Erste Szene


[261] Hagedorn spaziert einsam herum und pfeift zum Zeitvertreib Liederchen.


HAGEDORN. Wie wird mir die Zeit so lang, Gesellschaft zu finden.


Setzt sich an eine schwarze Tafel und malt einige Tiere hin.


LAFONTAINE der mit einigen andern Franzosen hinter einem Gitter auf dem Chor sitzt, bückt sich über dasselbe hervor und ruft indem er in die Hände patscht. Bon! bon! cela passe!


Tritt herein ein schmächtiger Philosoph, ducknackigt, mit hagerem Gesicht, großer Nase, eingefallenen hellblauen Augen, die Hände auf die Brust gefaltet. Bleibt verwundernd Hagedorn gegenüber stehen ohn aus seiner Stellung zu kommen. Auf einmal erblickt er Lafontainen, kehrt sich weg und tritt in den Winkel um nicht gesehen zu werden. Nach einer Weile kommt er

mit einigen Papieren voll Zeichnungen hervor, die er sich vor die Stirne hält. Hagedorn läßt die Kreide fallen, eine Menge Menschen umringen und bewundern ihn, der Haufe wird immer größer, er verzieht seine sauertöpfische Miene und sagt mit hohler Stimme und hypochondrischem Lachen.


Was seht ihr da? – Wenn ihr mir gute Worte gebt, mal ich euch Menschen.


Gleich drängen sich verschiedene die sein frommes Aussehen dreist macht zu ihm, unter denen ein großer Haufe alter Weiber und zutätiger Mütterchen. Er wendt sich um – und flugs steht eine von ihnen auf dem Papier da, die er darnach vorzeigt. Da geht ein überlautes Gelächter von einer und ein Geschimpf von der andern Seite an.


ALTES WEIB. Der Gotteslästerer! Er hat keinen Glauben,[261] er hat keine Religion, sonst würd er das ehrwürdige Alter nicht spotten. Es ist ein Atheist.


Bei diesen Worten fällt Gellert auf die Knie und bittet um Gotteswillen man soll ihm das Bild zurückgeben, das man ihm schon aus den Händen gewunden hat, er wolle es verbrennen.


EINIGE FRANZOSEN hinterm Gitter. Oh l'original!

MOLIÈRE sich den Stutzbart streichend. Je ne puis pas concevoir ces Allemands là. Il se fait un crime d'avoir si bien réussi. Il n'aurait qu'à venir à Paris, il se corrigerait bien de cette maudite timidité.


Herr Weiße, einer aus dem Haufen, sehr weiß gepudert, mit Steinschnallen in den Schuhen, läuft schnell heraus und nimmt sich ein Billet auf die Landkutsche nach Paris.

Gellert unterdessen dringt durch den Haufen zu seinem Winkel, wo er sich auf die Knie wirft und die bittersten Tränen weint. Auf einmal fängt er an geistliche Lieder zu singen, worauf er am Ende in ein gänzlich trübsinniges Stillschweigen verfällt, als ob er ein schwer Verbrechen auf dem Gewissen hätte. Ein Engel fliegt vorbei und küßt ihm die Augen zu.


EINE STIMME. Redliche Seele! selbst in deinen Ausschweifungen ein Beweis, daß eine deutsche Seele keiner unedlen Narrheit fähig sei.


Als er stirbt.


DIE FRANZOSEN. Il est fou. Am äußersten Ende des Gitters Rousseau auf beide Ellbogen gestützt. C'est un ange.


Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Band 2, Stuttgart 1965–1966, S. 261-262.
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