Fünftes Kapitel

[280] Welchen Entschluß Gil Blas nach seiner Verabschiedung faßt. Durch welchen Zufall er den Lizentiaten trifft, der ihm so viel verdankte, und wie dieser sich erkenntlich zeigte


Als ich den Salon verließ, fluchte ich der Laune, oder besser, der Schwäche des Erzbischofs; ich war mehr erzürnt als betrübt, daß ich seine Gunst verloren hatte. Ich war sogar eine Weile im Zweifel, ob ich meine hundert Dukaten erheben sollte; aber nach reiflicher Überlegung war ich nicht so dumm, es nicht zu tun. Ich sagte mir, dies Geld könnte mich[280] nicht des Rechts berauben, meinen Prälaten lächerlich zu machen; und ich gelobte mir, das nie zu versäumen, wenn man in meiner Gegenwart von seinen Predigten spräche.

Ich erhob also bei dem Schatzmeister hundert Dukaten, ohne ihm ein Wort von den Vorgängen zwischen mir und meinem Herrn zu sagen. Dann suchte ich Melchior de la Ronda auf, um ihm auf ewig Lebewohl zu sagen. Er liebte mich zu sehr, als daß er an meinem Unglück nicht Anteil genommen hätte. Als ich es ihm erzählte, sah ich den Schmerz auf seinem Gesicht. Aller schuldigen Achtung zum Trotz konnte er sich nicht enthalten, den Erzbischof zu tadeln; aber als ich in meinem Zorn schwur, der Erzbischof sollte mir dafür zahlen, die ganze Stadt sollte auf seine Kosten lachen, da sagte der verständige Melchior: Glaubt mir, mein lieber Gil Blas, verschluckt Euren Kummer lieber. Gewöhnliche Menschen müssen die Leute von Stande immer achten, wie sehr sie sich auch über sie zu beklagen haben. Ich gebe zu, es gibt recht flache Edelleute, die kaum verdienen, daß man Rücksicht auf sie nimmt; aber sie können einem schaden, und man muß sie fürchten.

Ich dankte dem alten Kammerdiener für seinen guten Rat und versprach, ihn zu befolgen. Dann sagte er: Wenn Ihr nach Madrid geht, so sucht meinen Neffen Joseph Navarro auf. Er ist Oberkoch bei dem Herrn Don Baltasar de Zuniga, und ich kann Euch sagen, er ist Eurer Freundschaft wert. Er ist offen, lebhaft, dienstbereit, entgegenkommend; ich möchte, daß Ihr Bekanntschaft schlösset. Ich erwiderte, ich würde nicht verfehlen, sobald ich wieder in Madrid sei, diesen Joseph Navarro aufzusuchen. Dann verließ ich den erzbischöflichen Palast auf immer. Hätte ich noch mein Pferd gehabt, so wäre ich vielleicht sofort nach Toledo aufgebrochen; aber ich hatte es zur Zeit meiner Gunst verkauft, da ich es nie wieder nötig zu haben glaubte. Ich beschloß, mir ein möbliertes Zimmer zu mieten, um noch einen Monat in Granada zu bleiben und dann den Grafen von Polan aufzusuchen.[281]

Als die Mittagsstunde nahte, fragte ich meine Wirtin, ob ein Gasthof in der Nähe sei. Sie nannte mir einen dicht bei ihrem Hause, wo man gut bedient werde und wo viele vornehme Leute verkehrten. Ich ging dorthin. Ich kam in einen großen Saal, der aussah wie ein Refektorium. Zehn bis zwölf Leute saßen an einer langen Tafel, auf der eine unsaubere Decke lag, und unterhielten sich, während jeder seine kleine Portion verzehrte. Man setzte mir meine vor, und zu andrer Zeit hätte ich mich ihr gegenüber zweifellos nach der Tafel zurückgesehnt, die ich verscherzt hatte; aber ich war so erzürnt auf den Erzbischof, daß mir das einfache Mahl in meiner Herberge lieber war als seine vortreffliche Tafel.

Während ich meine Mahlzeit einnahm, trat der Lizentiat Luis Garcias, der auf die oben geschilderte Art Pfarrer von Gabia geworden war, in den Saal. Sowie er mich sah, kam er beflissen herbei und begrüßte mich, oder vielmehr er bezeigte überschwengliche Freude. Er drückte mich an die Brust, und ich mußte lange Komplimente über den Dienst anhören, den ich ihm geleistet hatte. Er ermüdete mich durch seine Dankbarkeitsbezeigungen. Er setzte sich neben mich und sagte: Oh, gottlob! mein teurer Gönner, da mein gutes Glück mir diese Begegnung verschafft, so wollen wir nicht auseinandergehn, ohne etwas getrunken zu haben. Aber da es in dieser Herberge keinen guten Wein gibt, so werde ich Euch, wenn Ihr erlaubt, nachher an einen Ort führen, wo ich Euch eine Flasche ganz herben Luzeners und köstlichen Muskatellers aus Foncaral vorsetzen werde. Wir müssen diese kleine Ausschweifung begehen: weigert mir, bitte, diese Genugtuung nicht.

Während er mir diese Rede hielt, brachte man ihm seine Portion. Er begann zu essen, doch hörte er darum nicht auf, mir von Zeit zu Zeit etwas Schmeichelhaftes zu sagen. Ich ergriff jedoch die Gelegenheit der Pausen, um jetzt meinerseits zu reden; und da er nicht vergaß, mich nach seinem[282] Freund, dem Haushofmeister, zu fragen, so machte ich ihm kein Geheimnis daraus, daß ich den erzbischöflichen Palast verlassen hatte. Ich erzählte ihm sogar die geringsten Einzelheiten meines Abschieds, die er aufmerksam anhörte. Wer hätte nach allem, was er mir eben gesagt hatte, nicht erwartet, daß er, von erkenntlichem Schmerz durchdrungen, den Erzbischof gescholten hätte? Aber daran dachte er keineswegs; im Gegenteil, er wurde kühl und nachdenklich und beendete sein Mittagessen, ohne noch ein Wort zu mir zu sagen; dann stand er plötzlich auf, grüßte mich eisig und verschwand. Der Undankbare ersparte sich, als er sah, daß ich ihm nicht mehr nützen konnte, selbst die Mühe, mir seine Empfindungen zu verbergen. Ich lachte nur über seinen Undank, und indem ich ihm mit aller verdienten Verachtung nachsah, rief ich laut genug, daß er es hören konnte, hinter ihm drein: Holla, ho! züchtiger Almosenpfleger der Nonnen, geht und laßt den köstlichen Luzener kühlen, zu dem Ihr mich eingeladen habt!

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 280-283.
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