! helft einer armen blinden Frau und einem unschuldigen Kinde, das seine Mutter verloren hat.

LÄUFFER gibt ihr was. Wie seid Ihr denn hergekommen, da Ihr nicht sehen könnt?

MARTHE. Mühselig genug. Die Mutter dieses Kindes war meine Leiterin; sie ging eines Tags aus dem Hause, zwei Tage nach ihrer Niederkunft, mittags ging sie fort und wollt auf den Abend wiederkommen, sie soll noch wiederkommen. Gott schenk ihr die ewige Freud und Herrlichkeit!

LÄUFFER. Warum tut Ihr den Wunsch?[76]

MARTHE. Weil sie tot ist, das gute Weib; sonst hätte sie ihr Wort nicht gebrochen. Ein Arbeitsmann vom Hügel ist mir begegnet, der hat sie sich in Teich stürzen sehen. Ein alter Mann ist hinter ihr drein gewesen und hat sich nachgestürzt; das muß wohl ihr Vater gewest sein.

LÄUFFER. O Himmel! Welch ein Zittern – Ist das ihr Kind?

MARTHE. Das ist es; sehen Sie nur, wie rund es ist, von lauter Kohl und Rüben aufgefüttert. Was sollt ich Arme machen; ich konnt es nicht stillen, und da mein Vorrat auf war, macht ich's wie Hagar, nahm das Kind auf die Schulter und ging auf Gottes Barmherzigkeit.

LÄUFFER. Gebt es mir auf den Arm – O mein Herz! – Daß ich's an mein Herz drücken kann – Du gehst mir auf, furchtbares Rätsel! Nimmt das Kind auf den Arm und tritt damit vor den Spiegel. Wie? dies wären nicht meine Züge? Fällt in Ohnmacht; das Kind fängt an zu schreien.

MARTHE. Fallt Ihr hin? Hebt das Kind vom Boden auf. Suschen, mein liebes Suschen! Das Kind beruhigt sich. Hört! was habt Ihr gemacht? Er antwortet nicht: ich muß doch um Hülfe rufen; ich glaube, ihm ist weh worden. Geht hinaus.


Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Band 2, Stuttgart 1965–1966, S. 76-77.
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