Dritter Brief

[284] Herz an Rothen

der dem Boten weiter nichts als einen Zettel mitgegeben, auf dem mit Bleistift geschrieben war: Herz! Du dauerst mich!


Ich danke Dir für Dein zuvorkommendes Mitleid. Das Pressende und Drückende meiner äußern Umstände preßt und drückt mich nicht. Es ist etwas in mir, das mich gegen alles Äußere gefühllos macht.

Du hast vermutlich erfahren, daß mein letztes Geld,[284] das ich aus der Stadt mitgenommen, mir von einem schelmischen Bauren gestohlen worden, der die Zeit abpaßte, als ich unten war, Brot zu kaufen. Aber wozu sollte mir auch das Geld? Wenn ich Mangel habe, gehe ich ins Dorf, und tue einen Tag Tagelöhners Arbeit, dafür kann ich zwei Tage meinen Gedanken nachhängen.

Ich bin glücklich, ich bin ganz glücklich. Ich ging gestern, als die Sonne uns mitten im Winter einen Nachsommer machte, in der Wiese spazieren, und überließ mich so ganz dem Gefühl für einen Gegenstand der's verdient, auch ohne Hoffnung zu brennen. Das matte Grün der Wiesen, das mit Reif und Schnee zu kämpfen schien, die braunen verdorrten Gebüsche, welch ein herzerquickender Anblick für mich! Ich denke, es wird doch für mich auch ein Herbst einmal kommen, wo diese innere Pein ein Ende nehmen wird. Abzusterben für die Welt, die mich so wenig kannte, als ich sie zu kennen wünschte – o welche schwermütige Wollust liegt in dem Gedanken!

Beständig quält mich das, was Rousseau an einem Ort sagt, der Mensch soll nicht verlangen, was nicht in seinen Kräften steht, oder er bleibt ewig ein unbrauchbarer schwacher und halber Mensch. Wenn ich nun aber schwach, halb unbrauchbar bleiben will, lieber als meinen Sinn für das stumpf machen, bei dessen Hervorbringung alle Kräfte der Natur in Bewegung waren, zu dessen Vervollkommnung der Himmel selbst alle Umstände vereinigt hat. O Rousseau! Rousseau! wie konntest du das schreiben!

Wenn ich mir noch den Augenblick denke, als ich sie das erstemal auf der Maskerade sah, als ich ihr gegenüber am Pfeiler eingewurzelt stand und mir's war, als ob die Hölle sich zwischen uns beiden öffnete und eine ewige Kluft unter uns befestigte. Ach wo ist ein Gefühl, das dem gleich kommt, so viel unaussprechlichen Reiz vor sich zu sehen mit der schrecklichen Gewißheit, nie, nie davon[285] Besitz nehmen zu dürfen. Ixion an Jupiters Tafel hat tausendmal mehr gelitten als Tantalus in dem Acheron. Wie sie so stand und alles sich um sie herdrängte und in ihrem Glanze badete, und ihr überall gegenwärtiges Auge keinen ihrer Bewunderer unbelohnt ließ. Sieh Rothe, diese Maskerade war der glücklichste und der unglücklichste Tag meines Lebens. Einmal kam sie nach dem Tanz im Gedränge vor mir zu stehen, als ich eben auf der Bank saß, und als ob ich bestimmt gewesen wäre, in ihren Zauberzirkel zu fallen, so dicht vor mir, daß ich von meinem Sitz nicht aufstehen konnte, ihr meinen Platz anzutragen, denn die Ehrfurcht hielt mich zurück, sie anzureden. Diese Attitüde hättest Du sehen und zeichnen sollen, das Entzücken, so nah bei ihr zu sein, die Verlegenheit ihr einen Platz genommen zu haben, o es war eine süße Folter, auf der ich diese wenige glückliche Minuten lag.

Wo bin ich nun wieder hineingeraten, ich fürchte mich alle die Sachen dem Papier anvertraut zu haben. Heb es sorgfältig auf, und laß es in keine unheiligen Hände kommen.

Herz.

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Band 1, Stuttgart 1965–1966, S. 284-286.
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