Achtes Kapitel

[377] Scipio kehrt nach Madrid zurück. Wie und unter welchen Bedingungen er Gil Blas die Freiheit erwirkte. Wohin sie zusammen gingen, als sie den Turm von Segovia verließen, und welche Unterhaltung sie miteinander führten


Scipio brach nochmals nach Madrid auf, und während ich auf seine Rückkehr wartete, begann ich zu lesen. Tordesillas lieferte mir mehr Bücher, als ich wollte. Er lieh sie von einem alten Kommandanten, der nicht lesen konnte, der aber, um sich das Ansehn eines Gelehrten zu geben, eine schöne Bibliothek besaß. Ich liebte vor allem die guten Werke über die Moral, denn in ihnen fand ich fortwährend Stellen, die meiner Abneigung gegen den Hof und meinem Geschmack an der Einsamkeit schmeichelten.

Drei Wochen lang hörte ich nichts von meinem Vermittler; schließlich aber kam er zurück und sagte lustig: Diesmal, Herr von Santillana, bringe ich Euch gute Nachricht! Die Frau Amme interessiert sich für Euch. Ihre Dienerin ist auf meine Bitte und für hundert Pistolen, die ich ihr zugewiesen habe, so freundlich gewesen und hat sie gedrängt, den Prinzen von Spanien um Eure Freilassung zu bitten. Der Prinz, der ihr, wie ich Euch schon oft gesagt habe, nichts abschlagen kann, hat versprochen, den König, seinen Vater, darum zu ersuchen. Ich bin herbeigeeilt, um es Euch zu sagen, und kehre sofort zurück, um die letzte Hand an mein Werk zu legen. Mit diesen Worten verließ er mich, um nochmals den Weg nach Madrid einzuschlagen.[377]

Seine dritte Reise dauerte nicht lange; nach acht Tagen sah ich ihn schon wieder, und er teilte mir mit, der Prinz habe, nicht ohne Mühe, vom König meine Freiheit erlangt. Das wurde mir noch selbigen Tages vom Burgherrn bestätigt, der mich umarmte und zu mir sagte: Mein lieber Gil Blas, dem Himmel sei Dank, Ihr seid frei! Die Tore dieses Kerkers stehen Euch offen; aber nur unter zwei Bedingungen, die Euch vielleicht schmerzlich sein werden, die ich Euch aber mitteilen muß. Seine Majestät verbietet Euch, Euch bei Hofe zu zeigen, und befiehlt Euch, die beiden Kastilien innerhalb eines Monats zu verlassen. Es tut mit sehr leid, daß man Euch vom Hofe verbannt. Und ich bin sehr erfreut darüber, erwiderte ich. Gott weiß, was ich vom Hofe halte. Ich erwarte vom König nur eine Gnade, und er hat mir zwei Gnadenbeweise gegeben.

Da ich also sicher war, nicht mehr Gefangener zu sein, ließ ich zwei Maultiere mieten, die wir, mein Vertrauter und ich, nachdem ich Cogollos Lebewohl gesagt und Tordesillas für all seine Freundschaftsbezeigungen tausendmal gedankt hatte, am Tage darauf bestiegen. Lustig schlugen wir die Straße nach Madrid ein, um unsre beiden Säcke, in deren jedem fünfhundert Dublonen waren, beim Herrn Gabriel abzuholen. Unterwegs sagte mein Gefährte: Wenn wir nicht reich genug sind, um ein großartiges Gut zu kaufen, so können wir wenigstens ein erträgliches haben. Und hätten wir nur eine Hütte, erwiderte ich, ich wäre mit meinem Schicksal zufrieden. Obgleich ich kaum die Mitte meines Lebens erreicht habe, fühle ich mich der Welt müde, und ich will nur noch für mich selber leben. Außerdem will ich dir sagen, daß ich mir von den Freuden des Landlebens eine Vorstellung mache, die mich bezaubert, so daß ich sie schon im voraus genieße. Mir scheint, ich sehe den Schimmer der Wiesen schon, höre die Nachtigallen singen und die Bäche murmeln; bald glaube ich, mich den Freuden der Jagd, bald denen des[378] Fischens hinzugeben. Stelle dir all die verschiedenen Genüsse vor, mein Freund, die in der Einsamkeit auf uns warten, und du wirst wie ich entzückt sein. Und was unsre Kost angeht, so wird die einfachste die beste sein. Ein Stück Brot muß uns genügen können, wenn uns der Hunger bedrängt: der Appetit, mit dem wir es essen, wird es uns köstlich machen. Die Wollust liegt nicht in der Güte auserlesener Gerichte, sie liegt ganz in uns. Und das ist so wahr, daß die Mahlzeiten für mich nicht die köstlichsten waren, bei denen Überfluß und Leckerei herrschten. Die einfache Lebensweise ist eine Quelle des Genusses und von wunderbarer Wirkung auf die Gesundheit.

Mit Eurer Erlaubnis, Herr Gil Blas, unterbrach mein Sekretär, ich bin in betreff der sogenannten Einfachheit, die Ihr mir bescheren wollt, nicht ganz Eurer Meinung. Weshalb sollen wir wie Diogenes leben? Wenn unsre Kost nicht so schlecht ist, werden wir uns darum auch nicht schlechter befinden. Glaubt mir, da wir, Gott sei Dank, die Mittel haben, uns unsern Zufluchtsort angenehm zu gestalten, so wollen wir ihn nicht zum Aufenthalt des Hungers und der Armut machen. Sobald wir ein Gut gefunden haben, müssen wir es mit guten Weinen versehen und mit allen andern Vorräten, die sich für Leute von Geist gehören, denn sie geben den Verkehr mit den Menschen nicht auf, um auf die Annehmlichkeiten des Lebens zu verzichten, sondern vielmehr, um sie in größerer Ruhe zu genießen. Was man in seinem Hause hat, sagt Hesiod, schadet nicht; wogegen, was man nicht im Hause hat, schaden kann. Es ist besser, fügte er hinzu, die notwendigen Dinge zu besitzen, als nur zu wünschen, daß man sie besitze.

Zum Henker, Herr Scipio, unterbrach ich ihn meinerseits, Ihr kennt die griechischen Dichter! Ei! wo habt Ihr mit Hesiod Bekanntschaft geschlossen? Bei einem Gelehrten, erwiderte er. Ich habe in Salamanca eine Zeitlang bei einem[379] Schulfuchs gedient, der ein großer Schriftenerläuterer war. Er schrieb im Handumdrehen ein dickes Buch. Er setzte es aus hebräischen, griechischen und lateinischen Zitaten zusammen, die er den Büchern seiner Bibliothek entnahm und ins Kastilische übersetzte. Da ich sein Abschreiber war, so habe ich ich weiß nicht wie viele bedeutende Aussprüche behalten, ähnlich dem, den ich eben zitierte. Dann, versetzte ich, habt Ihr ein wohlversehenes Gedächtnis. Aber, um auf unsern Plan zurückzukommen, in welchem Königreich Spaniens sollen wir unsern Philosophensitz suchen? Ich stimme für Aragonien, erwiderte mein Vertrauter, dort werden wir reizende Orte finden, wo wir ein köstliches Leben führen können. Nun, sagte ich, meinetwegen; bleiben wir bei Aragonien; ich stimme zu. Mögen wir dort einen Aufenthalt finden, der mir alle Genüsse verschafft, an denen meine Phantasie sich sättigt.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 377-380.
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