Fünftes Kapitel

[89] Fortsetzung des Abenteuers. Gil Blas gibt die Heilkunde auf und verläßt Valladolid


Als wir Camillas Haus verließen, beglückwünschten wir uns zu dem Erfolg, der unsre Erwartung übertraf, denn wir hatten nur auf den Ring gezählt. Weit davon entfernt, uns den Diebstahl an den Kurtisanen zum Vorwurf zu machen, glaubten wir, ein verdienstliches Werk getan zu haben. Meine Herren, sagte Fabricio, als wir auf der Straße waren, sollen wir nach einem so schönen Handstreich auseinandergehn, ohne uns mit dem Glas in der Hand darüber zu freuen? Ich denke nicht, und ich bin dafür, daß wir in unsre Schenke zurückkehren und uns die Nacht hindurch gütlich tun. Morgen werden wir Leuchter, Halsband und Ohrgehänge verkaufen und das Geld brüderlich unter uns teilen; dann wird ein jeder nach Hause gehn und sich, so gut er kann, bei seinem Herrn entschuldigen. Der Gedanke des Herrn Alguasil schien uns allen sehr verständig.

Wir ließen ein gutes Nachtmahl anrichten und setzten uns mit so viel Appetit wie Übermut zu Tisch. Die Mahlzeit wurde mit tausend heiteren Reden gewürzt; vor allem Fabricio unterhielt die Gesellschaft sehr. Aber als wir gerade im lautesten Lachen waren, wurde unsre Freude plötzlich durch ein unerwartetes und höchst unangenehmes Ereignis gestört. In unser Zimmer trat ein recht stattlicher Mann, dem zwei sehr verdächtige folgten. Nach ihnen erschienen noch drei, und wir zählten ihrer zwölf, die nacheinander zu dritt auftauchten. Sie trugen Stutzen, Degen und Bajonette. Wir sahen bald, daß es Schergen waren, und ihre Absicht war leicht zu erraten. Wir hatten erst Lust, Widerstand zu leisten, aber sie hatten uns im Nu umringt und hielten uns durch ihre Zahl wie auch durch ihre Feuerwaffen im Schach. Meine Herren, sagte der Kommandant in spöttischem Ton,[90] ich weiß, durch welchen sinnreichen Kunstgriff ihr einer gewissen Abenteurerin den Ring vom Finger gezogen habt. Der Streich ist sicherlich ausgezeichnet, und er verdient eine öffentliche Belohnung. Die Justiz, die euch in ihrem Palast eine Wohnung freihält, wird einen so schönen Einfall zu entgelten nicht verfehlen. Jetzt spürten wir unsrerseits denselben Schrecken, den wir in Camillas Hause erregt hatten. Fabricio aber wollte uns, obgleich er blaß und verstört war, rechtfertigen. Herr, sagte er, wir hatten keine schlimme Absicht, und also muß man uns unsern kleinen Betrug verzeihen. Wie, zum Teufel! erwiderte der Kommandant in hellem Zorn, ihr nennt das einen kleinen Betrug? Wißt ihr, daß der Strick darauf steht? Wenn Lumpen sich als Ehrenmänner verkleiden, um Übles zu tun! Ich will euch glücklich schätzen, wenn man euch nur zur Zwangsarbeit verurteilt. Als wir begriffen, daß die Sache doch ernster war, als wir gedacht hatten, warfen wir uns ihm zu Füßen und flehten ihn an, mit unsrer Jugend Erbarmen zu haben; aber all unsre Bitten fruchteten nicht. Ja, und das war ungewöhnlich genug, er wies sogar den Vorschlag zurück, die Beute zu nehmen, vielleicht, weil wir sie ihm vor zuviel Zeugen anboten; kurz, er zeigte sich unerbittlich. Wir wurden entwaffnet und in das Gefängnis der Stadt geführt. Unterwegs erzählte mir einer der Häscher, die Alte habe Verdacht geschöpft; sie sei uns bis in die Schenke gefolgt und habe, als ihr Verdacht zur Gewißheit geworden sei, die Patrouille benachrichtigt, um sich an uns zu rächen.

Zunächst durchsuchte man uns. Man nahm uns Halsband, Ohrgehänge und Leuchter; man zog mir auch meinen Ring ab, und sogar den Rubin von den Philippinen; man ließ mir nicht einmal die Reale, die ich für meine Verordnungen erhalten hatte, was bewies, daß die Justiz in Valladolid ihre Sache so gut verstand wie in Astorga. Dann schloß man uns, bis der Herr Korregidor über unser Los bestimmt hätte, in[91] einen Kerker ein, wo wir uns auf das Stroh hinlegten, mit dem der Fußboden bestreut war. Wir hätten lange darin bleiben können und wären vielleicht nur heraus gekommen, um auf die Galeeren zu ziehn, wenn nicht der Herr Manuel Ordonnez gleich am folgenden Tage von unsrer Angelegenheit gehört und beschlossen hätte, Fabricio aus dem Gefängnis zu befreien, was er nicht konnte, ohne zugleich uns alle zu retten. Er war in der Stadt sehr angesehn, und durch seinen und seiner Freunde Einfluß setzte er am dritten Tage unsre Freilassung durch. Aber wir zogen nicht aus, wie wir eingezogen waren: Leuchter, Halsband, Ohrgehänge, Ring und Rubin blieben zurück. Sobald wir in Freiheit waren, kehrten wir zu unsern Herren zurück. Der Doktor Sangrado empfing mich freundlich: Mein armer Gil Blas, sagte er, erst heute morgen habe ich von deinem Unglück erfahren. Du mußt dich trösten, mein Freund, und dich enger als je der Medizin verbinden. Ich sagte, das sei meine Absicht; und wirklich widmete ich mich ihr ganz. Es fehlte uns nicht an Arbeit: wie mein Herr es vorausgesagt hatte, traten viele Krankheiten auf. Die Pocken und bösartige Fieber begannen in der Stadt und den Vororten zu herrschen. Fast kein Tag verging, ohne daß jeder von uns sechs bis acht Kranke besuchte; aber ich weiß nicht, woher es kam, sie starben alle. Selten machten wir einem Kranken drei Besuche; beim zweiten erfuhren wir meist, daß er eben begraben war, oder wir fanden ihn in der Agonie. Herr, sagte ich eines Abends betrübt zum Doktor Sangrado, ich rufe den Himmel zum Zeugen auf, daß ich Eure Methode genau befolge: aber alle meine Kranken reisen ins Jenseits. Mein Kind, erwiderte er, ich könnte dir fast das gleiche sagen; auch ich habe nicht oft die Genugtuung, die Leute, die mir in die Hände fallen, zu heilen; und wäre ich meiner Prinzipien nicht so sicher, so könnte ich glauben, meine Mittel widerstritten fast allen Krankheiten, die ich behandle.[92]

So fuhren wir fort, und in weniger als sechs Wochen machten wir so viel Witwen und Waisen wie der ganze Trojanische Krieg. Es war, als herrschte die Pest in Valladolid, so viel Begräbnisse fanden statt. Jeden Tag kam ein Vater zu uns ins Haus und verlangte Rechenschaft über seinen Sohn, oder ein Onkel warf uns den Tod seines Neffen vor. Die Neffen und Söhne freilich, deren Onkeln und Vätern unsre Mittel schlecht bekommen waren, erschienen nie. Auch die Ehemänner waren sehr zurückhaltend. Bisweilen aber äußerten die Bekümmerten, deren Vorwürfe wir über uns ergehen lassen mußten, ihren Schmerz auf eine rohe Art: sie nannten uns Ignoranten, Mörder; sie sparten nie mit den Worten. Mich erbitterten ihre scharfen Ausdrücke; aber mein Herr, der das gewohnt war, hörte sie kaltblütig an. Vielleicht hätte auch ich mich darein gefunden, wenn der Himmel nicht, ohne Zweifel, um die Kranken in Valladolid von einer ihrer Geißeln zu befreien, eine Gelegenheit herbeigeführt hätte, um mir den Geschmack an der Medizin zu verderben.

In unserer Nachbarschaft befand sich ein Ballspielhaus, wo sich tagtäglich die Müßiggänger der Stadt versammelten. Dort sah man auch einen jener berufsmäßigen Haudegen, die sich zum Meister aufwerfen und Spielstreitigkeiten entscheiden. Er war aus Biskaya und ließ sich Don Rodrigo de Mondragon anreden. Er war etwa dreißig Jahre alt, von mittlerer Größe, aber dürr und nervig. Zwei kleine, blitzende Augen rollten in seinem Kopf, und eine sehr platte Nase senkte sich auf einen roten Schnurrbart, der ihm hakenförmig bis zu den Schläfen hinaufstieg. So wie ich den Herrn Don Rodrigo, der trotz des Don, das er sich beilegte, ein Bürgerlicher war, geschildert habe, machte er auf die Besitzerin des Ballspielhauses zarten Eindruck. Sie war eine Frau von vierzig Jahren, reich, nicht unangenehm und seit fünfviertel Jahren Witwe. Ich weiß nicht, weshalb er ihr gefiel: sicherlich nicht seiner Schönheit halber. Aber einerlei, sie fand Geschmack an ihm[93] und wollte ihn heiraten. Doch inzwischen wurde sie krank, und zu ihrem Unglück wurde ich ihr Arzt. Wäre ihre Krankheit auch nur ein harmloses Fieber gewesen, so hätten meine Mittel genügt, um sie gefährlich zu machen. Vier Tage darauf füllte ich das Ballhaus mit Trauer. Sie ging, wohin all meine Kranken gingen, und die Verwandten bemächtigten sich ihrer Habe. Don Rodrigo war in Verzweiflung über den Verlust der Geliebten, oder vielmehr der Hoffnung auf eine für ihn sehr vorteilhafte Heirat, und er begnügte sich nicht damit, Feuer und Flamme gegen mich zu speien; er schwur, er werde mir den Degen durch den Leib jagen und mir den Garaus machen, sobald er mich sähe. Ein mitleidiger Nachbar warnte mich. Da ich Don Rodrigo kannte, so wagte ich mich aus Furcht, dem Teufelskerl zu begegnen, nicht aus dem Hause; ich bildete mir fortwährend ein, er werde voller Wut bei uns eindringen; ich hatte keinen Augenblick mehr Ruhe. Das verdarb mir den Geschmack an der Medizin. Ich nahm mein gesticktes Wams, sagte meinem Herrn, der mich nicht halten konnte, Lebewohl und verließ mit Tagesanbruch die Stadt, nicht ohne Angst, Don Rodrigo auf meiner Straße zu finden.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 89-94.
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